Selbstbewusste Bündnisgrüne! - Ein Plädoyer für grüne politische Eigenständigkeit

9. April 2008
Von Antje Hermenau

Von Antje Hermenau

Ein Hauch von Götterdämmerung

Vielleicht erleben wir gerade in diesen Tagen das wirkliche Ende der „alten“ Bundesrepublik. Zwar hat das wiedervereinigte Deutschland schon einige Jahre auf dem Buckel, aber einen echten Umbruch für die eigene Lebenswirklichkeit hat die Wende im Osten für viele Menschen, aber auch für große Teile der politischen Szene im Westen offenbar bislang nicht bedeutet. So gesehen hat der Osten dem Westen wohl einige wichtige Erfahrungen voraus. Knapp 20 Jahre nach der Wende wird nun auch zeitverzögert der Westen der Republik von den historischen Turbulenzen erfasst.

Der globalisierte Kapitalismus wird nun auch im Westen immer weniger als kuschelige soziale Marktwirtschaft empfunden. Die um sich greifende Angst vor dem Verlust von sozialer Sicherheit und Wohlstand verändert auch die westdeutsche politische Landschaft. Auf der Oberfläche erweitert sich das Parteiensystem. Auch diese - oberflächliche - Veränderung muss durch die Politik erst verarbeitet werden. Die tiefer greifende Veränderung politischer Einstellungsmuster, die mehr ist als eine Frage politischer Farbenspiele, ist die eigentliche Herausforderung für uns Bündnisgrüne.

In einer solchen Phase des Innehaltens und Neubesinnens hilft ein Blick auf den Kern politischer Aktivität: mit Kraft, Kreativität und Leidenschaft dazu beizutragen, dass man selbst und die Mitbürger zufrieden leben und ihre Würde bewahren können. Aus grüner Sicht heißt das: Wie viel Selbstbestimmung braucht der Mensch und wie viel Verantwortung für die Gemeinschaft sollte er übernehmen, um aus diesem Spannungsverhältnis mit Würde heraus zu kommen?

Neue gesellschaftliche Bedürfnisse

Der Anteil materialistischer Hedonisten und Konsumberauschter an der Bevölkerung wird kleiner (Guido ade!), Ernüchterung greift um sich. Aufklärung, Verantwortung, Ernsthaftigkeit und Realismus rücken in den Vordergrund - in Ost- und Westdeutschland. Dieser gesellschaftliche Umschwung ist werteorientiert: Neben dem beruflichen Erfolg wird der „menschliche“ Erfolg immer wichtiger. Exemplarisch könnte man sagen: Frauen wollen Karriere (nicht nur „Zuverdienerjobs“) und Kinder; Männer wollen Familienzeit; Luxus soll nicht protzen, ist aber erlaubt; individuelle Selbstentfaltung ist wichtig, aber kein Selbstzweck und schon gar nicht auf Kosten anderer zu machen. Diese Ansprüche an die Politik und die Gesellschaft greifen täglich mehr nach Raum und sprengen die politischen Lager, die diesem Sowohl-als-auch nicht gewachsen sind, sondern nur das Entweder-oder kennen.

Diese gesellschaftlichen Bedürfnisse und auch Ängste spricht die Politik, auch die von Bündnis 90/Grüne, offensichtlich nicht genug an, sonst hätten wir in Deutschland mehr Gesellschafts- und Demokratieenthusiasten. Die Demokratie muss sich als taugliche Gesellschaftsform in Zeiten der materiellen Einschränkung durch die Globalisierung in Deutschland erst noch beweisen. Kaum einer vermag auf die Frage, wie er sich Deutschland in 20 Jahren vorstelle, wirklich eine Antwort zu geben. Die Politik entwirft nicht mutig Modelle, sondern verteidigt ratlos die alten Schützengräben des 20. Jahrhunderts: Mehr Wachstum tönt es von rechts, mehr Verteilung von links. Solange das noch gut geht, machen wir es so. Den letzten beißen dann die Hunde. Wenn die Politik keine glaubwürdigen Sowohl-als-auch-Antworten geben kann, dann werden sich die Menschen notgedrungen wieder in die alten Schützengräben von Sicherheit und Verteilung auf der einen und Freiheit und Wachstum auf der anderen Seite einfinden.

Die ökologische Frage

Neben dem ungenierten Auftrumpfen der Linken auf der politischen Szene haben nicht zuletzt die schamlosen Auf- und Fehltritte von Mitgliedern der Wirtschaftselite in der Gesellschaft dazu beigetragen, die alten Schützengräben wieder gut aussehen zu lassen. Wer großflächig Steuern hinterzieht, muss sich nicht wundern, dass das als Aufkündigen des Gesellschaftsvertrages interpretiert wird. Und anstatt nüchtern die Lage zu analysieren, befinden wir uns ruckzuck wieder im alten Klassenkampf. Beide Seiten müssen mehr Verantwortung für unsere Gesellschaft zeigen. Die Bündnisgrünen können auch die entsprechende Projektionsfläche anbieten, die nicht den beiden klassischen Gräben ideologisch entspringt – die Klimaverträglichkeit.

Die Zuspitzung der ökologischen Frage auf ein kleines Zeitfenster von weniger als zwei Jahrzehnten, um auf die Dynamik des Klimawandels wenigstens insofern noch Einfluss zu nehmen, dass man das Schlimmste verhüten kann, zwingt dazu, z.B. klimaverträgliche Bedingungen für Wirtschaftswachstum klar zu definieren. Diese globale Aufgabe erzwingt förmlich eine neue Debatte über überregionale Verteilung. Und sie erzwingt eine Debatte darüber, wie wir mit anderen Mitteln unseren zivilisatorischen Standard in urbanen und ländlichen Räumen halten können, ohne die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffen zu lassen. Sie erzwingt auch eine Debatte darüber, wie wir die unterstützen, die auf dem härter werdenden Weltmarkt gutes Geld für Deutschland verdienen.

Dieser äußere Zwang der Klimaveränderung ist aufgrund der vielen Konsequenzen, die seine Nichtbeachtung für uns alle hat, geeignet, viele Menschen hinter sich zu versammeln – egal, aus welcher Ideologie, aus welcher Schicht oder aus welchem Lebensentwurf sie ursprünglich kommen. Diese Aufgabe werden wir alle gemeinsam oder gar nicht bewältigen.

Allein deshalb hat es die ökologische Frage nicht verdient, in einem derartig schwammigen und unmodernen linken Lager, wie es zurzeit in Deutschland real existiert und im Handgemenge zwischen SPD und PDL um sich selbst kreist, abzusaufen. Durch die Konkurrenz der PDL in der klassischen Verteilungsfrage wird sich die SPD von rot-grünen Positionen wieder entfernen, da soll man sich keine Illusionen machen.

Ein neuer realistischer Aufschlag für grüne Politik

Aus der ostdeutschen Perspektive konnte man die Entwicklungen, die gemeinhin bisher als „tödlich“ für die grüne Partei gelten, schon beobachten: Der dramatische Sicherheitsverlust in den 90er Jahren ließ viele Menschen Ökologie als ein Luxusthema wahrnehmen; und die dominante Stellung der PDL, der es insbesondere in den 90er Jahren gelang, viele kritisch denkende Jugendliche an sich zu binden, nahm den Bündnisgrünen Einiges an Entfaltungsmöglichkeiten. Was haben wir also zu erwarten, wenn der Sicherheitsverlust auch den Westen ergreift und die LINKE sich fest in der westdeutschen Parteienlandschaft verankert - trübe Aussichten oder neue Chancen für grüne Politik?

Das hängt davon ab, inwieweit die Bündnisgrünen es schaffen, sich weiter zu entwickeln. Ohne historische Rolle wird es auch auf Dauer keine bündnisgrüne Partei in Deutschland geben.

In den so genannten „neuen Ländern“ ist es mühselig, die Menschen für bündnisgrüne Politik zu gewinnen und die anhaltende Abwanderung vor allem junger Leute macht es nicht leichter. Aber es geht voran. 2004 gelang der Einzug in den sächsischen Landtag. Dass dies schon bald auch in anderen ostdeutschen Ländern gelingen kann, ist realistisch. Aber das geht nicht in diesem dumpfen Nachbau West, der sich zunehmend als Umweg in die Zukunft entpuppt. Auch die ostdeutschen Bündnisgrünen werden zum Teil neue Wege gehen müssen.

Ökologische Fragen erfahren inzwischen auch „im Osten“ mehr Aufmerksamkeit. Vor allem aber erkennen immer mehr Menschen, dass der „Aufbau Ost“ bislang zu sehr als ein unkritischer „Nachbau West“ gestaltet worden ist, der so nicht mehr ziel führend, ja gesellschaftszerstörend ist. Dieser kritisch-konstruktiv eingestellte Teil der Bevölkerung, der nach neuen Wegen für ganz Deutschland sucht, ist Ansprechpartner für bündnisgrüne Politik.

Es sollte auch eine „ostdeutsche Lehre“ sein, die Ängste der Menschen ernst nehmen zu müssen, denn diese sind nicht nur irreal. Die bedrohlichste Ausdrucksform der Ängste ist die Zuflucht zu autoritären Einstellungen und der Wunsch nach Ausgrenzung alles Fremden, also auch: der Fremden. Neben allen Chancen ist auch diese Gefahr im Osten bekannt – die Frage ist, ob sie nicht auch im Westen bei anhaltendem Wohlstandsverlust droht.

Die Bündnisgrünen müssen als eigenständige, unabhängige ökologische Partei Maßstäbe für die ganze Republik setzen – vielleicht so wie damals, als die sächsischen Grünen halsstarrig dafür gesorgt haben, mit den Gruppierungen des Bündnis 90 zu fusionieren und so den Weg vorangingen, den später auch der Bundesverband ging. Ludger Volmer bewertet das heute als schweren Fehler: Er hat öffentlich doziert, dass sich die Westgrünen damals lieber mit der PDS hätten zusammen schließen sollen, um eine starke gesamtdeutsche Partei zu werden. Jetzt habe man mit deren Westausdehnung den Salat. Da ging Ludger Volmer wohl Macht vor Inhalt.

Die Bündnisgrünen müssen sich vielmehr als eigenständige politische Kraft etablieren, auch wenn sich dieser Weg im Osten als äußerst mühselig erwiesen hat. Ludger Volmers These zeugt von einer fulminanten Fehleinschätzung der PDL und der Möglichkeit, ökologische Positionen in einen Zusammenschluss mit derselben einzubringen. Sie steht im Grunde genommen für die Tendenz, der traditionellen verteilungsorientierten Linken das Feld zu überlassen.

Der Gysi-Lafontaine-Deal auf dem Prüfstand

Die PDL muss sich entscheiden, ob sie wirklich eine altlinke, quasikommunistische Partei sein will, wie es sie in vielen europäischen Mitgliedsstaaten gibt, oder ob sie eine Regierungslinke mit Osttradition sein will. Was sich im Westen heute so noch nicht darstellt: Die PDL kommt dort in die Bredouille, wo sie politische Verantwortung übernimmt, weil sich sowohl Maximalversprechen als auch ideologisch-fundamentalistische Positionen in der Realität als haltlos erweisen. Diesen Lernprozess sollten wir ihr auf allen Ebenen gönnen: Wo er erfolgreich ist, kann auch realistische Politik dabei herauskommen; wo er es nicht ist, erledigt sich die PDL.

Es wird sich noch zeigen müssen, ob der Deal zwischen Gysi und Lafontaine – Pseudoerneuerung der PDS im Osten gegen Machtoption und SPD-Quälen im Westen – halten wird. Damit Oskar noch einmal im Saarland regieren kann, gibt die PDS ihre Robin-Ost-Position auf. Für Deutschland ist das eine Normalisierung – zumal eine Partei „links von der Sozialdemokratie“ europäische Normalität ist. Für die Grünen in Ostdeutschland ist es politisch interessant, weil es die alte PDS zermürben wird.

Der grünen Politik ist nicht geholfen, wenn sie sich emotional links fühlend in dieses verstaubte ideologische Handgemenge zwischen SPD und PDL, wer im 20. Jahrhundert der bessere Klassenkämpfer war, begibt. Da haben die Bündnisgrünen nichts verloren, sondern verpassen ihre historische Möglichkeit, die ökologische Frage in der deutschen Politik auf Dauer ganz oben zu verankern.

Mehr sozial, weniger links

Aber gerade deshalb sind die Bündnisgrünen aber auch in der Pflicht, mit Herz und Verstand Antworten auf die soziale Frage zu geben. Eine Sozialpolitik mit Augenmaß, aber von Herzen, ist heutzutage „links“ genug. Die gefloppte DDR hat doch historisch auch aufgezeigt, dass es nicht zum Ziel führt, die Systemfrage zu stellen, denn dieser „Sozialstaat“ wurde ökonomisch und ökologisch völlig in den Sand gesetzt. Diese Art von „links“ hat sich historisch selbst erledigt. Fraglich ist, wie eine moderne Sozialpolitik aussieht, die die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die sich hinter „links“ versammeln, beantwortet. Es reicht als Antwort nicht aus, nur zu sagen: nicht auf Kosten der Ökologie oder der Ökonomie.

Angesichts dieser Herausforderung fällt es auf, dass sie auf der Bundesebene keinen Spitzenkopf haben, der die soziale Frage modern und klar besetzt. Die Bündnisgrünen haben jede Menge Spitzenköpfe, aber die „Sozialgrüne“, der „Sozialgrüne“ ist nicht zu erkennen. Dabei kommt es jetzt darauf an, gerade hier neue Maßstäbe zu setzen. Wo also ist der grüne Kopf, der das in Nürnberg beschlossene Modell der Grundsicherung nach außen offensiv vertritt und die Impulse zu dessen Weiterentwicklung und Umsetzung setzt?

Wie ernst ist es den Bündnisgrünen mit ihrem politischen Interesse an der sozialen Frage? Sind sie eine Bildungselite mit theoretischen sozialen Skrupeln oder sind ihnen die „einfachen“ Menschen doch nicht fremd? Findet sie nur theoretisch, dass auch Migrantinnen und Migranten und Einkommensschwache dieselben Bildungschancen haben sollen oder setzt sie diesen Anspruch auch beherzt um? Wer in der Bildungspolitik zu Recht fordert, des jede Altersgruppe ein Recht auf die individuelle Entwicklung ihrer Leistungsfähigkeit hat, der muss auch klären, wie diese Menschen in unserem Gesellschaftssystem verschiedene Lebensentwürfe gemäß ihrer Fähigkeiten leben können, ohne völlig zu verarmen: Auch beruflich, intellektuell und künstlerisch gilt das Sowohl-als-auch.

Politische Positionsbestimmung mit Zukunft

Eigentlich haben die Grünen schon längst erkannt, dass diese Frage keine platte Verteilungsfrage ist; sie sollten sich aber jetzt mit ihrer Position behaupten. Wenn es darum geht, den Menschen Chancen zu geben, ihr Leben zu verbessern, dann ist Pragmatismus Pflicht. Angesichts der Re-Ideologisierung der sozialen Frage gilt es für eine Politik zu streiten, deren Ziel die Selbstbestimmtheit der Individuen und deren Handlungsmaxime Pragmatismus ist. Das ist jedenfalls verantwortlicher als sich für die Heilsversprechen der „Superlinken“ mitverhaften zu lassen.

Ist jetzt bundesweit bei den Bündnisgrünen die Panik ausgebrochen, weil sie die komfortable Pufferzone der rot-grünen Wechselwähler zu verlieren glauben? Natürlich haben sich auch einige Altlinke, die früher grün gewählt haben, und auch einige Junglinke nun bei den Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg der Linkspartei zugewandt. Das heißt aber doch, dass diese Wähler die ungerechte Verteilung in der Gegenwart über die gerechte Verteilung hin zur Zukunft stellen, kurzum bei ihnen die Nachhaltigkeit nicht zuerst kommt.

In diesem politischen Verständnis von „links“ ist die PDL natürlich ein Original, dass die Grünen nicht toppen können, zumindest nicht ohne Verlust ihrer ökologischen Glaubwürdigkeit. Diese dürfen sie aber nicht riskieren.

Die ökologische Frage muss die politischen Maßstäbe für eine moderne Sozial- und Wirtschaftspolitik im Sinne einer Politik, die auf Dauer und nicht auf Wahlperioden ausgelegt ist, setzen – die Bündnisgrünen stehen vor der Nagelprobe, ob sie eine unabhängige, ökologische Partei sind, die ihre Berechtigung aus ihrer politischen Notwendigkeit selbst definiert…

… oder ob sie eine Partei sind, die automatisch immer einem der beiden Lager zugeordnet und damit die ökologische Frage der Wachstums- oder Verteilungsfrage untergeordnet wird. Die emotionale Selbstverortung im linken Lager allein reicht jedenfalls als politische Positionsbestimmung mit Zukunft in diesen Zeiten nicht aus.

Antje Hermenau ist Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag