Versuch, den Aufstieg der Grünen zu erklären.

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13. Dezember 2010
Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, im Interview mit der russischen Zeitschrift "Expert", Dez. 2010

Natürlich gibt es Vorläufer der grünen Idee, zum Beispiel die Romantik als Gegenbewegung zur industriellen Überformung der Welt und Kritik an der wachsenden Entfremdung von der Natur. Aber man kann die Grünen von heute nicht auf diese Tradition zurückführen. Sie sind eine moderne Bewegung. Nicht nur im Hinblick auf ihre technologische Innovationsfreude mit Blick auf eine Potenzierung der Ressourceneffizienz und eine Transformation des Energiesystems auf der Basis erneuerbarer Energien. Die Dekarbonisierung unserer Ökonomie ist eine gewaltige wissenschaftlich-technische Revolution. Insofern stehen die Grünen an der Spitze des technologischen Fortschritts. Es geht aber um mehr als Technik. Die Modernität der Grünen kommt aus ihrem Gesellschaftsverständnis. Sie sind für gleiche Rechte und Chancen von Mann und Frau. Sie sind eine kosmopolitische Bewegung. Sie sind für liberale Einwanderungspolitik, für religiöse und kulturelle Toleranz. Und sie sind eine politische Kraft, die auf Bürgerbeteiligung und auf partizipative Demokratie setzt, die Demokratie als eine lebendige politische Kultur versteht und nicht als nur ein System von Wahlen. Sie vereinigen die liberale Tradition mit ihrer Betonung von Bürgerrechten, Selbstbestimmung und Individualismus mit linken Traditionen, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Wenn Sie wollen kommen dazu auch konservative Elemente, wenn es um die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen oder die Skepsis gegenüber Risikotechnologien geht.

Zu Beginn der grünen Bewegung in Deutschland und Europa gab es eine starke Kritik an Großindustrie und Großtechnologien, vor allem was die Atomindustrie betrifft. Die Grünen haben das Gefahrpotenzial der modernen Technologie betont, ihre Destruktivkraft, wie sie etwa in den großen Chemieunfällen der 70er Jahren deutlich geworden ist oder in der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Aber sie waren doch nie eine Bewegung zurück zur Natur, in die vorindustrielle Welt. Es war eher eine postindustrielle Bewegung, die einen neuen Typus der Technik entwickeln wollte, die nicht auf Ausbeutung der Natur aufbaut, sondern auf Kooperation mit der Natur. Wind- und Sonnenenergie sind gerade paradigmatisch für dieses Denken: Die Produktivkraft der Natur auf eine Weise zu benutzen, die die Lebensgrundlagen nicht zerstört. Das ist Kern des ökologischen Gedankens: kein extraktives Verhältnis zur Natur zu haben, die Natur nicht nur als Ressource wahrzunehmen, die man ausplündert, sondern als eine lebendige Produktivkraft, die der Mensch nutzen kann.

Ich komme aus der linksradikalen Bewegung in Westdeutschland. Ich wurde von der Universität relegiert, hatte Studienverbot in Baden-Württemberg, wurde wegen politischer Aktionen rechtskräftig verurteilt. Für mich war der Schritt zu den Grünen nicht eine Fortsetzung sozialistischer Politik, sondern ein Bruch mit Traditionen der militanten Linken. Es war ein sehr bewusster Schritt in eine andere Politik,  was z.B. die Ablehnung der Gewalt als Mittel der Politik betrifft. Das gilt auch für die Kritik der Vergötterung der Produktivkräfte durch die traditionelle Linke. Sie kritisierte zwar die Ausbeutung der Menschen durch Menschen, aber nicht die Ausbeutung der Natur durch die industrielle Produktion. Im Gegenteil, sie sahen gerade in der Entfesselung der Produktionskräfte den Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse und zum Wohlstand für alle. Die Grünen brachten ein neues Element in die Politik und setzten die ökologische Frage ins Zentrum, das war neu. Ebenso neu war ihr Politikverständnis. Die Grünen kamen aus Bürgerinitiativbewegung, aus außerparlamentarischer Bewegung der 70er und 80er Jahre in Deutschland. Basisdemokratie war ihr Prinzip vom Angang an, ein hohes Maß der Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung. Es dauerte 20 Jahre bis die Grünen an dem Punkt waren, die Regierungsverantwortung für Deutschland zu übernehmen.


Die Gründung und der Erfolg der Grünen innerhalb der sehr kurzen Zeit waren nicht denkbar ohne die große Protestbewegung gegen Atomenergie, ohne Protest gegen nukleare Nachrüstung der Nato und das atomare Wettrüsten der beiden Supermächte. Das war eine Bewegung, die Hunderttausende mobilisiert hat, die in den etablierten Parteien keine Vertretung mehr sahen. Gleichzeitig gab es noch verwandte gesellschaftliche Bewegungen, wie die neue Frauenbewegung in westlichen Ländern. Dazu kam das massenhafte Auftreten der Bürgerinitiativen - Leute, die ihre Angelegenheiten in die eigene Hand nehmen wollten und sich in die Politik einmischten. Diese gesellschaftliche Umbruchsituation bildete das Sprungbrett für den Erfolg einer neuen politischen Partei, als Stimme und als Vertretung der neuen Bewegungen.
Die Grünen waren von Anfang eine bunte Koalition. Darunter waren auch ehemalige Sozialdemokraten und sogar Konservative. Einer der ersten Vorsitzenden der Grünen, Herbert Gruhl. war ehemaliger Abgeordnete der CDU. Und es war nicht zufällig, dass einer der Gründungsslogans der Grünen war "Nicht rechts, nicht links, sondern vorn". Es war ein neues politisches Projekt.

Die längste Strecke der 30-jährigen Geschichte der Grünen waren sie eine Minderheit, die gegen Strom geschwommen ist, gegen den Mainstream. Das hat sich heute grundlegend geändert. Grünes Denken und Grüne Ziele sind im Zentrum der Gesellschaft angekommen, zunehmend auch in den Unternehmen. Aber das war ein langer Prozess. Wir haben in  Deutschland aufgrund der großen ökologischen Krisen in den 70er und 80er Jahren wichtige ökologische Reformen durchgesetzt - zum Beispiel die radikale Reduktion von Schwefelemissionen, die für Waldsterben verantwortlich waren; schärfere Vorschriften zu Abwasserreinigung; schärfere Abgasvorschriften für Heizung und Industrie usw. - lange bevor die Grünen in der Regierung waren. Diese Reformen verdanken sich dem wachsenden ökologischen Bewusstsein, auch der breiten Berichterstattung in den Medien. Schließlich hat der Klimawandel eine große Rolle für den Aufstieg der Grünen gespielt. Er ist seit Jahren ein dominierendes Thema in der Öffentlichkeit, und den Grünen wird die größte Kompetenz in Sachen Klimapolitik zugesprochen.

Die klassischen ökologischen Krisenphänomene  waren so offenkundig, dass diese Probleme nicht länger verdrängt werden konnten. Es ging um die Luft, die man atmete, um die sterbenden Fische in den Flüssen, um Lärmbelastungen durch Autoverkehr in den Städten.  Das Waldsterben spielte sich vor unseren Augen ab. Es ging um Chemie im Essen, ein großes Thema. Es gab  einen engen Zusammenhang zwischen Umweltfragen und Gesundheitsfragen. Die Antwort auf diese Probleme war relativ einfach. Es ging um schärfere Vorschriften für Emissionen, für Abgase, für Abwässer, um neue technische Standards für Industrie und für Autoverkehr. Jetzt sind wir in einer komplizierteren Phase. Klimawandel ist etwas, das im Alltag in Europa noch kaum sichtbar ist. Sichtbare Konsequenzen des Klimawandels spielen sich in anderen Kontinenten ab, vor allem in den Entwicklungsländern. Gleichzeitig ist es ein globales Phänomen, das nicht durch lokale oder nationale Maßnahmen kuriert werden kann. Jetzt sind wir an der neuen Schwelle der ökologischen Politik. Es geht nicht um Nachrüstung der bestehenden Technologien. Es geht um qualitative Veränderung unserer Produktion und unseres Konsums. Das ist eine sehr umfassende Herausforderung, größer, als die Reformen, die wir bisher hatten.

Einer der Ausgangspunkte der grünen Bewegung war der Gedanke, dass wir mit dieser einen Welt zurechtkommen müssen. Und dass diese Erde, von der unsere Zivilisation abhängt, nicht unendlich belastbar ist, sondern dass es Grenzen der ökologischen Belastbarkeit gibt, die auf uns zurückschlagen, wenn wir sie überschreiten. Im Zentrum grüner Politik steht nicht die Natur. Vielmehr geht es um die Zukunft der menschlichen Zivilisation, um die Lebensmöglichkeiten der Menschen. Man kann unterscheiden zwischen dem naiven Fortschrittoptimismus der 60er Jahre, mit einer Science Fiction – Literatur, die von der Idee eines grenzenlosen technischen Fortschritts gekennzeichnet war. Dann kam eine apokalyptische Phase, in der die Utopien in Katastrophenszenarien umschlugen. Die Zukunft, das war eine zerstörte Welt, Gesellschaften, die in den Kampf ums Überleben zurückfallen. Jetzt sind wir in der Phase, wo es um neue ökologischen Visionen geht. Um Begriffe wie „Grüne industrielle Revolution“.

Technologische Innovationen verbinden sich mit einer Veränderung des Lebensstils. Der moderne Lebensstil ist nicht mehr auf die Maximierung des Konsums gerichtet, sondern fragt: was ist Lebensqualität? Worin besteht Reichtum? Was ist ein gutes Leben? Dann kommen solche Faktoren wie globale Fairness im Spiel. Es ist wichtig, unter welchen Bedingungen ein Produkt hergestellt wird, welche Auswirkungen auf das Leben anderer Menschen es hat. Der Konsumstil verändert sich nach dem Prinzip "weniger aber besser". Das ist aber nicht Askese, das ist kein ökologischer Calvinismus. Das ist Qualität vor Quantität - darum geht es.

Bisher gibt es in der Bundesrepublik kaum ernsthafte Zweifel am Klimawandel und seiner Verursachung durch die Treibhausgase, die mit unserer industriellen Zivilisation verbunden sind. Ganz anders als in Amerika oder in Russland. Die Empfehlungen der internationalen Klimaforschung werden in der wissenschaftlichen Community oder den Medien in Deutschland nicht infrage gestellt. Im Gegenteil kann man sagen, dass ein entschiedener Wendepunkt erreicht ist, weil ein wachsender Teil der Wirtschaft in der Umstellung auf erneuerbaren Energien und ressourceneffiziente Techniken ein großes Zukunftspotenzial sehen. Grün ist nicht mehr eine Bedrohung für ökonomisches Wachstum, sondern umgekehrt: grüne Produkte und Technologien sind zu entscheidenden Wachstumsmotoren der modernen Industrie geworden. Gleichzeitig spielt mit dem Wachstum der erneubaren Energien auch die Kostenfrage eine größere Rolle. Man kann jetzt erste Ansätze sehen, dass man soziale Fragen gegen ökologische Fragen ausspielt. Zum Beispiel wenn es darum geht, wer die Kosten für Wärmedämmung von Mietwohnungen tragen muss. Deswegen ist es richtig, dass ein Teil der Erträge aus Ökosteuern zurückfließt in die Rentenversicherung, damit die Sozialbeiträge möglichst stabil gehalten werden können. 

Kein Sektor der deutschen Wirtschaft ist stärker in den letzten Jahren gewachsen als die Umwelttechnologien. Wir haben 300.000 neue Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien und insgesamt 2 Millionen Beschäftigte im Umweltsektor. Der Exportanteil dieser Wirtschaftszweige ist enorm hoch. Generell kann man sagen, dass die neuen Energien viel arbeitsintensiver sind als konventionelle Kraftwerke.

Die Grünen sind jetzt eine respektierte politische Kraft - nicht nur in Deutschland, sondern generell in Europa. Sie sind heute weniger eine Protestpartei, sondern eine Konzeptpartei, die mit konkreten Reformalternativen antritt. Sie empfinden sich nicht mehr als Außenseiter, sondern als eine Kraft, die um die politische Führung kämpft. Was die Grünen jetzt lernen müssen, ist politische Verantwortung für die gesamte Gesellschaft zu übernehmen. Gleichzeitig müssen sie eine innovative, kreative Kraft zu bleiben, die einen Unterschied macht. Man wird sehen, ob es gelingt, die Interessen der neuen Wählen, die jetzt der Partei zuströmen, mit den Erwartungen unserer Stammwählern zu verbinden.

Für die grüne Idee steht nicht Verzicht im Zentrum, sondern die Überzeugung, dass anders besser ist. Weltweit, nicht nur in Deutschland, sieht man, dass es für die junge urbane Generation nicht smart ist, ein möglichst dickes Auto zu haben, sondern einen nachhaltiges Lebensstil zu führen, zu dem ein Smartphone gehört, aber nicht ein Geländewagen. Man legt mindestens so viel Wert darauf, dass es ein attraktives öffentliches Verkehrnetz gibt, wie auf ein eigenes Auto. Eine gesunde Ernährung mit ökologisch angebauten, frischen Nahrungsmitteln und fair gehandelten Produkten macht gleichzeitig ein gutes Gewissen und Genuss. Man übernimmt mehr Verantwortung für die Umwelt und kommende Generationen, aber man wird nicht zum Büßermönch. Es geht um aufgeklärten Hedonismus.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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