Besetzt die Wall Street: Hintergründe der amerikanischen Protestbewegung

"Occupy Wallstreet" am 30.09.2011. Foto: Francisco Daum. Original: flickr. Lizenz: CC BY-NC 2.0

11. Oktober 2011
Klaus Linsenmeier

Bislang kannte der soziale Protest, die Angst um die Zukunft und der Ärger über die herrschende politische Klasse nur eine Richtung: nach rechts zur Tea-Party Bewegung und den sie tragenden Organisationen und Finanziers.

Nun besetzen junge Leute im ganzen Land öffentliche Plätze und machen ihrem Unmut und ihren Sorgen um ihre Zukunft Luft.

So plötzlich wie die Tea-Party aus dem politischen Nichts die Szene erobert hat, so unerwartet verschafft sich die progressive, vor allem junge Bewegung, öffentlichen Raum und Gehör.

Beide Bewegungen sind der Ausdruck eines gemeinsamen Gefühls: Der amerikanische Traum, wie er seit Generationen geträumt und (weniger häufig) verwirklicht wurde, ist ausgeträumt. Und beide Bewegungen fühlen sich von der politischen Elite des Landes verschaukelt und um ihre Zukunft gebracht.

Die Tea-Party-Bewegung hat ihren Ausgangspunkt in der verheerenden politischen Bilanz von Präsident George Bush. Er hat die Konservativen in den Augen vieler diskreditiert, dem Land einen riesigen Schuldenberg und zwei Kriege hinterlassen. Bevor noch die republikanischen Vordenker sich 2009 daran machen konnten, die republikanische Idee, die konservative Politik neu zu erfinden, war das Feld bereits von den Tea-Party-Aktivisten besetzt.

Die Linke hatte Barak Obama, den Hoffnungsträger, ins Amt gebracht. Der schaffte tatsächlich einige wichtige Reformen: allen voran die Gesundheitsreform, die fast alle Amerikaner versichert, eine Schulreform und eine neue Regulierung für die Finanz-Industrie. Außenpolitisch hat Obama die USA rehabilitiert, der islamischen Welt die Hand entgegengestreckt, auch wenn daraus keine konsistente Außenpolitik geworden ist. Eine Bilanz, die sich insgesamt durchaus sehen lassen kann.

Dennoch: Amerika befindet sich nach der noch immer nicht ausgestandenen Finanzkrise in einer grundlegenden Transformation. Millionen von Amerikanern haben ihr Haus verloren, die Schulden der Haushalte auf Kreditkarten und für die College-Erziehung der Kinder übersteigen jeweils eine Billion Dollar. Die Arbeitslosigkeit bleibt konstant über neun Prozent, und zählt man diejenigen dazu, die sich gar nicht mehr registrieren lassen, dann sind es 16 Prozent. Zuviel für ein Land, dessen soziales Netz nur lose geflochten ist. Die verarbeitende Industrie liegt in weiten Bereichen danieder, sie wurde dem Vorrang der vermeintlich zukunftsträchtigeren Finanzindustrie geopfert. Aufgerechnet diese Industrie musste dann mit Milliarden Steuergeldern gerettet werden, wollte man nicht den Absturz des ganzen Landes riskieren. Für die sogenannten „kleinen Leute“, die man hier „Main Street“ nennt, bleibt wenig übrig nach der Rettung der „Wall Street“.

Ausplünderung der Mittelklasse

Die Finanzkrise hat eine weitere, für die amerikanische Gesellschaft kritische Entwicklung verschärft: die Ausplünderung der Mittelklasse. Sie war Jahrzehnte lang Symbol des amerikanischen Wohlstands und Träger der amerikanischen Werte. Der amerikanische Traum war bereits in den 70er Jahren in der Krise. Doch dann versuchte Ronald Reagan mittels einer neoliberalen Wirtschaftspolitik die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Dank dieser Politik haben die Durchschnittsverdiener kontinuierlich weniger verdient, während der obere Prozentteil reich wurde. Da die Mittelschicht sich nun kein Haus oder Auto mehr leisten konnte, wurde sie zum Schuldenmachen animiert. Inzwischen ist die Einkommensverteilung in den USA so ungleich wie vor dem großen Crash 1929.

Die Regierung von Barak Obama hat lange versucht, den Problemen aus dem Weg zu gehen. Noch in seiner Ansprache zur Lage der Nation Anfang 2011 erwähnte er das Schuldenproblem mit keinem Wort. Doch die Illusion, Amerika als Land der international wichtigsten Leitwährung, könne seine Probleme mit der Druckerpresse lösen, ist spätestens im Sommer 2011 geplatzt, als die Rating-Agentur „Standard & Poor’s“ die Kreditwürdigkeit des Landes heruntergesetzt hat.

Die politische Elite hat sich in überholte Konzepte geflüchtet: Die Linke frönt einem ausgabefreudigen Keynesianismus, die Rechte hält den aus dem Ruder gelaufenen Staat für die Quelle allen Übels. Statt sich einer rigorosen Debatte über die tieferen Ursachen der Krise zu stellen und die eigene Klientel auf die bevorstehenden Zumutungen vorzubereiten, hat sich die Elite im ideologischen Grabenkampf verschanzt. Wenig spricht derzeit dafür, dass die Republikaner künftig zu Kompromissen bereit sein werden, hat ihre geschlossene Blockade-Haltung doch parteipolitisch einige Erfolge erzielt. Während die Konservativen den Bogen zu überspannen scheinen (ihre Zustimmungsraten sinken seit einiger Zeit), haben die Demokraten, und allen voran der Wahlkämpfer Obama, die Glace-Handschuhe ausgezogen. 

Protestbewegung ohne Forderungen

Die Entwicklung der vergangenen Jahre macht deutlich, warum sich die Protestbewegung nicht auf die politische Elite beziehen will. Von ihr werden keinerlei Fortschritte erwartet. Das erklärt auch, warum der neuen Protestbewegung eines fehlt, was derlei Bewegungen eigentlich auszeichnet: Forderungen. Den jungen Leuten fehlt eine überzeugende Adresse, an die sie sich wenden könnten. So bleiben die Proteste noch amorph und kommen ohne Führungsstruktur aus.

Inzwischen haben sich einige Gewerkschaften den Protesten angeschlossen. Die schwächelnde Arbeiterbewegung verspricht sich hier neue Dynamik. Auch die Demokraten haben die Bewegung entdeckt und in ihr Kalkül für den Präsidentenwahlkampf eingeschlossen. Obama selbst wird seine Anhänger nicht mehr mobilisieren können, wie ihm das 2008 gelungen ist. Ob sich die Bewegung vereinnahmen lässt, bleibt abzuwarten. Die Forderungen nach Jobs und sozialem Ausgleich, die letztlich hinter den Protesten stehen, werden in den nächsten zwölf Monaten nicht zu erfüllen sein. Und ob die jungen Leute weiter auf die Versprechungen der Demokraten und ihres Präsidenten vertrauen, ist keineswegs sicher.

Klaus Linsenmeier ist Leiter des Büros der Heinrich Böll-Stiftung in Washington.

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