Sommerakademie „Europa 1968 – 2008: Gesellschaft im Wandel”

Die Bilder der Zeit

Tschechische Republik: Menschen drehen Verkehrsschilder um, damit sich die sowjetischen Panzer auf dem Weg nach Prag verirren. Ein böses Erwachen aus dem Traum vom Sozialismus mit menschlichem Anlitz. Vor Bücherläden stehen lange Schlangen: Man wartet auf rare Übersetzungen westlicher Literatur. So, als würde man ahnen, dass sie bald auf unbestimmte Zeit in verschlossene Schubladen mit dem Schild „zensiert“ verschwinden werden.

Westeuropa: Tausende von Studenten gehen auf die Straßen, um zu protestieren. Man fordert Freiheit, mehr Mitbestimmung und eine gerechtere Gesellschaft. Den Weg dieser Veränderung sehen die Protestierenden im Sozialismus. Entzückt lesen sie Gedichte von Mao und stellen alles, wofür die Generation ihrer Eltern steht, in Frage.

Es scheint, als könnten diese zwei Geschichtsbilder kaum unterschiedlicher sein. Die Proteste von 1968 spielten sich auf unterschiedlichen Schauplätzen ab und verfolgten unterschiedliche Ziele. Und sie hatten jeweils einen anderen Ausgang.

Der länderübergreifende Blick auf die Geschichte

Historische sowie politische Betrachtungen der „Generation 68“ deuteten die Ereignisse in West und Ost bisher fast ausschließlich durch das Prisma der Unterschiede, das heißt in einem engeren länderspezifischen Kontext. Geschichte findet allerdings nicht in einem nationalen Vakuum statt und das gilt umso mehr für eine Zeit, in der die Welt bereits an der Schwelle des globalen Zeitalters stand.

Das Prager Büro der Heinrich-Böll-Stiftung erkannte diese Lücke in der Wahrnehmung von 1968 und lud zur Sommerakademie in das Schloss Liblice, das Tagungszentrum der tschechischen Akademie der Wissenschaften, zur „Sommerakademie Europa 1968-2008: Gesellschaft im Wandel“ ein.

Die Sommerakademie richtete sich an interessierte Studierende der Geisteswissenschaften aus Deutschland, der Tschechischen Republik und Polen. Bei den Referenten und Referentinnen – Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kunst – handelte es sich überwiegend um Zeitzeugen und „Mittäter“ von 1968. Bereits die Zusammensetzung der Teilnehmenden versprach einen internationalen und generationsübergreifenden Blick auf die Geschehnisse vor 40 Jahren.

In Erinnerung an die Kafka-Konferenz

Am 22. Juni wurde die Sommerakademie durch die Schirmherren und Veranstalter eröffnet und zugleich an die symbolträchtige Kafka-Konferenz von 1963 erinnert. Diese fand ebenfalls am Veranstaltungsort der Sommerakademie, dem Schloss Liblice, statt und sendete in der Tschechoslowakei der 60er Jahre die ersten Signale aus, dass eine Veränderung bereits im Gange ist. Die Konferenz bot damals viel Raum für Diskussionen über Schriftsteller und Künstler, die in totalitären Regimes zwangsweise auch als Ersatzdiskussionen um die politischen Probleme der Zeit zu begreifen sind. Im Hintergrund der Auseinandersetzung mit Kafka schwebte damals unter anderem die Frage: Gibt es im Sozialismus eine Entfremdung?

Auf der Agenda stand weiterhin die Rezeption der Literatur im Jahre 1968, die  - im Falle Kafkas Werk - unter dem Zwang parteilicher Erwägungen nie eine westliche, dafür aber eine sozialistische zu sein hatte, was erfreulicherweise jedoch nicht geschah. Auch die Rezeption von 1968 in der gegenwärtigen Literatur war ein Diskussionspunkt. Illustriert wurde sie anhand einer Lesung aus Peter Schneiders Buch „Rebellion und Wahn – mein 68“.

Die Protestbewegungen von 68:  Akteure und Ursachen

Am nächsten Tag der Sommerakademie rückten Ursachen, Akteure und  Protestbewegungen selbst ins Blickfeld der Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Kunst und Kultur, die Frauenbewegung und das Aufkommen der Zivilgesellschaft in Deutschland, Tschechien und Polen wurden hinterfragt. Dabei suchte man, ausgehend von subjektiven und privaten Erinnerungen der Zeitzeugen, nach etwas allgemeineren Thesen über das bewegte Jahrzent. Eine einfache Zielsetzung war das nicht, denn die ReferentInnen verbanden mit dem Phänomen „68“ ihre Jugend, ihr eigenes zivilgesellschaftliches Erwachen und ihre eigenen Aktivitäten. So musste erst der für eine kritische Reflektion notwendige Abstand geschaffen werden. Für die jungere Generation war dieser Abstand gewissermaßen selbstverständlich: Sie näherte sich unbehafteter, dafür jedoch nur mittelbar dem Phänomen “68“.

In einer kontroversen Diskussion wurde die Tätigkeit der RAF hinterfragt: War sie die logische Konsequenz des theoriegeleiteten Charakters der Bewegung oder eher ihre Missgeburt? Es galt, den Mythos „68“ trotz der Faszination, die er immer wieder auslöst, kritisch zu reflektieren.

 Über die Rolle der Medien

In der Debatte über Differenzen und Gemeinsamkeiten der Studentenbewegungen in Deutschland und Tschechien sowie über die Rolle der Medien in dieser Zeit wurde wieder deutlich, wie unterschiedlich die Bedingungen in den jeweiligen Ländern waren. Während die Studenten in Westdeutschland ihre Proteste unter anderem als Rebellion gegen ihre Eltern verstanden, waren in der Tschechoslowakei protestierende Studenten oft Kinder aus einem regimekritischen familiären Milieu. Während in der Tschechoslowakei ein einziger kritischer Artikel im Stande war, Panik in der Reihen der kommunistischen Parteiführer auszulösen, stellte sich in Westdeutschland eher als problematisch heraus, an die Leser heranzukommen und deren Interesse zu wecken.

Gemeinsamkeiten wurden aber auch sichtbar: Ob in Prag, Berlin oder Warschau: Menschen sind auf die Straßen gegangen, weil sie Zwänge und Unfreiheiten, denen ihre Gesellschaften jeweils unterlagen, bekämpfen wollten. Sie wollten nicht mehr schweigend zusehen, sondern mitmischen und in einer wahren Demokratie leben.

Wendezeiten: 1968 und 1989

Am letzten Tag der Sommerakademie wurden die Auswirkungen der 68er Bewegung auf die politische Kultur und Entwicklung der europäischen Länder in den Vordergrund gestellt. Damit verbunden war in den ehemaligen Ostblockländern vor allem die Frage nach einem Zusammenhang zwischen den Jahren 1968 und 1989. Dieser wurde von Zeitzeugen als eine im Gedächtnis der tschechoslowakischen 68er-Generation schwebende Erinnerung an die wenigen Jahre der Freiheit beschrieben. Eine Erinnerung, die einen Funken Hoffnung auf ihre Wiederkehr am Glimmen erhielt. Es war diese Hoffnung, die den Menschen geholfen hat, die schweren Jahre der politischen „Normalisierung“ durchzustehen und im Jahre 1989  erneut auf die Straßen zu gehen. 1968: Das war Ernüchterung für alle, die bis dahin noch geglaubt hatten, in einem menschlicheren Gesellschaftssystem leben zu können.

Nicht so im Westeuropa: In Westdeutschland lebte der Glaube an den demokratischen Sozialismus weiter. Das, was man dort brauchte, war allerdings nicht die Revolution, sondern gründliche Reformen. Die Revolution blieb aus, die Reformen wurden aber in Gang gesetzt – mit Forderungen nach Geschlechterdemokratie, demokratischer Partizipation, einer umweltbewussten Politik, für deren Durchsetzung sich vor allem die neu entstehende Partei der Grünen einsetzte. Ihr erfolgreiches Fortbestehen zeigt, dass das Erbe der 68er nicht nur Geschichte, sondern ein fester Teil unserer Gegenwart geworden ist. Und zwar nicht nur auf der nationalen, sondern auch auf der europäischen Ebene. Hierhin führen die Stränge aller Protestbewegungen der 60er Jahre weiter und verdeutlichen, dass 1968 in seinen Folgen mehr als eine Summe atomistisch verstreuter Ereignisse war.

Der Fortschritt und die Fehler – ein Ausblick

So wurde mit dem letzten Panel, auf dem die Auswirkungen von 68 auf das europäische Projekt thematisiert wurden, ein geeigneter Abschluss gefunden. Nachdem man die Vergangenheit und ihre Folgen für die Gegenwart thematisiert hatte, wollte man sich der Zukunft zuwenden. Und in Bezug auf die Zukunft zeigten sich sowohl ReferentInnen, als auch die TeilnehmerInnen der Sommerakademie sehr optimistisch. Optimistisch in dem Sinne, dass in der gemeinsamen Zukunft Europas die Essenz von 1968 erhalten bleibt: die Fortschrittlichkeit und die Erfolge aber auch die Lehre aus begangenen Fehlern.

Als Kooperationspartner der dreitägigen Veranstaltung wirkten mit: das Institut für Zeitgeschichte, die Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, das Goethe-Institut in Prag, die Organisation Gender Studies o.p.s in Prag., die Assoziation für Internationale Beziehungen AMO, das Bildungswerk Weiterdenken der Heinrich-Böll-Stiftung, die Brücke-Most-Stiftung, die Europäische Akademie zu Berlin sowie das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.