„Wir werden besser sein als ihr wart“

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28. Juli 2008
Sie kamen zur Sommerakademie Europa 1968–2008 und hielten einen Vortrag zum Thema „Sechziger Jahre: Europa in Bewegung – für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit“. Wie war das Jahr 1968 für Sie persönlich?

Ich war 22 Jahre alt, war zu dieser Zeit in Paris und das Jahr 1968 erlebte ich als jugendliches Abenteuer. Ich nahm an der Bewegung teil. Ich weilte in Frankreich schon seit Jahren, also konnte ich ziemlich gut verstehen, worum es geht, und ich hielt es für vollkommen legitim. Angesichts meiner vorherigen Erfahrungen in Polen war alles selbstverständlich noch hinreißender. Gleichzeitig gewann ich den Eindruck, vor allem dank meinen häufigen Besuchen in der Tschechoslowakei und den Kontakten zu den Aktivisten des Prager Frühlings, dass all diese Kämpfe und Ziele und die Mobilisierung in der Tschechoslowakei, in Polen, Frankreich und sonstwo irgendwo zusammenlaufen. Heute weiß ich, dass diese Homogenität eher illusorisch war.

In welchem Sinne?

Diese Bewegungen konnten sich zwar manchmal in der Form ähneln, vom Inhalt her waren sie jedoch grundsätzlich unterschiedlich. Und dieses Paradox liegt in der Tatsache, dass das Ziel im Westen war, das System zu ändern, und faktisch kam es nur zur Modifizierung der Regeln des gleichen Systems. Während im Osten seine tiefere Änderung in der Absicht der bloßen Modifizierung des Systems lag, obwohl es dazu nicht gleich kam. Einer der Indikatoren dieses Unterschieds waren auch die sehr unterschiedlichen Reaktionen einzelner Staaten. In Frankreich folgte eine Repression, jedoch nur eine kurz dauernde Repression. Die Machtinhaber begriffen sehr schnell, dass man Reformen umsetzen muss, und folgten somit der allgemeinen Tendenz der Sozialbewegung. In die Tschechoslowakei, wie wir wissen, kamen die Intervention und danach ein zwanzigjähriger Weg durch die Wüste. Auch in Polen kam es zu einer sehr gewaltsamen Unterdrückung, und dann folgte der Weg durch die Wüste bis zur gesamten Systemänderung.

Kann man trotzdem eine gemeinsame, allgemeinere Basis rekonstruieren, die im Jahre 1968 die rationale und die emotionale Seite der Bewegung ähnlich wie den Osten mit dem Westen verband?

Es gibt hier Ähnlichkeiten in manchen strukturellen Ursachen. Ich glaube, dass das sowjetische Entwicklungsmodell in eine große Krise geriet, sie wurde unfähig, Schritt mit der Modernisierung zu halten. Das war der Fall in der Tschechoslowakei, aber genauso auch in Frankreich oder anderen Ländern. Das Entwicklungsmodell war in einer Krise, das heißt, dass die starre, verknöcherte und rigide Seite dieses Modells die Entwicklung hinderte und es in den Ländern, die „dreißig ruhmvolle Jahren“ (des wirtschaftlichen Wachstums in der Nachkriegszeit – Anmerkung des Interviewers) erlebten, unmöglich machte, die Früchte dieses Aufschwungs zu ernten. Eines der Hindernisse war also die Verknöcherung der institutionellen Strukturen.

Der zweite gemeinsame Punkt, der damit jedoch zusammenhängt, ist der Eintritt der neuen Generation, die gerade das Universitätsalter erreichte, und ihr Streit mit den Lebenserfahrungen der Eltern. Diese junge Generation stellte sich entweder gegen das, was ihre Eltern während des Aufbaus des sogenannten Sozialismus im Osten machten, oder gegen die Begrenztheit und Anachronismen im Westen. Bezüglich der Stimuli dieser Bewegung, seien es die aufständischen Gruppierungen in Frankreich oder die künftigen Dissidenten in Polen und in der Tschechoslowakei, ging es hier noch um etwas anderes, nämlich um eine gewisse Ödipus-Revolte gegenüber den Eltern, um das Bemühen, ihnen zu sagen: „Wir werden besser sein als ihr wart“. Was in Frankreich hieß: „Wir werden die französische Widerstandsbewegung  erneuern, die wirkliche Widerstandsbewegung“ – mit Hinweis darauf, dass Frankreich während des Krieges nicht nur das Land des Widerstands war, sondern auch das Land der Kollaboration. Im Osten machten wiederum die Nachfolger der ehemaligen oder der gegenwärtigen Kommunisten keinen Hehl aus anderen Ambitionen: „Wir werden einen wirklichen Sozialismus ausbauen, ihr habt bloß seine Ideale verraten“.

Ein weiterer gemeinsamer Punkt war die Gefühllosigkeit dieser Gruppierungen gegenüber der sich nähernden Gefahr. Sie waren so mit den bestehenden Regimes verbunden – wenn es um die Stellung und die Verdienste ihrer Eltern ging –, dass sie es wagten, im Kampf sehr weit zu gehen.

Ein weiteres Generationsphänomen stellt das Entstehen einer starken Nachfrage nach Bildung dar, auf die sich die früher ausgebauten Strukturen einstellen mussten. Und es ist wahr, dass vor allem in den westlichen Ländern die damaligen Ereignisse zum grundsätzlichen Umbau der Bildungsstrukturen führten. Weniger gilt dies für den Osten, wo sich vor einer ähnlichen Entwicklung einfach die Tür schloss.

Was brachte Sie eigentlich zur soziologischen Erforschung Mittel- und Osteuropas?

Meine persönliche und ein wenig komplizierte Geschichte. Nach Frankreich schickte mich mein damaliger Professor aus der Warschauer Universität Zygmunt Bauman. Ich sollte Strukturalismus bei Lévi-Strauss studieren. Ich studierte also im Lévi-Strauss-Seminar, und obwohl es unheimlich interessant war, kam ich allmählich zur Ansicht, dass ich die Lust habe, mich eher mit Themen zu befassen, die mit der französischen politischen Wirklichkeit oder sagen wir mal der umliegenden politischen Welt verbunden sind. Und so änderte ich allmählich die Fachrichtung. Ich absolvierte Sozial- und Politikwissenschaften und dann begann ich, mich auf Mitteleuropa zu spezialisieren, weil ich hier meinen Aktivismus mit dem Sachverstand und der wissenschaftlichen Analyse verbinden konnte. Zu dieser Zeit war ich jedoch schon völlig frei von linken Illusionen und ich war ein Anti-Kommunist, nicht gegen die Idee als solche, die es ohnehin nur auf dem Papier gibt, sondern gegen die kommunistischen Regimes.

Reisten Sie in die Tschechoslowakei auch in der Zeit der Normalisierung?

Ich hörte im April 1969 auf, in die Tschechoslowakei zu fahren; in der Zeit, in der sie Dubček als Botschafter in die Türkei schickten. Ich machte es einfach aus dem Grund, weil mich meine Freunde wegen der schärferen Kontrollen an den Grenzen davon abhielten, und darüber hinaus hatte ich damals noch meinen polnischen Pass und wollte nicht, dass sie mich zurück nach Warschau schickten. Und so hörte ich auf. Unter anderem aber auch deswegen, weil ich von der tschechischen Staatspolizei verfolgt wurde. Zum ersten Mal kehrte ich in die Tschechoslowakei in der Gorbačov-Ära im Jahre 1987 zurück, mit einem Auftrag von der französischen Regierung, die mir auch den Schutz gegen die Belästigung der Staatssicherheit gewährte.

Zum Schluss wurde ich dennoch von der Staatsicherheit belästigt, als ich Petr Uhl besuchen ging, meinen Freund aus den 60er Jahren. Trotzdem konnte ich viele Kontakte und Bindungen zu Dissidenten halten, aber der Kern meiner Kontakte, sagen wir mal mein echtes Netzwerk, war eher in Polen und Ungarn. Nur wenige waren in der Sowjetunion und in der Tschechoslowakei. Die ganze Zeit arbeitete ich zum Beispiel mit Pavel Tigrid zusammen. Wir unternahmen einige Aktionen zusammen, vor allem zur Unterstützung der Bewegung Solidarita und KOR – des polnischen Ausschusses zum Schutz der Arbeiter. Von Zeit zu Zeit sah ich auch tschechische Freunde, die als eine Art Halbdissidenten galten. Indirekt half ich der Charta 77 dadurch, dass ich Texte herausgab, analysierte, gegebenenfalls auch die Aufgaben eines Fachmannes erfüllte, wenn sich die französischen Diplomaten dafür interessierten.

Das Interview, geführt von Matěj Kotalík, ist in der Zeitschrift A 2 - kulturni tydenik (kulturní týdeník) am 16.7.2008 erschienen.

Zur Person

Prof. Dr. Georges Mink (1946), Soziologe und Politikwissenschaftler, leitet das Institut für Sozial- und Politikwissenschaften bei CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique), unterrichtet an der Elitehochschule Sciences Po Paris und am Collège d’Europe in Natolin. Er ist auf soziale und politische Systeme der Länder Mittel- und Osteuropas spezialisiert. Er ist Autor oder Mitautor einer Reihe von Publikationen, z.B. La force ou la raison, 1989, Vie et mort du bloc soviètique, 1997, La grande conversion, mit  Jean-Charles Szurk, 1999, L’Europe et ses passés douloureux, 2007. Von 2001 bis 2003 war er der Direktor von CEFRES (Centre Français de Recherche en Sciences Sociales) in Prag. Er ist der Träger der Fachmedaille von František Palacký der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik für sein Verdienst in Gesellschaftswissenschaften.