In der Wahrheit leben

9. Mai 2009
Von Ralf Fücks
Von Ralf Fücks

Ich begrüße Sie ganz herzlich in der Heinrich-Böll-Stiftung. Wir freuen uns, dass diese Veranstaltung zum Gedenken an Jürgen Fuchs hier stattfindet.

Es ist ein schönes Programm geworden, das die Elemente mixt, die auch für ihn wichtig waren: Freunde und Weggefährten reden über persönliche Erinnerungen, Literatur und Politik, dazu Musik und Poesie.

Es gab zwei verschiedene Impulse, die am Ende zu einem gemeinsamen Projekt geführt haben: Eine Initiative der Birthler-Behörde für ein Symposium und ein Konzert mit Wolf Biermann, und eine parallele Anfrage der Stiftung Berliner Mauer für eine Lesung mit Texten von Jürgen Fuchs und einem Konzert von Mikolas Chadima und der MCH-Band aus Prag.

Dazu kamen noch eine Veranstaltung der Havemann-Gesellschaft und die szenische Lesung des Stücks „Kommen und Gehen oder Der Verkauf der Landeskinder“ morgen Vormittag im Deutschen Theater. Fuchs hat es 1989 veröffentlicht, im Jahr der großen Zeitenwende, das für ihn ein Glücksjahr gewesen sein muss.

Ich lese das aus jeder Zeile der kurzen Ansprache, die er am 1. Dezember 1989 auf dem Biermann-Konzert in Leipzig gehalten hat: „Wolf Biermann singt in Leipzig! Wie lange haben wir auf diesen Tag gewartet! (..) Der Bann ist gebrochen. Der Stalinismus hat nicht gewonnen. Eine demokratische Revolution hat begonnen in Warschau, Moskau, Budapest, Leipzig und Prag (..) Wir sind wieder da. Die Grenze ist auf. Die schlimmen Jahre der Ein- und Ausgrenzung sind vorbei. Nun atmen wir wieder.“

Jeder Satz ein massiver Brocken, voller Hoffnung, vielleicht auch ein Moment des Triumphs dessen, der verfolgt, drangsaliert, an den Rand gedrängt, bedroht wurde von einer scheinbar übermächtigen Machtmaschine, der nie aufgegeben hat und der jetzt den Augenblick ihres Sturzes erlebt. Er hatte daran seinen Anteil, als Schriftsteller, der die Niedertracht des Apparats auf luzide Weise bloßstellte, als Oppositioneller, der zum Beispiel für andere wurde, und auch mit seiner praktisch-politischen Unterstützung der Bürgerrechtsgruppen in der DDR nach seiner erzwungenen Ausreise nach Westberlin.
 
Aber auch in diesem Moment bleibt er so besonnen und nachdenklich, wie er immer war. Er zitiert „einen sowjetischen Schriftsteller, der lange verboten war“ mit dem Satz: „Die Wahrheit ist milde.“ Und fährt fort: „Sie ist gewaltfrei, sie ist radikal, aber auch fähig zum Kompromiss. Und zum Verzeihen. Gerechtigkeit und Verzeihen sind allerdings nicht möglich außerhalb der Wahrheit.“

Das ist, soweit ich es beurteilen kann, ein Schlüsselsatz für ihn. Das Insistieren auf der Wahrheit, auch wenn sie weh tut, das unbeirrte Suchen und Bohren, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Kompromisse sind möglich, aber nicht auf Kosten der Wahrheit. Verzeihen ist möglich, aber nicht jenseits der Wahrheit. Das sagt viel über ihn, und das ist wohl auch ein Schlüssel für seine bittere Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen, die in sein letztes großes - und unversöhntes – Buch mündete, „Magdalena“. Dieses „in der Wahrheit leben“ teilte er mit anderen Dissidenten im Reich des realen Sozialismus, von Andrzej Sacharow bis Vaclav Havel.

Jürgen Fuchs konnte seine persönlichen Erlebnisse und Verletzungen so sezieren, dass dahinter Strukturen und Erfahrungen sichtbar wurden, die allgemeingültig waren, auch über ihren konkreten politischen und gesellschaftlichen Kontext hinaus. Das gilt etwa für die Verarbeitung seiner Militärerfahrungen, Verhörerfahrungen, Hafterfahrungen. Hier geht es um existentielle Themen, um Grenzsituationen, die über die spezifische Repressionspraxis der DDR hinausweisen. Er wurde zum Experten für die Psychologie der Macht und die Verstörungen ihrer Opfer. Das hat ihn mit Schriftstellern wie Heinrich Böll oder Manés Sperber verbunden, und das hat ihn auch empfindlich gemacht für Unrecht im Westen.

Für ihn stimmte das Leitmotiv, nicht einem System gegenüber loyal zu sein, sondern gegenüber Ideen, Werten und Menschen. Das ist auch der Geist, aus dem die Böll-Stiftung gegründet wurde, der Jürgen Fuchs eng verbunden war. Er beteiligte sich am Havemann-Projekt der Stiftung, der Recherche Katja Havemanns zu den Stasiakten über sie und Robert Havemann, am Entwurf des Stasiunterlagen-Gesetzes der Bürgerbewegungen, er war Spiritus Rektor der „Jenaer Poetikvorlesungen zur Beförderung der Humanität“, in deren Rahmen u.a. Ludvik Kundera, Herta Müller, Pavel Kohout, Andrzej Szyczypiorski, Adolf Endler und andere verwandte Seelen sprachen.

Sein Leben war kurz, aber wenn man die Menschen Revue passieren lässt, die ihn umgaben und schätzten, mit denen er lebte, arbeitete, feierte; seine rastlose Produktivität, und das Echo, das er hervorrief, war es ein reiches Leben. Er hat eine tiefe Spur hinterlassen.

Ich bedanke mich bei allen, die diese Veranstaltung ermöglicht, die sie vorbereitet haben und die sich heute und morgen an ihr beteiligen. Sie ist umso wichtiger in Zeiten, in denen eine rosarot gefärbte Milchglasscheibe über die DDR und ihre Geschichte gelegt und „1989“ als ein weichgespültes Gedenkjahr gefeiert wird, in dem alles Ätzende, Brutale und Verletzende kaum noch vorkommt, gegen das Menschen wie Jürgen Fuchs aufgestanden sind.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.