Geschichte: Die grüne Wahlbewegung und die Alternativszene

Die Gründung von Wahlbündnissen wurde hitzig diskutiert: Auf dem Titel des "Göttinger Atom Express" zur Landtagswahl 1978 werden Anti-Atom-Politiker als Marionetten der etablierten Parteien dargestellt und ironisch als das allerkleinste Übel bezeichnet.

22. März 2012
Phillip Wilke
Es war nach 12 Uhr am Samstag, als sich Dirk Schneider von der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz aus Berlin auf das Podium der Karlsruher Stadthalle begab. Der grüne Gründungsparteitag war bereits zwei Stunden im Gange. Dabei hatte er noch gar nicht richtig begonnen. Bevor über Satzung, Programm und Präsidium gesprochen werden konnte, galt es, ein anderes, grundsätzliches Problem aus der Welt zu schaffen. Denn neben den 1004 offiziellen Delegierten fanden sich in Karlsruhe weitere 254 Delegierte ein, die von ihren lokalen Gruppierungen gewählt waren, ohne dass sie der Sonstigen Politischen Vereinigung Die Grünen (SPV), den sogenannten Europagrünen, beigetreten waren. Da in Karlsruhe, wie Ex-CDU-Mitglied Herbert Gruhl bereits zu Beginn der Sitzung betont hatte, eine Delegiertenversammlung der SPV stattfand, die zugleich Gründungsversammlung der Partei Die Grünen werden sollte, waren die autonomen Delegierten de facto ausgeschlossen. Diese Klarstellung, nochmal bekräftigt durch eine Abstimmung am Samstagmorgen, verursachte Unruhe – Zensurvorwürfe wurden laut. Die optimistische Stimmung drohte zum ersten Mal an diesem Wochenende zu kippen. Es brauchte einen Kompromiss. Schneider konnte ihn liefern. Der Exponent jener Alternativen, die den Europagrünen beigetreten waren, schlug vor, man solle eine Delegation von 30 Autonomen zur Sitzung zulassen und ihnen Rederecht einräumen. Der Vorschlag wurde, wenn auch unter Protest einiger Konservativer, angenommen. Der Parteitag konnte beginnen.

Diese Episode ist in zweierlei Hinsicht interessant. Einerseits gibt sie einen Hinweis darauf, welch unterschiedliche Kulturen in Karlsruhe zusammenkamen. Andererseits lässt sich die innere Zerrissenheit der Alternativszene erahnen. Beides ist symptomatisch für die Gründungsphase der Grünen. Während dem außergewöhnlich chaotischen Aufeinandertreffen von bäuerlichen Bauplatzbesetzern, radikalen Feministinnen, Vogelschützern und christlichen Pazifisten, wie es die ehemalige Parteivorsitzende Jutta Ditfurth im Jahr 2000 beschrieb, bereits die Zeitgenossen Aufmerksamkeit schenkten, ist die Frage nach der inneren Verfassung der Alternativen und ihrer Einstellung zur Parteigründung bisher weitgehend unbeantwortet. Dabei war die Teilnahme der Alternativbewegung enorm wichtig für den grünen Gründungsprozess.

Die Konflikte, von denen die erwähnte Parteitagsszene nur eine Episode war, hätten die höchst inhomogene Wahlbewegung bereits zu Beginn beinahe gespalten. Hintergrund der Konflikte innerhalb der Alternativszene war eine völlig unterschiedliche Herangehensweise an die Parteigründung. Für die «Alternativen» – ein breites Spektrum an jugendlichen Bürgerinitiativlern, Landkommunenbewohnern, Spontis und Freiheitsliebenden – war die Wahlteilnahme neben den ökologischen Zielen wie der AKW-Frage auch an explizit linke Politikvorstellungen geknüpft. Marxistische und anarchistische Ideen waren in Teilen der Szene verbreitet. Ebenso lehnten viele einen einseitigen Verzicht auf Gewalt ab, weil sie die BRD als repressiven Polizeistaat empfanden. Für andere waren die Etablierung einer freien Lebenskultur und der Konsens als Verfahren zur Entscheidungsfindung vorrangige politische Ziele. Diese politischen Visionen wiederum verängstigten große Teile der konservativen und bürgerlichen Wahlbewegung.

Um zu verstehen, wieso sich viele Alternative mit großer Beharrlichkeit gegen den Eintritt in die Europagrünen wehrten, muss man tiefer in die politischen Vorstellungen und die politische Praxis der alternativen Szene einsteigen. Nur so lässt sich ihre Bedeutung für die Wahlbewegung ermessen.

Ende der 1970er-Jahre war die Alternativbewegung in eine resignative Phase eingetreten. Scheinbar erfolg- und aussichtslose Kämpfe wie der gegen Atomkraft, für besetzte Häuser und bessere Haftbedingungen der ersten RAF-Generation hatten Kraft gekostet. In den Städten, in denen die Alternativen besonders stark vertreten waren, hatten viele begonnen, sich nun in Stadtteilinitiativen zu engagieren, begaben sich auf lange Reisen ins Ausland oder zogen sich ganz zurück. So kam der von der erfolgreichen Wahlbeteiligung lokaler ökologischer Listen in Frankreich ausgehende Impuls gerade recht, um den Stillstand in der Szene zu beenden. Die Idee der Wahlbewegung eröffnete neue Möglichkeiten für gesellschaftliche Mitbestimmung. Der Preis dafür war allerdings hoch: eine Abkehr von der ideologisch bedingten Feindschaft zur bundesdeutschen Parteiendemokratie. Schließlich war die Alternativbewegung in den 70ern eine der größten Kritikerinnen des westdeutschen Parlamentarismus gewesen. Zeitschriften wie die Berliner radikal oder der Hamburger Arbeiterkampf berichteten von der Lügenhaftigkeit der Bonner Republik und traten für einen gesellschaftlichen Umsturz ein. Auf dem Titel des Göttinger Atom Express zur Landtagswahl 1978 werden Anti-Atom-Politiker als Marionetten der etablierten Parteien dargestellt und ironisch als das allerkleinste Übel bezeichnet. All dies ist unmissverständlich als Affront gegen das herrschende System und seine Eliten zu verstehen. Doch die Aussicht auf Einzug in die Parlamente, und die damit verbundene Aussicht auf gesellschaftliche Relevanz, löste bei einigen Alternativen einen Sinneswandel aus. Erste alternative Wahlbündnisse gründeten sich. Die Diskussion in der Szene nahm ihren Lauf. Die offensichtlichen Differenzen mündeten in hitzig geführte Debatten innerhalb der alternativen Stadtmagazine und Zeitungen.

Diese Debatten lassen sich im Nachhinein als eine Abfolge von Brüchen beschreiben: Szeneinterne Brüche, die die Alternativbewegung in den 1980er-Jahren in einzelne Teile zerfallen ließen, und ideologische Brüche bzw. Kompromisse, die jeder Einzelne, der letztendlich der grünen Partei beitrat, eingehen musste. Ein erster Bruch mit der antiparlamentarischen Maxime ist bereits in der prinzipiellen Teilnahme an der Wahlbewegung zu sehen. Ein zweiter Bruch zeigt sich in der Akzeptanz der hierarchischen Parteistrukturen durch die dezidiert antiautoritär eingestellten Alternativler. Als dritten großen Bruch mit alternativen Vorstellungen lassen sich die programmatischen und parteistrukturellen Kompromisse betrachten, die als Grundlage zur Einigung mit den konservativen Kräften der Bewegung eingegangen werden mussten. Anhand dieser Konfliktlinien lässt sich die Diskussion über die Wahlbewegung nachzeichnen. So kann man Ende der 1970er-Jahre drei alternative Standpunkte erkennen: die aktive Teilnahme an der grünen Parteigründungsinitiative, die Organisation einer eigenen, alternativen Kandidatur und die komplette Verweigerung einer Beteiligung an der Wahlbewegung. Allerdings darf nicht von einem klaren Grenzverlauf ausgegangen werden. Die Übergänge waren fließend und hingen zum großen Teil mit dem persönlichen Umfeld der jeweiligen Personen, mit der Struktur der lokalen Szenen sowie mit taktischen Überlegungen zusammen.

Im Folgenden werden die starken Alternativszenen der urbanen Zentren Hamburg, Frankfurt und Berlin kurz charakterisiert und lokale Schlüsselereignisse aufgezeigt.

Hamburg

Der große Knall kam in Hamburg nach der Landtagswahl von 1978. «Mir gefällt nicht, wie der KB immer deutlicher seine Dominanz ausspielt und alles abblockt, was nicht in sein politisches Konzept passt», hatte Holger Strohm, Spitzenkandidat der zur Landtagswahl angetretenen Bunten Liste Hamburg in einem offenen Brief geschrieben. Mit dem KB war der in der Hamburger Szene tief verwurzelte Kommunistische Bund gemeint, der auch eine Vormachtstellung innerhalb der Bunten Liste besaß. Mit ihrer Zeitung Arbeiterkampf besaß die sich undogmatisch gebende K-Gruppe außerdem ein mächtiges Propagandainstrument, welches sie auch einzusetzen wusste. Zwar hatte sich der KB im Wahlkampf noch zurückgehalten. Doch nach der Wahl, die mit 3,5% auf Landesebene und zwei Mandaten im Eimsbütteler Bezirksparlament durchaus positiv verlaufen war, versuchte er immer stärker, die Linie der Bunten Liste zu bestimmen. Strohm missfiel dieses Vorgehen. Doch sein Protest blieb ungehört. In ihrer Antwort beschimpften die Kommunisten den Ökologen im Arbeiterkampf als Spinner und falschen Demokraten und unterstellten ihm persönliche Eitelkeit. Ex-SPD-Mitglied Strohm und seine Freunde verließen daraufhin das Wahlbündnis. Es war der Anfang vom Ende der Bunten Liste.

Dabei galt die Liste bis zu diesem Zeitpunkt als positives Beispiel für eine alternative Wahlbeteiligung. Die ersten Diskussionen über eine Wahlteilnahme wurden im Kommunistischen Bund bereits im Vorfeld der Bundestagswahlen 1976 geführt. Im Gegensatz zu anderen Alternativgruppen lehnte der KB bürgerliche Wahlen nie grundsätzlich ab. Er sah sie als notwendiges Übel, um die BRD vom demokratischen Parlamentarismus in eine Rätedemokratie überführen zu können. Vor 1976 hatte er allerdings keine taktische Notwendigkeit für eine Wahlteilnahme gesehen. Ein Jahr darauf begann das Umdenken. Die aus der Brokdorfer Anti-Atom-Bewegung kommende Idee, zur Bürgerschaftswahl mit einer Bürgerinitiativliste anzutreten, wurde positiv aufgenommen. Das im März 1977 folgende Gründungstreffen der «Bunten Liste/Wehrt euch-Initiative für Demokratie und Umweltschutz» unterstützten die Kommunisten mit allen Kräften. Dieses Engagement der K-Gruppe muss als wesentlicher Bestandteil der frühen alternativen Wahlbeteiligung gesehen werden. Und mit dem Hamburger Ableger der in Niedersachsen gegründeten bürgerlichen Grünen Liste Umweltschutz fand sich bald ein passendes Feindbild, welches die Alternativen weiter zusammenschweißte. Der Arbeiterkampf wetterte fleißig gegen die, aus Sicht der Kommunisten, rechte Gruppierung.

Daneben gab es auch in Hamburg Gruppen, die einer Wahlbeteiligung gegenüber negativ eingestellt waren. Vor allem die Spontis und der Kommunistische Bund Westdeutschland, der 1976 für den Bundestag kandidiert hatte, beteiligten sich nicht an der Bunten Liste. Die Wahlbefürworter hingegen zerbrachen nach dem Strohm-Konflikt in zwei Gruppen. Die einen folgten dem Kommunistischen Bund und versuchten, unter anderem auf den Koordinierungstreffen der Alternativen in Darmstadt und Offenbach, im Laufe des Jahres 1979 die Gründung einer alternativen Bundespartei voranzutreiben. Die zweite Gruppierung, zu der federführend die aus dem Kommunistischen Bund ausgeschiedene Gruppe Z gehörte, versuchte, die Grünen als starke linke Fraktion zu unterwandern und von Konservativen wie Gruhl und Baldur Springmann zu befreien. So gehörte ein Großteil der 73 Hamburger Delegierten in Karlsruhe der Gruppe Z um Jürgen Reents, Rainer Trampert und Thomas Ebermann an. Strohm selbst trat hingegen nicht in die grüne Partei ein.


Frankfurt


In den 1970er-Jahren beeinflussten die hedonistischen Spontis wie keine andere Gruppierung die Frankfurter Alternativszene. Ihre sogenannte Putztruppe um Joschka Fischer hatte sich während des Frankfurter Häuserkampfes Respekt verschafft. Den politischen Aktionismus der Spontis fürchtete man über ideologische Grenzen hinaus, und über die Artikel in der von Daniel Cohn-Bendit herausgegebenen Zeitschrift Pflasterstrand sprach man in der gesamten deutschen Alternativszene. Doch ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre begann eine Fraktionierung der Szene. Während für die einen kommunistische und anarchistische Ideen Vorrang hatten, setzten andere fortan auf die Ökologie als politische Leitlinie. So kam den Frankfurter Alternativen die Wahlbewegung gerade recht, und den Spontis bot sich noch einmal die Chance, ihre Vorreiterrolle auszuspielen. Bereits 1977 wurden erste Gedankenspiele über eine alternative Wahlteilnahme im Pflasterstrand veröffentlicht. «Ich bin mir sicher, dass wir das in Frankfurt auch zustande gebracht hätten», stand mit Blick auf die 8%, die eine Bürgerinitiativliste bei der Kommunalwahl in Darmstadt erreicht hatte, in der Aprilausgabe. Sechs Monate später konfrontierten die Spontis den Rest der Szene mit der satirisch anmutenden Ankündigung ihrer eigenen Wahlkandidatur. Entgegen vieler Annahmen hatte die Grüne Liste Frankfurt tatsächlich die Absicht, an der hessischen Landtagswahl im folgenden Jahr teilzunehmen. Im Anschluss regte sich auch in anderen Teilen der Bürgerinitiativbewegung das Interesse an einer Wahlteilnahme. Gemeinsam mit den Radikalökologen um Jutta Ditfurth und Manfred Zieran, mit Teilen des Sozialistischen Büros, enttäuschten Traditionslinken, ehemaligen Jusos, konservativen Umweltschützern und einigen K-Gruppen schlossen sie sich im Frühjahr 1978 zur Grünen Liste – Wählergemeinschaft für Umweltschutz und Demokratie zusammen.

Doch irgendwann verließen die Frankfurter Spontis der Elan und der Spaß an der Wahlbewegung. Kräftezehrende Diskussionen mit «Personen, die noch nie auf einer Demo gewesen waren», ewig dauernde Sitzungen mit dogmatischen Kommunisten und bürgerlichen Paragraphenreitern und all die hierarchischen Parteistrukturen nervten die Hedonisten. Von der Wahlteilnahme hatten sie sich etwas anderes versprochen. Die eigens gegründete Bürgerinitiative Chaos und Sumpf sollte den Wahlkampf aufmischen. Aus der Wahl sollte eine Art Happening gemacht und bei erfolgreichem Abschneiden das Parlament von innen ad absurdum geführt werden. Doch es kam anders. Denn innerhalb der Wahlbewegung waren die Spontis nur eine von vielen Gruppen. Mit ihrer antiautoritären Art der Politikführung und ihrer Idee, anstatt eines Wahlprogramms ein Märchen zu veröffentlichen, eckten sie an. Im Laufe des Jahres 1978 kam es zu mehreren Konflikten innerhalb der höchst heterogenen Listengemeinschaft. Die Grüne Liste Umweltschutz Hessen (GLU-Hessen) und die Grüne Liste – Wählerinitiative für Umweltschutz und Demokratie (GLW), das Bündnis, zu dem sich die Spontis mit den Radikalökologen zusammengetan hatten, hatten ihre Mitglieder aufgefordert, sich zur Beteiligung an der Gründung zur Grünen Liste Hessen (GLH) zusammenzufinden. Die GLH wurde am 23. Juli 1978 in Alsfeld von 135 Mitgliedern dieser beiden Organisationen gegründet und die Liste für die Landtagswahl im Oktober aufgestellt. Bereits am 5. August 1978 zog die GLU-Hessen die Unterstützung der GLH wieder zurück und fünf Mitglieder traten aus der GLH aus, zwei Vorstandsmitglieder traten zurück und vier Mitglieder wollten von der Landesliste gestrichen werden. Die GLH existierte weiter, allerdings ohne Unterstützung der GLU. Die öffentliche Debatte um die Kandidatur der GLH zur Landtagswahl fokussierte sich auf die Person von Daniel Cohn-Bendit. Als der im August von seinem Listenplatz 7 zurücktrat, war für viele Spontis das Fass übergelaufen. Sie beteiligten sich nicht mehr an der Wahlbewegung.

Der Ausgang der Landtagswahl war schließlich ernüchternd. Mit 1,1% auf Landesebene und 1,7% in der Region Frankfurt konnte die Grüne Liste lediglich einen Prestigesieg gegen die von Gruhl gegründete Grüne Aktion Zukunft vorweisen. Es setzte ein erneutes Nachdenken über Sinn und Zweck der Wahlteilnahme ein. In seinem wegweisenden Artikel im Pflasterstrand «Warum eigentlich nicht?» hatte Joschka Fischer kurz nach der Wahl die sorglose Parlamentarisierung der anti-parlamentarischen Spontibewegung als kurzsichtig entlarvt. Denn: «Nur wer die Macht hat, kann verändern; aber auch: Wer dann Macht hat, den hat sie auch, die Macht.» Wie viele Spontis entschied er sich daraufhin gegen eine weitere Beteiligung. So spielte der Sponti-Zusammenhang, im Gegensatz zu dem der Radikalökologen, bei der Gründung der Bundesgrünen keine Rolle. Fischer und Cohn-Bendit traten erst Anfang der 1980er-Jahre in die grüne Partei ein, diesmal aber mit realpolitischer Zielsetzung und ohne Angst vor der Macht.


Berlin


Es war nicht gerade ein Auftakt nach Maß. Am Abend des 5. Oktober 1978 hatten sich rund 3.500 Bürgerinitiativler, Alternative, Umweltschützer und Mitglieder verschiedener K-Gruppen zur Gründung der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz in der Neuköllner «Neuen Welt» getroffen. Doch mit dem Ergebnis der gut fünfstündigen Debatte über einen Gründungsbeschluss konnte sich lediglich ein Drittel der Teilnehmer anfreunden. Größter Streitpunkt war die sogenannte K-Frage. Nach langen Diskussionen hatte sich die Mehrheit der Gründungsversammlung für die Vereinbarkeit von Doppelmitgliedschaften entschieden, d.h. für die Vereinbarkeit der Mitgliedschaft in der Alternativen Liste und den K-Gruppen. Als Kompromiss wurde zwar eine Art Loyalitätserklärung zur Alternativen Liste und das Prinzip der Einzelmitgliedschaft verabschiedet, doch das beruhigte die wenigsten Kritiker. Noch am selben Abend erklärte der prominente Anwalt Otto Schily offiziell, an der Liste nicht mitzuwirken. Auch die in der Berliner Wahlbewegung aufgrund ihrer erfolgreichen Teilnahme an der Bezirkswahl 1975 in Zehlendorf als Vorreiterin geltende Wählergemeinschaft Unabhängiger Bürger wandte sich von den Alternativen ab. In einem Interview mit der Berliner Tageszeitung Der Abend bezeichnete Schily die Liste als «KPD mit anderem Namen». Doch das Schicksal der Hamburger sollte sich nicht wiederholen.

Die Berliner Szene war wesentlich pluraler und heterogener als in anderen deutschen Großstädten. In den 1960er-und 1970er-Jahren hatte sich hier ein alternatives Biotop umgeben von kommunistischem Feindesland entwickelt, in dem sich derEinfluss verschiedenster Gruppen egalisierte.Von einerdominanten alternativen Gruppierung kann nicht gesprochen werden. «Die Scene ist zersplittert. Es gibt die Besetzer vom Südkiez und vom Nordkiez. [...] Es gibt Widerstands-Punks und Wochenend-Punks, Anarcho-Punks und Schicki-Punks (und manchmal fällt alles zusammen). Immer aufs Neue teilt und verteilt sich diese Stadt. Und das ist nicht nur schlecht. So haben wir vieles doppelt (und dreifach). Wagenbach und Rotbuch, taz und Neue, Ostberlin und Westberlin, zitty und tip», brachte es der frühere SDSler und Publizist Jürgen Miermeister im Jahre 1982 auf den Punkt. So trafen auch innerhalb der Wahlbewegung die unterschiedlichsten Interessen aufeinander. Dem Gründungskongress waren etliche kleinere Treffen der verschiedenen Gruppierungen vorausgegangen. Immer wieder kamen dabei dieselben Ängste und Sorgen zur Sprache. Man fürchtete sowohl die negative Beeinflussung der politischen Basisarbeit und den Verlust der Anbindung an die Bürgerinitiativen als auch die bereits angesprochene Majorisierung durch dievon Wolfgang Spielhagen im Szenemagazin zitty als «altägyptisch-rückwärtsgewandt» bezeichnete KPD.

Doch anstatt einer Vereinnahmung der Alternativen Liste durch die Kommunisten entwickelte sich in Berlin ein gesundes Zusammenspiel. 1982 ließ Ernst Hoplitschek von der AL Berlin verlauten: «Hätte es die KPD-Kader im Apparat, in den Bereichen und Bezirken nicht gegeben – die AL hätte mit Sicherheit nicht überlebt.» Ihre Rolle machte sich besonders nach der Wahl im März 1979, die mit 3,7% auf Landesebene und dem Einzug in die Bezirksparlamente von Kreuzberg, Tiergarten, Schöneberg und Wilmersdorf als Erfolg verbucht werden konnte, bemerkbar. Denn die KPD-Kader waren es im Gegensatz zu den meisten Alternativen gewohnt, sich mit Paragraphen und hierarchischen Strukturen zu beschäftigen. Dazu kam die interne Entscheidung der Kommunistischen Partei, sich im März 1980 zugunsten der Alternativen Liste aufzulösen. Dies beruhigte die K-Gruppen-Gegner. Zur vorgezogenen Landtagswahl im Mai 1981 arrangierten sich die verschiedenen Teile der Wahlbewegung. Sogar Schily und die Zehlendorfer Wählergemeinschaft begruben ihr Kriegsbeil und traten der Alternativen Liste bei. Dies sollte sich auszahlen. Mit 7,2% zog die Liste erstmals ins Berliner Abgeordnetenhaus ein.


Zusammenfassung


Diese drei Episoden aus deutschen Großstädten lassen erahnen, welch tiefe Risse die Gründung der Grünen in der Alternativszene hinterließ. Der Eintritt in die Europagrünen berechtigte zur Teilnahme an der Gründungsversammlung in Karlsruhe. Er bedeutete für Alternative einen Bruch mit ihrem eigenen Organisationszusammenhang, der in den meisten Fällen mit dem persönlichen Freundeskreis identisch war. So kam in Hamburg ein Mitwirken bei den Grünen einem Bruch mit dem Kommunistischen Bund gleich, in Frankfurt musste man sich von den Spontis loslösen. In Berlin lagen die Dinge etwas anders. Die Pluralität der Szene und die oftmalige Doppelzugehörigkeit zu verschiedenen Kreisen machte es einzelnen Alternativen mitunter einfacher, sich zu entscheiden. Eine Entscheidung bedeutet der auf den ersten Blick als Formalie erscheinende Eintritt in die Europagrünen aber in jedem Fall. Mit Blick auf die anfänglich unsichere politische Ausrichtung der neuen Partei verschoben viele interessierte Alternative die Entscheidung und fuhren als autonome Delegierte in die badische Metropole. Die meisten dieser Delegierten traten den Grünen allerdings im Lauf des Jahres 1980 bei – die Gedankenspiele um die Gründung einer alternativen Bundespartei wurden begraben. Dies sollten vor allem die konservativen Kräfte zu spüren bekommen. Bereits auf der Dortmunder Bundesversammlung im Juni besaßen Traditionslinke und Alternative gemeinsam ein personelles Übergewicht. Konservative wie Gruhl und Springmann verließen daraufhin die Partei, und der Links-Rechts-Konflikt wurde im Laufe der 1980er-Jahre durch den alle politischen Lager spaltenden Realo-Fundi-Gegensatz abgelöst.

Buch

Grünes Gedächtnis 2011

Dieser Artikel ist Teil des Jahrbuchs des Archiv Grünes Gedächtnis 2011. Anlässlich des Jubiläums "30 Jahre Grüne" ist der Schwerpunkt der Publikation auf die Geschichte grüner Landesverbände gelegt. Das Jahrbuch enthält bislang unbekannte Details und Fakten zur Gründungsgeschichte, die in zahlreichen Artikeln erläutert und diskutiert werden.