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Japan nach der Dreifachkatastrophe: Versuch, die Energielücke zu schließen

Erst bekamen sie aus einer Bambuskelle ein wenig Wasser in die linke Hand, von dort gaben sie es weiter in die rechte: Jeder, der das rot-weiß-gestreifte Festzelt betrat, musste erst eine Reinigung im Stil der japanischen Naturreligion Shinto vollziehen. Zum Trocknen der Hände wurden Papierstreifen gereicht. Das kleine Ritual war die Vorbereitung auf einen Spatenstich der japanischen Art für ein neues Solarkraftwerk. Ein in weiß gewandeter Priester, der auf dem Kopf eine traditionelle Kopfbedeckung in Schwarz trug, verbeugte sich mehrfach vor einem Altar mit Opfergaben wie Fisch, Obst, Gemüse und Reiswein. Immer wieder bat er die Gäste aufzustehen, sich mit ihm zu verbeugen. Schließlich vollzogen Dr. Hiroshi Kameyama, Bürgermeister der Stadt Ishinomaki, und mehrere Vertreter der Firmen, die am Neubau des Solarkraftwerks beteiligt sind, einen rituellen Spatenstich an einem künstlichen Erdkegel.

Neues Solarkraftwerk für 3.500 Haushalte

Mit dem Segen der japanischen Götter versehen, ohne den in Japan selten ein Neubau beginnt, ging es zwei Wochen nach der Zeremonie am 14. Februar mit der Errichtung des größten Solarkraftwerks in der nordostjapanischen Präfektur Miyagi los. Die Region war dem Epizentrum des Stärke 9,0-Bebens am 11. März 2011 am nächsten. So stark waren die Erdkräfte, dass sie die Halbinsel Oshika um fünf Meter nach Osten verschoben und um über einen Meter absenkten. Da sie zum Quasi-Nationalpark Kinkasan gehört, unterliegt sie besonderen Bestimmungen, die der Solaranlagenbetreiber Sun Energy Ishinomaki beim Bau des neuen Solarkraftwerks beachten muss.
Wo bis vor zehn Jahren Bauern ihre Reisfelder bestellten, werden seit Anfang März 46.500 Solarmodule auf die Brache montiert, die sich unterhalb einer Zufahrtsstraße bis zum Meer erstreckt. Mit einer Kapazität von 10 Megawatt wird die Anlage 3.500 Haushalte versorgen können. Das genügt leicht für die 1.500 Haushalte auf der Halbinsel, die überwiegend zu Ishinomaki gehören.

Die anderen zählen zur Gemeinde Onagawa, nach der ein Atomkraftwerk benannt ist, das zehn Kilometer weiter nördlich steht. Es verfügt über drei Reaktoren mittlerer Leistung (bis 1000 MW).  Auch das AKW in Onagawa wurde damals überschwemmt, die Reaktoren konnten jedoch rechtzeitig in den Zustand der Kaltabschaltung gebracht werden. Seither ruhen sie.

Einspeisungsvergütung für Stromversorger

Der Betreiber des AKWs, Tohoku Electric Power, sowie die neun anderen Stromversorger in Japan müssen seit Juli 2012 im Rahmen der neuen Einspeisungsvergütung Strom aus regenerativen Quellen kaufen. Windparkbetreiber bekommen 23,1 Yen (18 Cent) pro Kilowattstunde für größere Anlagen, 57,75 Yen (46 Cent) für kleinere. Solarparkbetreiber erhalten pauschal 42 Yen (33 Cent) pro Kilowattstunde. Die Gültigkeit der Einspeisungsvergütung variiert je nach Energieform und Anlagengröße zwischen zehn und zwanzig Jahren. Für die Haushalte bedeutet die Umsetzung bei einer durchschnittlichen Stromrechnung von 7.000 Yen (56 Euro), dass sie den Ausbau der erneuerbaren Energien mit einer zusätzlichen Zahlung von 87 Yen (69 Cent) mittragen.

Japans Tarife für erneuerbare Energien sind im internationalen Vergleich sehr hoch. Das lockt Investoren an. Darunter ist auch Masayoshi Son, der zweitreichste Mann Japans und Chef des Mobilfunkbetreibers Softbank. Er sagte auf einer Pressekonferenz Ende August 2012: „Egal welche Option gewählt wird – erneuerbare Energien müssen in Japan so schnell wie möglich ausgebaut werden.“ Softbank hat inzwischen bereits einige großformatige  „Megasolar“-Anlagen gebaut und investiert in weitere. Um regenerative Energien zu fördern,  gründete Son die Stiftung „Japan Renewable Energy Foundation“, die Seminare und Konferenzen zum Thema veranstaltet, zuletzt Ende Februar in Tokio.

Verdopplung der Windenergie-Kapazität bis 2017

Für Investoren wie Son ist der große Vorteil von Solaranlagen, dass sie in wenigen Monaten in Betrieb gesetzt werden können. Im Vergleich zu Windkraft sind die Kosten niedrig, es gibt weniger Vorschriften. „Bei Windturbinen dauert alleine die Umweltprüfung schon vier Jahre!“, sagte Tetsuro Nagata, Präsident der Japan Wind Power Association, auf einer Konferenz von Sons Stiftung. Darum zögerten Investoren bei Windkraft noch. Selbst Eurus Energy Holdings, Japans größtes Windkraftunternehmen, das Nagata bis letztes Jahr leitete und weiter berät, setze zurzeit auf Solarkraft. So können sie von hohen garantierten Tarifen in den ersten drei Jahren profitieren. 
Von April bis November 2012 genehmigte das japanische Wirtschaftsministerium (METI) laut eigener Aussage Projekte mit einer Stromleistung von 3,65 Gigawatt, davon 90 Prozent Solarstrom. Um der Windkraft den nötigen Schub zu geben, diskutiere das METI eine Tarifsenkung für Solarenergie, berichtete die Zeitung „Nikkei“. Das Ziel: Bis 2017 soll sich Japans Windenergie-Kapazität verdoppeln. Firmen wie Eurus und Softbank wollen mit 900 Milliarden Yen (7,2 Milliarden Euro) Windfarmen auf-  oder ausbauen. Ihre Investition würde sich auf Basis des aktuellen Tarifs in zehn Jahren rentieren, rechnete die Zeitung „Nikkei“ aus. 

Ein Vorteil der Windkraft ist, dass die Turbinen auch bei Nacht und schlechtem Wetter laufen können. Nachteilig sind die hohen Einstiegskosten und die mehrjährigen Umweltprüfungen. Dass Japan häufig Naturkatastrophen erlebe, spreche jedoch nicht dagegen, findet Windenergieexperte Nagata. Alle Anlagen hätten das Beben und den Tsunami 2011 überstanden, sagte er stolz. „Das hat die ganze Welt überrascht!“

Eines der ambitioniertesten Windkraftprojekte – ein schwimmender Windpark mit 16 MW Kapazität – wird derzeit vor der Küste der Präfektur Fukushima gebaut. Das Projekt, bei dem die Universität Tokio mit zehn Unternehmen kooperiert, bekommt finanzielle Mittel vom METI.

Hürden der Steigerung regenerativer Energien

Zwischen 2010 und 2020 will Japan die regenerativen Energien von 110 auf 180 Milliarden Kilowattstunden steigern. Doch dazu müssen erst einige Hürden überwunden werden.
Derzeit stünden dem Ausbau einander widersprechende Gesetze und Vorschriften verschiedener Behörden im Weg, sagte Toshio Hori, Präsident der Firma Green Power Investment, der Zeitung „Nikkei“. Zum Beispiel könne Land, das als landwirtschaftliche Nutzfläche gilt, nicht ohne weiteres für Solar- oder Windkraftwerke verwendet werden. Ein ähnliches Problem haben Betreiber, die ein Erdwärmekraftwerk errichten wollen. Sachio Ehara, emeritierter Professor für Geothermie an der Universität Kyushu, erklärte auf der gleichen Konferenz, dass 80 Prozent der nutzbaren Quellen in Nationalparks seien. Deswegen dauere die Umweltprüfung ähnlich lange wie bei Windkraftwerken. Hinzu kommt, dass die natürlichen Quellen oft von Hotels genutzt werden, die damit die beliebten Thermalbäder speisen, und die ihr Geschäft in Gefahr sehen. Den Widerständen zum Trotz sieht Ehara bei der Erdwärme ein „enormes Potential in Japan“ – den vielen aktiven Vulkanen sei Dank.

Der lange Atem, den grüne Projekte derzeit in Japan noch benötigen, muss finanziert werden. Zwar unterstützt das Wirtschaftsministerium viele Projekte in Tohoku im Rahmen des Wiederaufbaus, wie die Solaranlage in Tomarihama. Doch Japans Banken täten sich mit erneuerbaren Energien noch schwer, sagte Yugo Nakamura, Energiemarkt-Analyst von Bloomberg New Energy Finance, weil sie das Risiko noch nicht einschätzen können. Hisashi Kajiyama vom Fujitsu Research Institute, der zum Beraterstab von Ex-Premierminister Naoto Kan gehörte, ging mit Japan hart ins Gericht: Seinem Land fehle es an Fachwissen, Erfahrung und Preisbewusstsein. Biogasanlagen seien in Japan deswegen fünfmal so teuer wie in Deutschland.

Energiemix für Japan

Bei den hohen Preisen für Anlagen für erneuerbare Energien und einem langen Zeithorizont ist ein stabiles politisches Umfeld für die Investoren besonders wichtig. Doch während die demokratische Partei (DPJ) unter Ex-Premierminister Yoshihiko Noda nach einem langen Hin und Her vage den Ausstieg bis zu den 2030ern verkündete, nimmt die aktuelle liberaldemokratische Regierung davon Abstand. Japans Regierungschef Shinzo Abe kündigte bereits an, AKWs wieder anzufahren, wenn die Regulierungsbehörde sie für sicher befunden habe. Gleichzeitig wolle Japan aber auch die Entwicklung erneuerbarer Energien vorantreiben und „über einen Zeitraum von zehn Jahren den besten Energiemix für Japan ausarbeiten“, sagte Abe in seiner Antrittsrede Ende Dezember. 

Eine weitere Hürde für den Ausbau erneuerbarer Energien ist das uneinheitliche Stromnetz, dessen Netzfrequenz m östlichen Teil 50 Hertz und im westlichen Teil Japans 60 Hertz beträgt. Außerdem ist es in abgelegenen Gebieten, die sich für die Einrichtung von Windkraftanlagen gut eignen würden, nicht ausreichend ausgebaut.

Bis 2020 möchte das Industrieministerium den gesamten Stromerzeugungssektor umkrempeln. Im Rahmen der Deregulierung sollen Stromproduktion und -transport getrennt werden. Dadurch hofft das Ministerium, den Wettbewerb auf dem Energiemarkt anzukurbeln.

Hoffnung auf eigenen Strom

Auf der Oshika-Halbinsel neigt sich unterdessen die Shinto-Zeremonie dem Ende zu. Zum Abschluss bekommen alle Gäste eine kleine Schale mit japanischem Reiswein gereicht. Während die Festgemeinschaft zum Mittagessen aufbricht, steht der Bürgermeister von Ishinomaki, Dr. Hiroshi Kameyama, noch draußen vor dem Zelt, an jenem sonnigen Tag mit dem traumhaft blauen Meer vor der Küste der Oshika-Halbinsel im Rücken, und erklärt seine Hoffnung für die Region: „Ich stelle mir vor, dass wir hier vor Ort unseren eigenen Strom herstellen, den wir selbst verwenden.“ Derzeit arbeite man an einem „Smart Community“-Konzept, innerhalb dessen man Speicherlösungen für die zu viel produzierte Energie finden müsse. Kameyama könne sich durchaus vorstellen, dass eines Tages – „vielleicht in 20 Jahren“ – überall Sonnensegel stünden, die die Atomenergie komplett ersetzten. Der Staat unterstütze Ishinomaki finanziell dabei, eine „sichere Öko-Stadt“ zu werden. Wenn die nächste Naturkatastrophe passiere, möchte der Bürgermeister sicherstellen, dass seine Stadt zumindest Licht habe und Informationen weitergeben könne. Auch daher unterstützt er das Solarkraftwerk, bei dem alleine es jedoch nicht bleiben soll. Ein Windkraftwerk sei schon in Planung und im Nachbarort Ayukawa befinde sich eine Anlage im Bau, in der Energie aus Mikroalgen gewonnen werden kann. Grüne Energie – im wahrsten Sinne des Wortes.


Sonja Blaschke ist Journalistin und Korrespondentin in Tokio