Rechtsschwenk statt Atomausstieg

Obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung für den Atomausstieg ist, wollen die meisten Parteien im Wahlkampf an der Kernenergie festhalten; Foto: Matthias Lambrecht/Flickr; Lizenz: CC-BY-NC

12. Dezember 2012
Siegfried Knittel
Am 16. Dezember wird in Japan ein neues Parlament gewählt. Eine Woche vor der Wahl scheint die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP) mit ihrem nationalistischen Vorsitzenden Shinzo Abe einem klaren Sieg, möglicherweise gar der absoluten Mehrheit nahe, während die linksliberale Demokratische Partei Japans (DPJ), die bisher die Regierung gestellt hat, damit rechnen muss, zweit- oder gar nur drittstärkste Partei hinter der neugegründeten Erneuerungspartei Japans zu werden. Die LDP könnte mit ihrem traditionellen Koalitionspartner nach einer am 7. Dezember veröffentlichten Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo 300 von 480 Unterhaussitzen gewinnen, während die DPJ von 230 auf 70 Sitze zurückfiele. Die Erneuerungspartei Japans käme auf 50 Sitze und die ebenfalls neugegründete Zukunftspartei Japans auf 15 Sitze. Die Zahl der unentschiedenen Wähler liegt mit etwa 50 Prozent allerdings sehr hoch (1).

Die drei zentralen Wahlthemen bei DPJ und LDP

Drei Themen bestimmen diese Wahl: Zum einen ist es die Sorge der Bürger um das Sozialsystem und die Entwicklung der Wirtschaft. Die jetzige DPJ Regierung, die die Wahl 2009 mit großen Versprechungen zur Reform des Sozialsystems gewonnen hatte, konnte diese nicht erfüllen, weil sie unbezahlbar waren. Stattdessen hat die jetzige Regierung Noda dieses Jahr die Mehrwertsteuer erhöht, was die DPJ im Wahlkampf 2009 ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Der Frust der Wähler über die nicht erfüllten Versprechen ist ein wesentlicher Grund für die schlechten Umfragewerte für die DPJ.

Unter ihrem Vorsitzenden Premierminister Yoshihiko Noda vermeidet die DPJ deshalb große Versprechungen. Die 2009 angekündigte Reform des Sozialsystems wird weiter verschoben, weil sie keine Erleichterungen sondern schmerzhafte Einschnitte für die Bevölkerung bringen würde. Noda will die Wirtschaft mit Sparen gesunden und mittels des Trans Pacific Pacts (TPP) beleben. Dabei handelt es sich um eine geplante Freihandelszone, die einen großen Teil der Staaten rund um den Pazifik umfassen soll. Japans Landwirtschaft und Fischerei widersetzen sich entschieden diesem Plan. Mit seiner Wirtschaftspolitik ohne sichtbare Wohltaten vergrault Noda die Wähler eher, als dass er sie gewinnt.

Demgegenüber setzt die LDP auf staatlich finanzierte Konjunkturprogramme. Ähnliche Programme hatten Japan in den neunziger Jahren die höchste Staatsverschuldung aller Industriestaaten eingebracht. Jetzt will sie wieder in guter LDP Tradition sage und schreibe zwei Billionen Euro in die Wirtschaftsförderung stecken (2). Der von der Größe Japans so überzeugte Abe will nicht einsehen, dass die mangelnde Innovationskraft der japanischen Industrie das Hauptproblem der japanischen Wirtschaft ist, dem mit Investitionsprogrammen nicht beizukommen ist.

Harte Hand im Konflikt um die Senkaku Inseln

Das zweite Thema ist der außenpolitische Konflikt mit China um die Senkaku Inseln. Umfragen zeigen, dass nicht zuletzt junge Wähler eine harte Haltung Japans in dieser Frage fordern. Es hat sich in Japan das Gefühl breit gemacht, dass man gegenüber China, aber auch gegenüber Südkorea, mit dem es ebenfalls einen Inselkonflikt gibt, zu lange zu freundlich und nachgiebig war. Dass Japan angreifbar ist, weil seine Eingeständnisse in die Verbrechen seiner imperialen Vergangenheit vage und widersprüchlich bleiben, will allzu vielen Japanern nicht in den Kopf. Stattdessen gewinnt die Forderung, gegenüber China im Senkaku Insel Konflikt endlich auf den Tisch zu schlagen, an Zustimmung.

Shinzo Abe bedient mit seiner Wahlkampf-Rhetorik dieses Bedürfnis. Er will ein Japan führen, das sich nichts mehr bieten lässt. Deshalb will er einen Hafen und Schutzunterkünfte auf den Senkaku Inseln bauen lassen. Die Küstenwacht soll ausgebaut werden und chinesische Schiffe aus japanischem Gewässer vertrieben werden. Wie er das anstellen will, ohne einen bewaffneten Konflikt zu riskieren, sagt er nicht. Den USA, die im Senkaku Konflikt auf Deeskalierung setzen, würden solche Aktionen mit Sicherheit nicht gefallen.

Man muss Abe aber zugutehalten, dass er, als er 2006 Premierminister wurde, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Koizumi die Verständigung mit China gesucht hat. Es ist unklar, inwieweit seine markigen Reden nur Wahlkampf-Rhetorik sind oder ob er nach einem Wahlsieg eine solche Politik tatsächlich verfolgen will.
Premierminister Noda setzt demgegenüber im Konflikt um die Senkaku Inseln mit China rhetorisch auf Deeskalierung und verbietet Japanern das Betreten der Inseln. Er agiert in diesem Konflikt weniger von der Frage des nationalen Stolzes getrieben. Allerdings glaubt auch er, dass es eigentlich gar keinen territorialen Konflikt um die Inseln geben könne, da diese schließlich das Eigentums Japans seien.

Mehrheit der Bevölkerung für den Atomausstieg

Das dritte wichtige Thema ist die Zukunft der Atomenergie in Japan. Es gibt keine Wahlrede, in der diese Frage nicht an prominenter Stelle steht. Alle Parteien tragen damit dem Umstand Rechnung, dass die Mehrheit der Japanerinnen und Japaner für den Ausstieg aus der Atomkraft ist.

Die LDP als die traditionelle Atomkraftpartei ist selbstredend gegen den Atomausstieg. Aber auch sie kommt nicht umhin, für den Ausbau der alternativen Energien einzutreten. Abe spricht vom richtigen Energiemix, der in den nächsten zehn Jahren gefunden werden soll. Sein Stellvertreter Shigeru Ishiba hat über Abe hinausgehend die Beibehaltung der Kernenergie gefordert, um gegebenenfalls eine Atombombe bauen zu können.

Die DPJ will in den 30er Jahren aus der Kernenergie aussteigen, lässt aber Schlupflöcher für den Weiterbetrieb zweier im Bau befindlicher Kernkraftwerke. Zudem wird die Wiederaufbereitung der verbrauchten Brennstäbe weitergeführt. Mit einer solchen Politik wird die DPJ keine Stimmen von Atomkraft-kritischen Wählerinnen und Wählern gewinnen. Wäre Noda mit einem frühen Ausstiegstermin und einem detaillierten, Plan wie er den Ausstieg umsetzen will, in den Wahlkampf gegangen, hätte dies der DPJ mit Sicherheit Stimmen gebracht. Aber seine Partei ist in dieser Frage gespalten und von Noda weiß man, dass er im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Naoto Kann der Atomkraft eher positiv gegenüber eingestellt ist.

Eine Partei, die vom breiten Publikum wahrgenommen mit einem eindeutigen Ausstiegsplan das desaströse Abenteuer Kernkraft in Japan beenden will, gibt es nicht. Dieser Umstand, sowie der Frust über die DPJ und ihre Regierung, die Sorge um das Renten- und Gesundheitssystem und das Gefühl vom immer selbstbewusster auftrumpfenden Nachbarn China an die Wand gedrückt zu werden, werden wohl die Wahl entscheiden.

Die Protestparteien

Das Besondere dieser Wahl sind die neuen Gruppierungen, die die beiden etablierten großen Parteien herausfordern. Sie wurden allesamt kurz vor der Wahl gegründet und haben sich dann mit anderen neugegründeten Parteien zusammengetan.

Die wichtigste Parteigründung ist die Nippon Ishin no Kai, auf Deutsch Erneuerungspartei Japans. Sie ist aus zwei Parteien hervorgegangen, die der Bürgermeister von Osaka, Toru Hashimoto und der ehemalige Gouverneur von Tokyo, Shintaro Ishihara, in diesem Jahr Parteien gegründet hatten (3). Die Gouverneurin der Präfektur Shiga, Yukiko Kada, hat ebenfalls eine Partei namens Nippon Mirai no To auf Deutsch, Japans Zukunfts Partei, etabliert. Auch sie hat die Partei umgehend mit einer anderen, der im Juni entstandenen Partei des abtrünnigen ehemaligen Vorsitzenden der DPJ, Ichiro Ozawa vereinigt (4). Vier weibliche Oberhausabgeordnete, die im Herbst die Partei Midori no Kaze, auf Deutsch Grüner Wind gegründet hatten, traten ebenfalls Japans Zukunfts Partei bei.

Parteiengründungen sind in Japan nicht das Resultat einer gesellschaftlichen Bewegung. Sie sind vielmehr Top down Organisationen, initiiert von denjenigen, die schon an hoher Stelle im politischen Geschäft mitmischen. Trotzdem kommt in der großen Zahl der diesjährigen Neugründungen ein großes gesellschaftliches Unbehagen mit der etablierten Politik in Tokyo zum Ausdruck. Die zentrale Rolle von Präfektur- und Lokalpolitikern bei diesen Parteigründungen verdeutlicht die Unzufriedenheit der Regionen mit dem japanischen Zentralstaat und dessen Bürokratie.

Schwächung der Zentralbürokratie

Toru Hashimoto und Shintaro Ishihara, die beiden führenden Personen der Erneuerungspartei Japans sind ausgesprochene Nationalisten. Hashimotos Hauptagenda ist die Entmachtung der Zentralbürokratie in Tokyo und die Beendigung der völligen finanziellen Abhängigkeit von Präfekturen und Städten von den Ministerien in Tokyo. Wirtschaftspolitisch trat er lange Zeit als lupenreiner Neoliberaler auf, der den Beitritt Japans zur TPP forderte.

Dazu gab sich Hashimoto lange als Atomkraftgegner aus, was ihm viel Sympathie einbrachte. Nach der Vereinigung seiner Partei mit der des Nationalisten Ishihara, dem am Freihandel nicht viel gelegen ist, gab er die Forderung nach dem Beitritt zum TPP auf und hält plötzlich wie Ishihara einen Atomkraftausstieg in absehbarer Zeit für nicht mehr realistisch 5). Beide treten für einen harten Kurs gegenüber China ein. Ishihara hatte durch seine Ankündigung, die Senkaku Inseln von einem Tokyoer Kaufmann kaufen und dann dort einen Hafen bauen zu wollen, den Konflikt mit China überhaupt erst angefacht. Er ist auch deshalb gegen die Abschaltung der Atomkraftwerke, weil er glaubt, dass Japan sich mit der Atombombe Respekt verschaffen müsse (6).

Im Gegensatz dazu ist Yukiko Kada, eine Agrarwissenschaftlerin, mit ihrer Partei dem Umweltschutz zugetan. Als Gouverneurin der Präfektur mit dem größten See in Japan, der nahe den wiederangefahrenen Atomreaktoren in Oi liegt, hat sie sich in diesem Sommer lange gegen deren erneutes Hochfahren gesträubt, weil sie die atomare Verseuchung des Sees, der Trinkwasserreservoir für 14,5 Millionen Menschen ist, bei einem Reaktorunfall fürchtet. Am Ende aber beugte sie sich dem Argument der angeblichen Stromknappheit im japanischen Sommer und stimmte dem Wiederanfahren zu. Jetzt plädiert sie für den Atomausstieg bis 2022 (7). Nur die Kommunistische und die Sozialdemokratische Partei gehen in ihren Forderungen nach dem sofortigen Atomausstieg weiter. Kada wirkt aber in ihren Aussagen bisweilen unklar und widersprüchlich und nach ihrem ersten Einlenken der Wiederinbetriebnahme der Oi-Reaktoren weiß man nicht so recht, wie konsequent sie ihre Position in der Laufzeitfrage vertreten wird.

Was sie und ihre Partei aber von allen anderen Parteien und allen bekannten japanischen Politikern unterscheidet, ist ihr Eintreten für eine Stärkung der Beschäftigung von Frauen, verbunden mit dem Ausbau des Hort- und Kindergartensystems als Voraussetzung für eine Berufstätigkeit von Frauen.

Das Dilemma von Japans Grüner Partei

Die im Juli 2012 gegründete Grüne Partei, auf Japanisch Midori no To, tritt bei der Unterhauswahl nicht an. Für die einzige Partei, die nicht von etablierten Politikern sondern aus der Mitte der Anti-Atomkraftbewegung heraus gegründet wurde, ist die Summe von einer Million Euro, die bei der Regierung für die Zulassung als Partei zur Wahl hinterlegt werden muss, ein unerschwinglich hoher Betrag. So hat sie sich entschieden, nur den Wahlkampf des Atomkraftgegners Taro Yamamoto in Tokyo zu unterstützen. Yamamoto, ein in Japan bekannter Filmschauspieler, der seit seinem Engagement für die Anti-Atomkraftbewegung kaum mehr Filmrollen bekommt, will in einem westlichen Bezirk Tokyos ein Direktmandat erringen. Beim Wahlkampfauftakt am 4. Dezember vor dem Bahnhof Koenji, dem vor allem Unterstützerinnen und Unterstützer von Midori no To beiwohnten, waren auffällig-unauffällig auch zwei Bodyguards dabei. Öffentlich bekannte Personen, die sich wie er gegen die Atomkraft engagieren, gelten den japanischen Rechtsradikalen als Netzbeschmutzer, gegen die sie mitunter gewaltsam vorgehen.

Die Grüne Partei, die bei Oberhauswahlen im Sommer nächsten Jahres antreten will, wird es ohne einen populären Kopf als Frontfigur trotz der Ablehnung der Atomkraft durch die Bevölkerungsmehrheit schwer haben, das Interesse einer breiten Öffentlichkeit zu gewinnen, das die Voraussetzung ist, um bei der Wahl eine Chance zu haben. Man wird sehen, wie die Partei in der Zukunft dieses Dilemma zu lösen versucht.

Dem Alptraum entkommen

Angesichts der hohen Zahl der noch unentschiedenen Wählerinnen und Wähler kann in der Woche bis zum 16. Dezember noch viel geschehen. Falls die LDP nicht allein regieren kann, würde Abe neben dem langjährigen Koalitionspartner Neue Komeito mit Sicherheit eine Koalition mit der Restaurationspartei Japans einer Koalition mit der DPJ vorziehen. Abe, Ishihara und Hashimoto in einer Koalition, das würde einen deutlichen Rechtsruck in Japan bedeuten, nicht nur außenpolitisch sondern gesellschaftspolitisch, denn Abe wie Ishihara träumen von einer Gesellschaft mit deutlich obrigkeitsstaatlichen Zügen. Ob allerdings die buddhistische Komeito Partei, der traditionelle Koalitionspartner der LDP, der das nationalistische Gedröhne der anderen beiden Parteien fremd ist, einer solchen Koalition beitreten würde, ist fraglich. Man kann nur hoffen, dass die Mehrheitsverhältnisse eine LDP-DPJ Regierung notwendig obgleich nicht wünschenswert machen. Eine Koalition von DPJ, Mirai no To und eventuell den Miniparteien von Sozialdemokraten und Kommunisten ist aber nicht in Sicht.


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Siegfried Knittel

(1) LDP set to win majority in general election Kyodo survey In: Japan Times v. 7.12.2012
(2) Abe says LDP will propose Y200 trillion public works package In: Japan Today v. 25.11.2012
(3) Ishiharas New Party To Join Japan Restoration Party In: Nikkei.com v. 17.11.2012
(4) For women against reactors Shigas Kada readies party Ozawa joins In: Japan Times v. 28.11.2012
(5) Nuclear power phase out is not a campaign promise Hashimoto In: Mainichi Shimbun v. 3.12.2012
(6) Ishihara proposes Japan conduct nuclear simulation for deterrence In: Japan Times v. 20.11.2012
(7) Nippon Mirai pledges 2022 atomic phaseout tax freeze In: Japan Times v. 3.12.2012