Irrenhaus oder ewiger Wartesaal. Wie reformmüde ist die Türkei?

Claudia Roth, Bundesvorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen sprach auf dem Jour fixe „Türkei, Europa, Amerika - und die Kurdenfrage“ am 5. Mai 2009.
Foto © Bündnis 90 / Die Grünen

8. Mai 2009
Von Stefan Schaaf
Bericht zum Jour Fixe am 5. Mai 2009

Von Stefan Schaaf

Selbst eine vehemente Befürworterin eines EU-Beitritts der Türkei wie Claudia Roth hat gegenwärtig „mehr Fragen als klare Antworten“, wenn es um die Reformbereitschaft des Landes geht. Sie sieht zwar Fortschritte in der Haltung der türkischen Regierung zur Kurden-Frage, erhält aber gleichzeitig fast täglich neue Meldungen von Rückschritten, von Willkürmaßnahmen der Behörden und Inhaftierungen kurdischer Politikerinnen und Politiker.

Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat in jüngerer Zeit mit manchem außenpolitischen Tabu gebrochen, dann aber nach einem ersten Schritt keine weiteren folgen lassen. Ende April sollte in der kurdischen Stadt Erbil im Nord-Irak eine Konferenz stattfinden, an der kurdische Vertreter aus dem Irak und der Türkei und Regierungsvertreter beider Länder sowie die USA als Beobachter teilnehmen sollten. Es wurde erwartet, dass dort unter tatkräftiger Mithilfe der irakischen Kurden ein großer Schritt vollzogen wird: Ein glaubhaftes Bekenntnis der militanten kurdischen PKK zur Gewaltlosigkeit. Im Gegenzug würde die Türkei eine Amnestie für ihre Kämpfer gewähren. Doch das Treffen wurde - mutmaßlich auf Drängen der türkischen Seite - kurzfristig abgesagt und auf den Sommer oder Herbst verschoben. 

Erste Anzeichen für Normalisierung der Beziehungen

Als der Jour Fixe der Heinrich-Böll-Stiftung und der tageszeitung (taz) geplant wurde, war dies noch nicht bekannt. Nicht nur der Besuch Barack Obamas in der Türkei und seine Grundsatzrede über das Verhältnis der USA zur muslimischen Welt hatten Hoffnungen geweckt. Die Türkei hatte endlich ein Programm in kurdischer Sprache im Staatssender TRT eingeführt, Staatspräsident Abdullah Gül hatte im Irak erstmals das Wort „Kurdistan“ ausgesprochen, und auch bei seinem Besuch in Armenien versprach er eine Normalisierung der Beziehungen nach Jahrzehnten des Streits um die Massaker von 1915.

Positiv sei, dass die türkische Regierung mit den irakisch-kurdischen Parteien verhandle, sagte Claudia Roth. Sie reist, wie sie sagt, seit 23 Jahren in die Türkei und war zuletzt Ende Februar in den kurdischen Gebieten. Gerade erst hatte sie bei einem Treffen der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe mit Abgeordneten aus Ankara gesprochen. „Die Einschätzung war, dass die Verhältnisse sehr instabil sind.“ Auch sei sie unsicher, wie sie die aktuelle Lage bewerten müsse. Sie berichtete von Angriffen auf die Meinungs- und Pressefreiheit, auch die eher anti-europäische Haltung des neuen Außenministers Ahmet Davutoglu werfe Fragen auf. Bis heute habe Premier Erdogan im Parlament kein Wort mit Ahmet Türk, dem Fraktions- und Parteivorsitzenden der pro-kurdischen Partei DTP, gewechselt. „Das ist eine Ächtungsstrategie, die ein verheerendes Bild abgibt“. Es bestünden auch erhebliche Zweifel am Willen der AKP, demokratische Verhältnisse durchzusetzen, wenn man sehe, wie mit Medien umgegangen werde, die die Regierung kritisieren.

Instabile Verhältnisse

Solche Widersprüchlichkeiten müsse sie immer wieder feststellen: „Perspektiven tun sich auf, die dann wieder enttäuscht werden.“ Wer nach einer friedlichen und politischen Lösung des Kurdenkonflikts in der Türkei suche, müsse die Situation derzeit als „deprimierend“ empfinden.

Moderatorin Ulrike Dufner, Leiterin des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, zitierte einen Referenten, der kürzlich in Istanbul gesagt hatte, er wisse nicht, ob die Türkei ein „Irrenhaus oder ein ewiger Wartesaal“ sei. Damit habe er auf den Umstand hingewiesen, dass türkische Politiker immer einen Grund fänden, anstehende Entscheidungen aufzuschieben.

Ohne Anerkennung der kurdischen Identität kein EU-Beitritt

Roth sagte, in der bundesdeutschen Debatte bestehe angesichts der Wirtschaftskrise derzeit kaum Interesse am Kurden-Konflikt oder EU-Beitrittsprozess der Türkei. Allenfalls als populistisches Mobilisierungsinstrument werde die Türkeifrage in Wahlkampfzeiten thematisiert. Für die Grünen bleibe es dabei, dass eine Türkei als demokratischer, Minderheiten respektierender Rechtsstaat Vollmitglied der EU werden solle. Diese Position sei nicht sehr leicht aufrechtzuerhalten, befand Roth, denn „der Reformprozess stockt und es gibt viele Konflikte, die sich möglicherweise sogar verschärfen. Wort und Tat fallen oft stark auseinander“. Der Weg nach Europa führe jedoch nach wie vor über Diyarbakir, ohne eine Anerkennung der kurdischen Realität sei er nicht gangbar. Dazu gehöre auch Unterricht in kurdischer Sprache sowie die volle Akzeptanz des kurdischen Alphabets. Absurderweise kann in der Türkei mit Haft von zwei bis sechs Monaten bestraft werden, wer Buchstaben verwendet, die in der türkischen Sprache nicht existieren - etwa den Buchstaben „w“, der zum kurdischen Alphabet gehört.

Der zweite Gast auf dem Podium war der kurdische Anwalt und Menschenrechtler Sezgin Tanrikulu. Er beschrieb das Ausmaß der Enttäuschung, die die Absage der Konferenz von Erbil ausgelöst hat. „Es war das erste Mal, dass die Kurden selbst aktiv wurden und eine diplomatische Anstrengung unternommen haben.“ Einiges sei hinter verschlossenen Türen bereits ausgehandelt gewesen, was die Kurden „in freudige Erwartungshaltung versetzt“ habe. Wann die Konferenz nun nachgeholt werden könne, sei schwer abzusehen. Er sieht Zeichen, die auf eine friedliche Lösung des Konflikts hindeuten. Negativ sei hingegen die Reaktion der Regierung auf ihre deutlichen Stimmenverluste bei den Kommunalwahlen am 29. März 2009. Die AKP hatte gehofft, die kurdische DTP an den Rand zu drängen und mit dem Versprechen, Wohlstand zu schaffen, stärkste Partei in den kurdischen Regionen zu werden. Dieses Ziel wurde klar verfehlt: Die AKP verlor gegenüber den Parlamentswahlen vom Juli 2007 acht Prozentpunkte und musste der DTP etliche Rathäuser überlassen. In der Folge wurde die Repression gegen die DTP verschärft, ihr wurde Propaganda für die militante PKK vorgeworfen, zahlreiche Büros wurden durchsucht und 245 Funktionäre verhaftet. Die AKP wolle es nicht tolerieren, dass die DTP mit gewaltloser Politik Erfolge habe, sagte Tanrikulu. „Gerade die Leute, die die Konferenz von Erbil vorbereiten sollten, sind im Gefängnis gelandet.“

AKP reagiert auf verlorene Kommunalwahlen

Auch Jürgen Gottschlich, der taz-Korrespondent in Istanbul, hält die Verweigerung der AKP gegenüber der DTP für „absolut gewollt“. Deren Strategie, mit Appellen an die gemeinsame muslimische Identität, mit dem Versprechen wirtschaftlichen Fortschritts und Wahlgeschenken die kurdische Partei in der Wählergunst zu überflügeln, sei nicht aufgegangen. Nun habe die AKP resigniert und sei wieder auf Repressionen umgeschwenkt. Auch ein Verbot der DTP sei nicht auszuschließen. Das undefinierte Verhältnis der DTP zur PKK sei dabei keine Hilfe.

Er erwartet aber, dass die internationale Konstellation eine friedliche Lösung erzwingt. „Die Amerikaner ziehen aus dem Irak ab, und Obama will keine Situation hinterlassen, die gleich wieder Konflikte aufbrechen lässt.“ Deshalb sei es im Interesse der USA, wenn es einen Konsens zwischen Bagdad, den irakischen Kurden und Ankara gebe. Die Türkei müsse den autonomen kurdischen Nordirak akzeptieren und einen geregelten Umgang mit dessen politischer Führung pflegen. „Da hat sich seit einem halben Jahr schon einiges getan“.

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