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Internationale Konferenz: Europas gemeinsame Zukunft

In drei Jahren Eurokrise sind viele vermeintlich felsenfeste Gewissheiten über Europa bis in die Grundfesten erschüttert worden. Selbst für überzeugte Europäer ist es nicht mehr undenkbar, dass die Europäische Union in ihrer heutigen Form zu den Opfern der Krise gehören könnte. Auch die Konferenz „Europas gemeinsame Zukunft“, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung am 25. und 26. September 2012 nach Berlin geladen hatte, war von der Sorge vor den immer wieder als „desaströs“ bezeichneten Folgen eines Auseinanderfallens der Eurozone geprägt. 

Griechenland als das bisher am schwersten getroffene Krisenland müsse deshalb um jeden Preis im Euro gehalten werden, so die Überzeugung einer großen Mehrheit der Rednerinnen und Redner. Hierfür müssten die notwendigen Reformen allerdings von der breiten Bevölkerung mitgetragen werden, sonst drohe ein „europäisches Haus, gebaut von Goldmann-Sachs“, wie es eine Stimme aus dem Publikum formulierte. Nach Ansicht der meisten Konferenzteilnehmenden wird dies nur gelingen können, wenn die aktuelle Austeritätspolitik  in Griechenland und anderen Krisenländern künftig von einem sozialpolitischem Ausgleich und einer effektiven Wachstumspolitik begleitet wird.

Deutschlands bisherige Krisenpolitik wurde von manchen Rednern wegen ihrer „nationalen“ Prägung scharf  kritisiert. Auch die internationalen Gäste der Konferenz wünschten sich eine überzeugendere Führungsrolle der größten Wirtschaftsmacht Europas. Dazu würde gehören, dass Deutschland den Gedanken einer gemeinsamen europäischen Schuldenhaftung und künftige Transferzahlungen nicht rigoros ablehnt, sondern als wichtige Voraussetzung eines „Minimums an Solidarität“ (José Ignacio Torreblanca) in der EU grundsätzlich akzeptiert. Deutsche Führungsstärke und Solidarität müssten letztlich darauf abzielen, die finanz- und wirtschaftspolitische Gestaltungskraft Europas zu stärken, so die allgemeine Überzeugung. Die angeregten Debatten der international besetzten Podien ließen allerdings erahnen, warum es schwierig sein dürfte, sich auf europäischer Ebene auf eine weitere Verlagerung politischer Kompetenzen zu einigen.

Die Europäische Union vor dem Abgrund?

Der große Ernst der Eurokrise wurde von keinem Redner bestritten, niemand ging in seiner Analyse jedoch weiter als John Kornblum. Der frühere US-Botschafter in Deutschland und heutige Senior Counselor der Wirtschaftskanzlei Noerr LLP argumentierte, dass das europäische Projekt seine große Aufgabe, die Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu verarbeiten, erfolgreich erfüllt habe. Angesichts der Globalisierung und des Charakters internationaler Krisen habe sich das europäische Konsensmodell allerdings überlebt. Bereits heute werde die EU international kaum noch als handlungsfähiger Akteur oder strategischer Partner wahrgenommen. Für die Europäer wäre es deshalb nach Ansicht von Kornblum vernünftiger, sich auf die Partnerschaft mit den USA zu konzentrieren und die Bildung einer transatlantischen Freihandelszone voranzutreiben.

Diese provokante Generalabrechnung wollte Rebecca Harms, Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament, nicht so einfach stehen lassen. Die ohne Zweifel „imperfekte“ EU könne trotz des von Kornblum kritisierten Konsensprinzips auch international „wunderbare“ Erfolge vorweisen. Verhandlungen über Klimaabkommen oder die Regulierung der Finanzmärkte scheiterten häufig nicht an Europa, sondern an amerikanischer „Gestrigkeit“, so Harms. Es sei besorgniserregend, dass das von Kornblum artikulierte Misstrauen auch  innerhalb der EU zu finden sei und sich z.B. in Wahlerfolgen für rechtspopulistische Parteien widerspiegele. Die Eurokrise sei auch Ausdruck einer tieferen Krise der europäischen Idee und könne nur mit einem gestärkten europäischen Selbstbewusstsein bewältigt werden.  

Andere Redner teilten diese umfassende Interpretation des europäischen Dilemmas. Karine Berger, Abgeordnete der Parti socialiste in der französischen Nationalversammlung, ließ keinen Zweifel an ihrer Überzeugung, dass die Eurokrise nicht nur die gemeinsame Währung, sondern die Integration insgesamt bedrohe. Die EU würde einen Zerfall der Eurozone nicht überstehen, so Berger. José Ignacio Torreblanca vom European Council on Foreign Relations in Madrid bekräftigte, dass der Euro heute unabhängig von seiner wirtschaftlichen Bedeutung eine wichtige Grundlage der europäischen Identität sei, auf die nicht verzichtet werden könne. 

Eine Gleichsetzung des Schicksals von Euro und EU blieb nicht ohne Gegenstimmen. Jacek Kucharczyk, Präsident des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau, wies darauf hin, dass Warnungen vor einem Kollaps der Union schnell zu einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ werden könnten. Aus polnischer Sicht hätte das Scheitern der Währung ohne Zweifel „desaströse“ Folgen, zur europäischen Erfolgsgeschichte gehörten allerdings auch der gemeinsame Markt, die Freizügigkeit für Arbeitnehmer, die Strukturfonds oder die europäische Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik, so Kucharczyk. Polen sehe die Gefahr, dass die Euroländer bei der Rettung der Währung versucht seien, Europa dauerhaft zu teilen und für künftige Mitgliedsländer abzuschotten. Institutionelle Reformen zur Lösung der Krise müssten deshalb alle 27 EU-Mitglieder einbeziehen. 

Quo Vadis Euro?

Grundsätzliche Zweifel am Fortbestand der Eurozone in ihrer heutigen Form wurden nicht nur vom amerikanischen Gast John Kornblum, sondern auch vom renommierten Ökonomen Roger Bootle von der Londoner Beratungsfirma Capital Economics geäußert. Bootle, der vor kurzem für sein Szenario eines Euroausstiegs mit dem Wolfson Economics Prize ausgezeichnet wurde, hielt es für ausgeschlossen, dass die südlichen Länder der Eurozone ihre erheblichen Rückstände in der Wettbewerbsfähigkeit aufholen könnten. Die gegenwärtig praktizierte Deflationspolitik in den Krisenländern sei auf Dauer politisch nicht aufrecht zu erhalten und behindere das Wirtschaftswachstum. Auch die durchaus effektiven Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zielten nur auf die finanziellen, nicht aber auf die wirtschaftlichen und politischen Probleme und griffen deshalb zu kurz, so Bootle. Die Eurozone könne theoretisch ohne Zweifel weiteren Bestand haben, allerdings nur mit einer weitreichenden politischen und Fiskalunion ihrer Mitgliedsländer. Dies sei angesichts des notwendigen Souveränitätstransfers und der immensen Kosten für den Norden politisch kaum durchsetzbar. Bootle prognostizierte deshalb das baldige Ausscheiden der südlichen Krisenländer aus der Eurozone. Deren Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem neuen Euro der Nordländer könnte dann durch die zu erwartende starke Abwertung ihrer nationalen Währungen schlagartig verbessern werden. 

Die ernüchternde Analyse Roger Bootles stieß erwartungsgemäß auf heftigen Widerspruch. Ester Faia, Professorin für Geld und Finanzpolitik an der Goethe Universität in Frankfurt am Main, verwies auf die erheblichen technischen Schwierigkeiten einer Euroausstiegs. Auch die finanziellen und wirtschaftlichen Kosten eines solchen Schritts würden von Bootle erheblich unterschätzt, so Faia. Gerade Deutschland wäre in diesem Fall besonders schwer getroffen. Michaele Schreyer, Vizepräsidentin der Europäischen Bewegung Deutschlands und früheres Mitglied der Europäischen Kommission, sprach von einem „Schreckgespenst“ Bootles und warnte wie Faia vor den „katastrophalen“ Folgen eines Griechenland-Ausstiegs. Bootle hänge mit seiner Bewertung der Wettbewerbsfähigkeit einem „mechanistischen Ökonomieverständnis“ an. Europäische finanzpolitische Maßnahmen wie die Bildung einer Bankenunion sowie umfassende wirtschaftliche Strukturreformen in den Krisenländern würden auch zu neuem Wachstum und Konvergenz in der Eurozone führen. Voraussetzung sei, dass die Politik jegliche Zweifel der Märkte am unbedingten Willen zur Erhaltung des Euros zerstreue, ein Punkt, der neben Michaele Schreyer von vielen anderen Konferenzteilnehmern demonstrativ unterstrichen wurde. 

Austeritätspolitik nicht ohne sozialen Ausgleich

In der Beurteilung der aktuell forcierten Austeritätspolitik erinnerten einige Konferenzgäste daran, dass die europäische Staatsschuldenkrise eine direkte Folge der internationalen Finanz- und Bankenkrise sei, die 2008 mit der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers ihren ersten Höhepunkt erreichte. Der spanische Aktivist Aitor Tinoco i Girona von der Bewegung Democracia Real Ya in Madrid wies darauf hin, dass die immensen Kosten dieses globalen Finanzkollapses systematisch auf Staatshaushalte und innerhalb der Eurozone auf die Länder der südlichen Peripherie umgelegt worden seien. Die gegenwärtig von der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalem Währungsfonds ("EU-Troika") vorangetriebenen „Strukturreformen“ führten diesen Prozess fort, indem sie das deutsche Niedriglohnmodell nach Spanien und andere Krisenländer exportierten. Diese „Schocktherapie“ werde zur massenhaften Prekarisierung der Bürger führen, so Girona.

Moderatorin Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin bei der taz in Berlin, stellte die Frage, ob der politische Fokus auf die Reduzierung von Haushaltsdefiziten zur Krisenbewältigung tatsächlich berechtigt sei. Die hierfür verlangten Opfer in Form von Steuererhöhungen und Lohnkürzungen müssten zumeist von der breiten Bevölkerung erbracht werden, wogegen die eigentlichen Verursacher der Krise sehr viel geringer belastet würden. Darüber hinaus sei zu beobachten, dass die harten Sparauflagen für Griechenland, Spanien und Portugal zu einer Vertiefung der Rezession in diesen Ländern geführt hätten, so Herrmann. Seien Sparpolitik und Fiskalpakt, die in Deutschland ja auch von den Grünen mitgetragen würden, tatsächlich das geeignete Mittel, um Europa aus der Krise zu führen?

Diese keynesianistisch geprägte Kritik an der europäischen Austeritätspolitik wurde weder von Wirtschaftsexperten noch von Politikerinnen geteilt. Viola von Cramon, Mitglied der grünen Bundestagsfraktion, verteidigte den angestrebten Schuldenabbau in den Krisenländern. Sie kritisierte allerdings wie nahezu alle Konferenzteilnehmer, dass die aktuellen Sparauflagen zu einseitig ausgelegt seien, da sie nicht von nachhaltigen Wachstumsimpulsen begleitet würden. Auch die erheblichen sozialen Folgen, die von ihr als „Auswringen der Arbeitsbevölkerung“ umschrieben wurden, müssten viel stärker beachtet werden. 

Michaele Schreyer verteidigte ebenfalls den Sparkurs der europäischen Politik und merkte an, dass die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in allen Mitgliedstaaten reduziert werden müsse. Auch in Deutschland seien deshalb keine „üppigen Ausgabenprogramme“ mehr möglich. Natürlich müssten auf der Gegenseite auch die staatlichen Einnahmen erhöht werden, z.B. durch eine stärkere steuerliche Belastung der vermögenden Bevölkerung oder die von den Grünen geforderte Finanztransaktionssteuer. Die sozialen Folgen der Strukturreformen könnten u.a. durch die konsequente Umsetzung der "Europa 2020"-Wachstumsstrategie der EU-Kommission aufgefangen werden, so Schreyer.

Kein „falsches“ Wachstum mehr

Entgegen der Analyse Roger Bootles waren die meisten Teilnehmenden der Konferenz davon überzeugt, dass die Wirtschaft in Griechenland, Spanien und den anderen Krisenländern ohne Euroaustritt wiederbelebt werden könne. Radek Špicar, Direktor des Aspen Institute in Prag, sprach sich dabei gegen ein schuldenfinanziertes und nicht nachhaltiges Wachstum aus. Dieses Problem betreffe dank der beträchtlichen wirtschaftlichen Interdependenz ganz Europa, wie die schnelle Ausbreitung der Krise von Griechenland aus bestätigt habe. Viele Länder hätten jahrelang zu stark auf die Erhöhung von Lebensstandards und den Ausbau der Sozialsysteme geachtet und dabei stetig an internationaler Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Die nun geforderten Strukturreformen müssten unter dem Leitbild des „small government“ stehen und u.a. darauf abzielen, „konservative Arbeitsmärkte“ flexibler zu gestalten. Nur so könne die Arbeitslosigkeit bekämpft und Investitionen ermöglicht werden, so Špicar. Ganz Europa werde künftig wieder mehr Opferbereitschaft zeigen müssen, um mit Ländern wie den USA und China mithalten zu können. Die aktuelle Sparpolitik müsse allerdings sehr viel genauer auf die spezifischen Umstände in den betroffenen Ländern ausgerichtet werden, um erfolgreich sein zu können. Špicar erinnerte an die Erfahrungen der tschechischen Transformation, deren wirtschaftliche Härten von der Bevölkerung nur getragen worden seien, weil es eine positiv besetzte Zielsetzung gegeben habe. Diese Hoffnung sei heute z.B. in Griechenland nicht zu erkennen.
 
Auch Andreas Krautscheid vom Bundesverband deutscher Banken hielt einseitiges Sparen für falsch, die Regierungen müssten vielmehr einen „schmalen Grat“ zwischen Austerität und Wachstumspolitik beschreiten. Vorrangige Aufgabe der Politik müsse es aber bleiben, das Vertrauen der Märkte in den weiteren Bestand des Euros zu gewinnen, da langfristige private Investitionen in den Krisenländern ansonsten weiter ausblieben.  

Einige Redner widersprachen diesem einseitig wirkenden Fokus auf privaten Investitionen, so auch Kerstin Andreae, stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bei der Generierung von ökologisch nachhaltigem Wachstum müsse Europa eine führende Rolle spielen, etwa durch politischen Druck zur Durchsetzung größerer Energieeffizienz oder durch gezielte Investitionen in ökologische Energiesektoren, wie sie die Grünen in ihrem Konzept zu einem europäischen Green New Deal vorschlagen. Griechenland tätige gegenwärtig z.B. jährliche Ölimporte in Millionenhöhe, die Förderung einer autonomen Energieerzeugung hätte hier neben ökologischen auch handfeste finanzielle Vorteile, so Andreae.  

Griechenland muss seine „Hausaufgaben machen“

Griechenland gilt bis heute als ein zentraler Brennpunkt der Eurokrise. Anna Visvizi vom American College of Greece (DEREE) in Athen, griff die Analyse Radek Špicars auf und machte vor allem den öffentlichen Sektor und einen zu großzügigen Sozialstaat für die griechischen Probleme verantwortlich. Der Privatsektor der Wirtschaft sei bereits heute auch im europäischen Vergleich sehr produktiv, werde allerdings zu oft durch den öffentlichen Dienst ausgebremst. Das Land sei immer noch nicht investitionsfreundlich, die Regierung müsse deshalb weiter ihre „Hausaufgaben machen“. 

George Pagoulatos, Professor für Europäische Politik und Ökonomie an der Athener Universität für Wirtschaft und Business, bestätigte, dass das Land eine erhebliche Mitverantwortung für das Ausmaß der Krise trage. Der seit einiger Zeit verfolgte harte Sparkurs zur Sanierung des Staatshaushalts habe allerdings zu ersten positiven Resultaten geführt, in vielen europäischen Reformranglisten liege Griechenland heute weit vorn. Es seien zudem zahlreiche politisch umstrittene Strukturreformen beschlossen worden. Die durch diese Maßnahmen verschärfte Wirtschaftsrezession könne aber ohne weitere europäische Hilfe in eine Schulden-Deflations-Spirale führen, aus der sich das Land allein kaum befreien könnte, warnte Pagoulatos. 

Viola von Cramon stimmte der Forderung nach weiterer europäischer Unterstützung durch Pagoulatos zu, bestätigte anhand eigener Erfahrungen in Thessaloniki allerdings auch den Vorwurf Visvizis, dass viele der beschlossenen Strukturreformen bisher nur auf dem Papier stünden und nicht umgesetzt seien. Weitere europäische Investitionshilfen würden zudem nur dauerhaft fließen können, wenn deren effektive Nutzung sichergestellt sei. Von Cramon erinnerte in diesem Zusammenhang an frühere negative Erfahrungen bei der Verwendung von Mitteln der EU-Strukturfonds. Auf der anderen Seite müsse die EU dafür sorgen, dass Investitionen vor allem nachhaltiges Wachstum förderten. Dieser Aspekt spiele bisher in den von der EU-Taskforce geförderten Investitionen eine erschreckend geringe Rolle, so von Cramon. Ein Großteil der Gelder fließe immer noch in traditionelle Großprojekte wie den Bau von Autobahnen.

Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen

Die griechischen Probleme werden gerade in Deutschland immer wieder herangezogen, wenn es darum geht, die Eurokrise als Folge der finanzpolitischen Verantwortungslosigkeit der südlichen Mitgliedsländer zu charakterisieren, die jahrzehntelang über ihren Verhältnisse gelebt hätten. Dementsprechend spricht sich heute eine breite Mehrheit gegen die Übernahme von Milliardenkosten zur „Rettung“ der „Eurosünder“ aus. George Pagoulatos warf Deutschland deshalb aus griechischer Sicht zwar nicht mangelnde Solidarität, dafür aber fehlenden Führungswillen vor. Das historische Beispiel anderer Föderationen zeige, dass Deutschland die Rolle einer „wohlwollenden Hegemonialmacht“ spielen müsse, da die EU sonst auseinander brechen könnte. 

Auch Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin, bemängelte das deutsche Verhalten in der Krise. Die Bundesregierung trete heute z.B. in China vorrangig als Vertreterin deutscher Interessen auf. Führungsstärke heiße aber nicht, eigene Ideen und Rezepte durchzusetzen, um „den eigenen Hals zu retten“. Stattdessen müsse Deutschland auf nationaler wie internationaler Ebene eine europäische Perspektive bei der Analyse und Lösung der Probleme entwickeln, so Schwan. Dies treffe umso mehr zu, da die finanziellen Belastungen in der politischen Debatte stark übertrieben würden. Bei den bisherigen Zusagen an die Krisenländer handele es sich überwiegend um Bürgschaften, das heißt, dass bisher kaum tatsächliche Zahlungen erfolgt seien. Gesine Schwan argumentierte, dass diese Belastungen nur realisiert würden, wenn Griechenland tatsächlich aus dem Euro gedrängt würde. Gegenwärtig profitiere Deutschland sogar in direkter Weise von der Krise, da die Bundesregierung bei der Kreditaufnahme am Kapitalmarkt in den Genuss von Negativzinsen komme. Die aktuellen Belastungen würden nicht von den Deutschen, sondern von den vielen Menschen in Griechenland und Spanien getragen, die von Arbeitslosigkeit, Lohn- und Rentenkürzungen betroffen sind, ein Aspekt, der während der Konferenz nicht nur von anderen Rednern, sondern auch vom Publikum immer wieder hervorgehoben wurde.  

Die deutsche Eurodebatte lasse Empathie und Achtung gegenüber anderen Europäern vermissen, so Gesine Schwan. Deutschland müsse schnell von diesem „hohen Ross“ herunterkommen. Auch die Grünen seien an der abwegigen deutschen Wahrnehmung der Eurokrise nicht ganz unschuldig, beklagte Schwan. Die Oppositionsparteien hätten sich dem nationalistisch geprägten Diskurs aus Wahlkampfüberlegungen angeschlossen. Auch Moderatorin Ulrike Herrmann hatte den Eindruck, dass es in Deutschland in der Eurofrage eine breite Parteienkoalition von den Grünen bis hin zur CSU gebe, die gemeinsam einen vermeintlich alternativlosen politischen Kurs durchsetzten. 

Diese Charakterisierung der grünen Europolitik blieb angesichts der Anwesenheit zahlreicher grüner Politikerinnen verständlicherweise nicht ohne Gegenrede. Michaele Schreyer verteidigte die grüne Zustimmung für die deutschen Beschlüsse mit den Zugeständnissen, die der Bundesregierung in „harten Verhandlungen“ abgerungen worden seien. Viola von Cramon erzählte, dass sie aufgrund ihrer Forderung nach einer europäischen Lösung der Krise selbst im eigenen Wahlkreis oft als „europäische Spinnerin“ angesehen werde. Franziska Brantner, Mitglied der grünen Fraktion im Europäischen Parlament, erinnerte schließlich an die zentrale Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der deutschen Europapolitik. Demokratische Grundsatznormen würden vom deutschen Verfassungsgericht immer noch zu national interpretiert, hätten alle Mitgliedstaaten ein solches Gericht, würde die völlige „Blockade“ drohen, so Brantner.  

Viele Rednerinnen und Redner zeigten allerdings auch Verständnis für die verbreitete Sorge, dass die deutschen Belastungen zu einem „Fass ohne Boden“ werden könnten. Geberländer wie Deutschland könnten bei aller Solidarität durchaus erwarten, dass Krisenländer wie Griechenland zu Haushaltsdisziplin, Strukturreformen und nachhaltigen Investitionen bereit seien. 

EU-Reformen: Der „große Wurf“ wird warten müssen

Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung, machte in seinen Bemerkungen zur Eröffnung der Konferenz darauf aufmerksam, dass die Eurokrise die institutionelle Architektur der EU bereits jetzt faktisch – wenn auch „planlos“ – auf „revolutionäre“ Art und Weise verändert habe. Die Europäische Zentralbank habe sich in ihrer Geldpolitik vom vermeintlich ehernen „Bundesbankmodell“ verabschiedet, es gebe zudem erste Mechanismen für eine gegenseitige Schuldenhaftung. Zugleich habe die Krise allerdings auch dafür gesorgt, dass überwunden geglaubte nationale Stereotype und handfeste politische Differenzen zwischen den Mitgliedsländern so sichtbar wie selten zuvor in den Vordergrund gerückt sind, so Fücks.
 
Einen „großen Wurf“ in der föderalen „Staatswerdung“ der EU erwartete angesichts dieser Voraussetzungen kaum einer der Konferenzteilnehmer. Die Publizistin Jacqueline Hénard vom European Council on Foreign Relations in Paris warnte sogar vor zu optimistischer „Institutionenpoesie“ insbesondere deutscher Europadebatten. In Frankreich sei sich die Öffentlichkeit zwar „latent“ der Reformnotwendigkeit bewusst, die Krisendebatte sei allerdings immer noch sehr national geprägt. Ein „postnationales“ Europa werde in Frankreich keine Zustimmung finden, war sich Hénard sicher und wies zur Veranschaulichung ihrer Prognose auf die angekündigte Ablehnung des europäischen Fiskalpakts durch die französischen Grünen hin. Selbst deutsch-französische Europa-Deklarationen sollten deshalb ihrer Ansicht nach mit Vorsicht bewertet werden, da gemeinsam verwendete Begriffe national sehr unterschiedlich interpretiert würden. Dieses Argument Hénards wurde gleich am ersten Tag der Konferenz bestätigt, als sich zwischen Ralf Fücks und der französischen Abgeordneten Karine Berger eine Diskussion über Inhalt und Bedeutung des „Fiskalpakts“ entspann. 

José Ignacio Torreblanca warnte vor überstürzten EU-Reformen, die von enttäuschten Bürgern in den notwendigen Referenden mit Sicherheit abgelehnt würden. Angesichts des offensichtlichen Vertrauensdefizits zwischen den Mitgliedsländern müsse es zunächst einmal darum gehen, das Demokratiedefizit zu überwinden, das sich auch auf nationaler Ebene aufgetan habe. Wählerinnen und Wählern müssten wieder echte politische Alternativen angeboten werden, die nach den Wahlen auch umgesetzt würden. Die EU selbst müsse sich durch das gemeinsame Bewältigen der Krise neu beweisen und so die Idee einer europäischen Gesellschaft wiederbeleben. Ohne den Beweis der europäischen Solidarität, u.a. in Form einer gemeinsamen Haftung für die europäischen Schulden, werde dies nicht gelingen, so Torreblanca.

Bankenunion und Fiskalpakt – Europa soll handlungsfähig bleiben

Erfahrene Politikerinnen und Expertinnen wie Gesine Schwan und Michaele Schreyer teilten die allgemeine Skepsis gegenüber großen Würfen bei der Reform der EU-Verträge. Sie waren allerdings davon überzeugt, dass durch die stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission auch innerhalb der bestehenden europäischen Strukturen viel bewegt werden könne. Die Meldungen der vergangenen Wochen haben den Eindruck vermittelt, dass sich zumindest in der Frage der Bankenregulierung ein neuer europäischer Konsens herausbildet. Künftig soll es nicht mehr möglich sein, dass verantwortungslos spekulierende Finanzinstitute um jeden Preis durch Steuermittel gerettet werden müssen, weil sie zu systemrelevant („too-big-to-fail“) sind. 

Diese Forderung fand auch auf der Konferenz unabhängig sonstiger Differenzen breite Zustimmung. Der Londoner Ökonom Roger Bootle gestand eigene Sympathien gegenüber Bankenkritikern ein, auch wenn Spekulationen auf den Finanzmärkten und exzessive Managergehälter in seinen Augen nicht als Ursache der Eurokrise missverstanden werden sollten. Andreas Krautscheid, der als direkter Vertreter der Branche auftrat, sprach sich ebenfalls dagegen aus, große Banken als vermeintliche Hauptschuldige der Krise zu „bestrafen“. Zum einen müssten oft gerade kleinere Banken staatlich „gerettet“ werden, zum anderen würden finanzstarke Geldinstitute auch künftig für kapitalintensive Investitionen benötigt werden. Trotz dieser Einwände gestand aber auch Krautscheid ein, dass das „too-big-to-fail“-Problem ohne Zweifel gelöst werden müsse. 

Selbst beim sensiblen Thema europäischer Eingriffe in das nationale Haushaltsrecht wurden mögliche Kompromisse angedeutet. Franziska Brantner wies auf die Möglichkeit hin, den europäischen Fiskalpakt mit Hilfe des Instruments der Verstärkten Zusammenarbeit zu verwirklichen, mit dessen Hilfe einzelne Staaten ohne Vertragsänderung bestimmte Integrationsschritte umsetzen können. Kooperationswillige Parlamente könnten dem Europäischen Parlament das Recht zugestehen, nationale Haushalte unter bestimmten Umständen zu annullieren. Konflikte mit europäischen Zielsetzungen könnten bereits im Vorfeld umgangen werden, indem das Europäische Parlament bei der Budgetplanung von Beginn an einbezogen würde. Ohne diese Art von Verzicht auf nationale Souveränität werde es auf Dauer kaum möglich sein, Demokratie und Globalisierung unter einen Hut zu bringen, war sich Brantner mit Hinweis auf das „Globalisierungsparadox“ des türkischen Wirtschaftswissenschaftlers Dani Rodrik sicher.
 


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