Das neue Misstrauen
Seit der Entdeckung der Eurokrise hat die europäische Idee mit mehr und mehr Gegenwind zu kämpfen. Dabei brachen zunächst einige Volkswirtschaften am Rande der EU zusammen. Von der Öffentlichkeit in Westeuropa weitgehend unbeachtet stürzte das Platzen der lettischen Kreditblase vor drei Jahren große Teile der lettischen Bevölkerung in Armut. Ungarn kämpft bis heute mit den wirtschaftlichen und politischen Folgen der vielen Privatschulden in Fremdwährungen. Die europäischen Institutionen wurden erfasst, als die neugewählte griechische Regierung unter Georgios Papandreou im Herbst 2009 einen Kassensturz des Staatshaushalts anordnete. Es zeigte sich, dass die griechische Statistikbehörde über Jahre falsche Daten an die europäische Statistikbehörde Eurostat in Luxemburg übermittelt hat.
Die weiteren Abgründe, die sich in der Folge auftaten sind mehr oder weniger bekannt. Das Misstrauen zwischen griechischen Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Staat sickerte in die europäische Politik. Großinvestor/innen und Rating-Agenturen, begannen, die Mitgliedstaaten der EU genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei hatten sie zur griechischen Misswirtschaft zuvor nicht nur geschwiegen sondern sie forciert und ausgenutzt. Ihr Augenmerk fiel auf die Spekulationsblasen in Irland und Spanien und die lahmenden Volkswirtschaften Portugals und Italiens, wo blauäugige Kreditvergabe zu einer Überschuldung im Privatsektor geführt hatte. Die Regierungen mussten einspringen und mit dem Geld ihrer Steuerzahler den Banken unter die Arme greifen. Seitdem misst sich das Vertrauen in Ehrlichkeit, Steuerdisziplin und Demokratieverständnis verschiedener europäischer Landsleute im Unterschied der Risikoaufschläge ihrer Staatsanleihen zu denen deutscher Staatsanleihen. Die neue innereuropäische Grenze scheint dabei zwischen dem haushaltsdisziplinierten Norden und dem verschuldeten Süden zu verlaufen - und nicht wie einst befürchtet entlang der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West.
Politik in der Endlosschleife
Aber wird der Gegenwind die europäische Einigung zurückdrängen? Tatsächlich dreht sich die europäische Politik seit Krisenbeginn im Kreis. Wir scheinen in einer Endlosschleife fest zu hängen. Entgegen aller Einsicht, dass die Gemeinschaft mit dem Euro nur erfolgreich bestehen kann, wenn wir unsere Wirtschafts- und Währungspolitikpolitik vergemeinschaften. Weil dazu der politische Mut fehlt, werden seit Beginn der Griechenlandkrise nur Maßnahmen beschlossen, die zwar kurzfristig für Linderung sorgen, aber nicht die Ursachen der Krise bekämpfen. Zu wenig, zu spät, zu einseitig! So ist die Kritik am europäischen Vorgehen gegen die Krise oft und zu Recht formuliert worden.
Die europäischen Regierungen zögern aus verschiedenen Gründen, bis die Umsetzung des jeweils aktuellen Vorschlags nur noch kurzfristige Besserung verspricht. Ein europäischer Krisengipfel beschließt die Maßnahme. Kurz darauf stufen eine oder mehrere Rating-Agenturen, die Kreditwürdigkeit eines oder mehrerer Schuldenländer erneut herab. Im krassesten Fall werden sich Kommentatorinnen und Kommentatoren schon zum Ende des Gipfels einig, dass die Beschlüsse ihre Wirkung verfehlen werden. Der Markt gibt ihnen Recht - und es beginnt von vorne. Die Beispiele hierfür sind zahlreich: Angela Merkels Verzögerungstaktik der ersten Griechenlandhilfen während des Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen, der griechische Schuldenschnitt, die Ausstattung und Kompetenzen der EFSF, schließlich der Fiskalpakt und die aktuelle Erhöhung der Garantiesumme des ESM, in der das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen ist.
Drei wichtige Einsichten
Damit wir der Endlosschleife entkommen können, müssen die Verantwortlichen zunächst zugeben, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend und teilweise falsch gewesen sind. Das wiederholte Eingreifen der Europäischen Zentralbank, um die Risikoaufschläge in einigen Ländern zu drücken, macht deutlich, dass wir immer noch tief in der Krise stecken. Mit sehr viel Geld wurden Anleihen auf dem Sekundärmarkt gekauft, oder europäische Banken für den Moment stabil gespritzt. Die Zeit, die die EZB damit für die Europäische Politik gekauft hat, wurde allein mit dem Fiskalpakt verspielt.
Die nächste Einsicht muss sein, dass allein dieser Fiskalpakt und die einseitigen Sparprogramme der Regierungen nicht aus der Krise helfen. Sie helfen nicht den Bürgern, deren Leben durcheinander gebracht werden, um die sprichwörtlichen Märkte in Ordnung zu bringen. Aber selbst den Märkten ist mit den Sparprogrammen nicht geholfen. Je weniger die Regierungen in den Schuldenländern ausgeben, desto schwächer wird die Binnennachfrage, desto weniger wird investiert, desto weniger Menschen finden Arbeit, desto höher werden die staatlichen Sozialausgaben und desto geringer werden die Steuereinnahmen. So wird es weniger wahrscheinlich, dass die Schuldenländer ihre Schulden bedienen können und die Staatsanleihen dieser Länder werden immer riskantere Anleihen.
Ob es einen zweiten gnädigen Schuldenschnitt wie im Fall Griechenlands geben wird, ist unwahrscheinlich. Gleichzeitig werden auch Investitionen in die Privatwirtschaft riskanter. Noch nicht einmal den Regierungen ist damit geholfen, das letzte aus den Sozialschwachen in ihren Ländern herauszuquetschen, um ihre Schulden kurzfristig bedienen zu können. Der Politikverdruss ist in Europa kaum noch zu übersehen und nimmt erschreckende Züge an. Von Finnland, wo Rechtspopulisten ihren Stimmenanteil in den letzten Parlamentswahlen vervierfachen konnten, über Frankreich, wo die Sympathien für den Front National ungeahnte Ausmaße annehmen, und Griechenland, wo die etablierten Parteien ein Schatten ihrer selbst sind. Da ist es schon beinahe ein Glücksfall, dass der Aufstieg der Piratenpartei in Deutschland nicht einem europafeindlichem Programm geschuldet ist, sondern keinem.
Ein Zeichen der Einsicht ist, dass seit einem Monat ein Vorschlag der Europäischen Kommission vorliegt, um gemeinsam gegen Rezession und Arbeitslosigkeit vorzugehen. Die Europäische Union stand lange nicht nur für die Aussicht auf Freiheit und Demokratie, sondern auch für das Versprechen auf besseres Leben. Dieses Versprechen muss endlich von allen ernst genommen werden. Deshalb unterstütze ich, dass der neue französische Präsident François Hollande die Fehler der einseitigen Sparprogramme korrigieren will. Wir Grüne müssen die Europäische Kommission und den Rat in der Wachstumsauseinandersetzung in Richtung Nachhaltigkeit zwingen. Verbal spielen die Ideen des Green New Deal in Brüssel eine große Rolle. Aber wenn Entscheidungen getroffen werden, dann folgen sie überwiegend der alten Wachstumslogik.
Mit dem Machtwechsel in Frankreich wird hoffentlich auch das demokratische Defizit des Fiskalpakts angegangen. Aber wenn die europäische Krisenpolitik sich derzeit im Kreis dreht, hat das auch und immer noch mit den Erfahrungen der Referenden in den Niederlanden und Frankreich zu tun. Die europäischen Regierungen versuchen, das Mögliche aus den bestehenden Verträgen herauszukitzeln, ohne sie ihren Wählerinnen und Wählern zur Abstimmung unterbreiten zu müssen. Denn das müssten sie, sobald sie der EU mehr Kompetenzen zuschreiben. Aber anstatt eine ehrliche Debatte zu eröffnen, in der es darum geht, wie die Verträge erweitert werden müssen, schummeln sie sich von einem zwischenstaatlichen Vertrag zum nächsten. So verkennen sie jedoch, dass der Kern der Krise ein Vertrauensproblem ist, zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in Europa und zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Regierungen. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen wird entscheidend für die weitere Entwicklung der Europäischen Union.
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Rebecca Harms ist Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament.
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