„Nur mit Hilfe einer starken Zivilgesellschaft können wir den Integrationsprozess vorantreiben“

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Gökçe Yurdakul

Interview mit Gökçe Yurdakul

5. Juni 2009
Gökçe Yurdakul studierte Soziologie an der Bogazici University sowie Gender & Women’s Studies an der Middle East Technical University in der Türkei. Ihren PhD. erwarb sie an der Universität von Toronto an der soziologischen Fakultät, wo sie ein Connaught-Stipendium erhalten hatte. Zuletzt gab Yurdakul am Trinity College Dublin und an der Brock University in St. Catharines in Kanada Kurse zu den Themen Rasse, Staatsbürgerschaft, Gender und Immigration. Im Anschluss an die Promotion schloss sie sich dem Berlin Program for Advanced German and European Studies der Freien Universität Berlin an. Neben Publikationen von Büchern und Artikeln zu den Themen Immigrantenintegration, der Islamischen Nationalität in Europa sowie den Angelegenheiten muslimischer Frauen in Westeuropa und Nordamerika arbeitete Yurdakul auch an Verfahrensberichten für das Canadian Council of Muslim Women und das United Nations Research Institute for Social Development.

Als Soziologin setzen Sie sich vorrangig mit der Integration von ImmigrantInnen, islamischer Nationalität in Europa sowie der Rolle muslimischer Frauen in Westeuropa auseinander. Was erhoffen Sie sich als türkischstämmige Wissenschaftlerin von der Konferenz „Religion Revisited –Frauenrechte und die politische Instrumentalisierung von Religion“ der Heinrich-Böll-Stiftung?

Die Konferenz ist eine gute Chance für Frauen, auch auf globalem Level ein kommunikatives Netzwerk zu bilden. Wir können von einander lernen, wie wir uns gegenseitig unterstützen.

Besonders seit dem 11. September findet eine hitzige Debatte über die Rolle von Frauen in der Religion statt. Es ist aber wichtig, dass wir die Position der Frauen aus einem kritischen Blickwinkel betrachten und uns endlich auch mit Themen wie "Ehrenmorden" und häuslicher Gewalt beschäftigen, welche lange Zeit vernachlässigt worden sind.

Gerade durch die aktuellen Debatten zur Kopftuchproblematik, aber auch zu Integrationsproblemen wie Sprach- und Religionsbarrieren sind die Themen Gender und Integration in einer so multikulturellen Stadt wie Berlin bis heute aktuell. Im Rahmen der Konferenz eröffnen Sie eine der fünf Arbeitsgruppen mit dem Thema «Multiculturalism and Muslim Immigrant Women’s Rights and Choices in Western Europe». Inwieweit bieten sich muslimischen Frauen Chancen der Integration und was können sie aktiv tun, um ihre Religion frei zu leben?

Ich bin dagegen, muslimische Frauen nur als Opfer ihrer Gesellschaft zu sehen. Nicht alle muslimischen Frauen und Gesellschaften sind gleich. Wir sprechen hier von anderthalb Milliarden gläubigen Muslimen, die unterschiedliche Auslegungen des Islam leben. So ist beispielsweise der Islam, der in Mali gelebt wird, sehr unterschiedlich zu den Praktiken in Bangladesh, der Türkei oder auch Berlin. Die iranische Wissenschaftlerin Homa Hoodfar beispielweise stellt in ihrer Forschungsarbeit fest, dass muslimische Frauen auch kontextuelle Haltungen gegenüber Themen wie der Kopftuchproblematik und den Beziehungen zu ihren Familien an den Tag legen. Von Person zu Person, Religion zu Religion und Familie zu Familie gibt es Unterschiede.

Ich glaube an die Macht der Zivilgesellschaft. Meine Forschungsergebnisse in verschiedenen westeuropäischen Ländern sowie Kanada machen deutlich, dass es hilft, wenn Frauen sich zusammenschließen und eine politische Lobby bilden, um ihre Stimme geltend zu machen. Ich habe 2007 als Beraterin für das Canadian Council of Muslim Women gearbeitet, das sich gegen das Schiedsspruchverfahren der Scharia in Ontario einsetzt – nur auf diese Art und Weise kann die Zivilgesellschaft Einfluss ausüben.

Leider ist die Kommunikation zwischen den verschieden gesellschaftspolitischen Organisationen in Deutschland noch immer ineffizient. Eigentlich müsste eine Finanzierung ermöglicht, Kongresse und Konferenzen organisiert werden, um interessierte Frauen regelmäßig zusammenzubringen. Außerdem sollten Immigrantenorganisationen, die Zuschüsse von Stiftungen oder Regierungen erhalten, einen Teil ihrer Gelder für Frauenthemen verwenden und auch mit Frauenorganisationen in Verbindung treten.

Nicht nur mit Blick auf ihre Chancen, sondern auch hinsichtlich ihrer Rechte besteht bei muslimischen Frauen mit Migrationshintergrund Aufklärungsbedarf. Die patriarchalischen Familienstrukturen erschweren gezielte Informations- und Bildungsangebote. Worin bestehen die Hauptprobleme, die dazu führen, dass insbesondere muslimische Frauen, aber auch nicht-christliche Frauen anderer Religionen von ihren Grundrechten in einem Staat wie der Bundesrepublik Deutschland nicht Gebrauch machen?

Viele Frauen wollen ihre Traditionen aufrecht erhalten, um die soziale Kohäsion innerhalb der Gruppe nicht zu verlieren. Wir müssen also stellen, dass muslimische Frauen Informationsangebote erhalten, in denen sie gezielt über ihre Probleme sprechen können.

Integration ist ein zweigleisiger Weg. Manche deutschen Institutionen haben es bis heute versäumt, ImmigrantInnen rechtzeitig zu integrieren. Momentan bin ich etwa die einzige türkische Professorin am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität, obwohl es in Deutschland mehr als zweieinhalb Millionen MigrantInnen türkischer Herkunft gibt.

Es gibt Frauen, die resignieren: Sie wollen uns nicht in ihren Institutionen, warum sollte ich studieren? Wir müssen sie überzeugen. Natürlich können sie Professorinnen, Politikerinnen, Anwältinnen werden. Es ist wichtig, dass es mindestens zehn starke - und in diesem Fall weibliche - Vorbilder aus Immigrantengesellschaften gibt, die zentrale Positionen in deutschen Institutionen inne haben, etwa in Politik, Forschung oder Wissenschaft. Solche Vorbilder können einen echten Motivationsschub auslösen.

Nur in sehr wenigen Ländern besteht eine klare Trennung zwischen Kirche und Staat, Politik und Zivilgesellschaft. Auch spielen jahrhundertealte Traditionen noch immer eine große Rolle. Die sogenannten „Ehrenmorde“ ereignen sich nicht nur in der Türkei, sondern auch bei uns in Deutschland. Verhält sich eine Frau entgegen der geltenden Konventionen, kommt es immer wieder zu blutigen Racheaktionen der beteiligten Familien. Sie haben zur aktuellen „Ehrenmord“- Debatte publiziert – in welchen Ausmaß ist diese Tradition noch heute in der Türkei verbreitet und wie wird in den westlichen Gesellschaften mit diesem Thema umgegangen?

Sogenannte "Ehrenmorde" kommen in der Türkei noch immer vor: in der östlichen Türkei, aber auch am Schwarzen Meer und in anderen urbanen Zentren. Doch bei den Fällen in Deutschland ist der Blick auf den transnationalen Rahmen von Bedeutung.

Als Hatun Sürücü 2005 von ihren Brüdern in Deutschland ermordet wurde, flohen ihre Brüder in die Türkei -wir müssen uns also mit diesen transnationalen Aspekten auseinandersetzen. Immerhin reden die Menschen mittlerweile mehr über diese Fälle und sind informierter. Ich finde es wichtig, dass es Organisationen wie terre des femmes oder Papatya e.V. gibt, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen - sie sollten unterstützt werden.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus Großbritannien. Laut amnesty international besagt die "kein-Rückgriff-auf-Staatsmittel-Regel", dass eine Frau - auch wenn sie mit einem britischen Staatsbürger verheiratet ist - kein Anrecht auf Unterstützung des Staates hat, Wohngeld und Einkommensunterstützung eingeschlossen. Aber das sind die Hilfen, die eine Frau beanspruchen müsste, wenn sie einen Zufluchtsort bekommen möchte, um vor der Gewalt zu fliehen.

Auf der anderen Seite will die Regierung diese Frauen unterstützen und Zwangsheiraten stoppen, aber trotzdem ändert sich nichts, weil keine Hilfe aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung steht. Im Falle eines Missbrauchs lassen wir sie auf der Straße sitzen. Das ist es, was ich nicht nachvollziehen kann. Wenn ein Polizeibeamter in Großbritannien am Flughafen feststellt, dass eine Frau aufgrund einer Zwangsheirat außer Landes gebracht werden soll, kann er sie auf dem Flughafen festhalten. Obwohl diese Handlung ein Angriff auf das Recht der Reisefreiheit ist. Aber danach braucht diese Person unmittelbare Hilfe, die noch nicht gegeben ist. Deswegen bin ich sehr skeptisch gegenüber der Regierung, was die Verabschiedung der Gesetze zur Immigration anbelangt.

Genau aus diesem Grunde bin ich so froh, dass wir die Möglichkeit haben, mit unserer Arbeit zu zeigen, wie verschiedene Länder mit dem Thema Gewalt gegen Frauen umgehen, aber auch aufzeigen, wie diese Themen in manchen Fällen von der Regierung instrumentalisiert werden, um zu zeigen, dass Religion für diese Vorfälle verantwortlich ist. Ich kann nur noch einmal versichern, dass einfach mehr effiziente und direkte Hilfe verfügbar sein müsste.



Die letzte Publikation Gökçe Yurdakuls erschien im Februar 2009:
Korteweg, Anna; Yurdakul, Gökçe (2009): Islam, gender, and immigrant integration: boundary drawing in discourses on honour killing in the Netherlands and Germany. Ethnic and Racial Studies, 32(2): 218-232.

 

Die Fragen stellte Sina Tegeler, Heinrich-Böll-Stiftung