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Gefährliche Verbindungen: Gewalt, Drogen und Staat in Rio de Janeiro

Rio de Janeiro: Hubschrauber der Militärpolizei im Einsatz. Foto: Daniel Garcia Neto, Lizenz: CC BY 2.0.

13. März 2012
Dawid Danilo Bartelt

Der folgende Artikel ist erschienen in:
Anne Huffschmid, Wolf-Dieter Vogel, Nana Heidhues, Michael Krämer, Christiane Schulte (Hg.) "NarcoZones - Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika", Verlag Assoziation A, Berlin März 2012, 272 Seiten, ISBN 978-3-86241-414-7.



Am Vormittag des 13. November 2011, als alles vorbei war, präsentierte die Polizei stolz 13 Sturmgewehre Kaliber 762, zwei Gewehre AR 15 sowie drei Granaten, dazu 120 Kilogramm Marihuana und 60 Kilogramm Kokapaste. Ein Gewehr wies auf Kolben und Magazin ein Playboyhäschen sowie die Buchstaben ADA auf. Wieder einmal konnte man sich die Augen reiben. Immer wieder hatte die Polizei in Rio de Janeiro Favelas ohne Vorankündigung mit Panzerwagen und um sich schießend gestürmt, um Drogenhändler dingfest zu machen oder – vielfach bevorzugt – außergerichtlich hinzurichten. Die Schießereien mit den bestens bewaffneten Drogenhändlern zogen sich gelegentlich über Tage hin. Oft kamen Unbeteiligte durch Querschläger ums Leben, darunter viele Kinder. Manche traf es, obwohl sie sich unter ihr Bett geflüchtet hatten.

Nun aber hatte die Einheit für Spezielle Operationen der Militärpolizei BOPE über die Medien verbreiten lassen, wann und wo genau sie die Rocinha, die größte Favela Brasiliens, und die benachbarten Favelas Vidigal und Chácara do Céu stürmen würde. Und dann stürmte sie, nahm die Hügel ohne Widerstand und konnte oben stolz die brasilianische Flagge hissen. Wie schon oft zuvor erhielt die Polizei Unterstützung von Soldaten der Bundesarmee. Fast genau drei Jahre nach der Premiere in der Favela Santa Marta wurde in Rocinha und Vidigal die 19. Unidad de Polícia Pacificadora (UPP, Befriedungseinheit der Polizei) installiert. Nach deren »Eroberung«, werden mitten in den Favelas Polizeiwachen errichtet und mit speziell trainierten, zumeist aus jungen Absolventen der Polizeischule bestehenden Sondereinheiten der Militärpolizei, dauerhaft besetzt.

Die Rocinha liegt oberhalb der Nobelstadtteile São Conrado und Gávea. Mit wohl 100.000 Einwohnern ist sie einer der lukrativsten Drogenumschlagplätze, was nicht zuletzt an der besserverdienenden Nachbarschaft liegt. Die Drogenhändler der Fraktion Amigos dos Amigos (ADA, Freunde der Freunde) hatten 2006 nach blutigen Kämpfen gegen die Drogenhändler des Comando Vermelho (Rotes Kommando) die Kontrolle über die Rocinha übernommen. Nun sind sie weg. Viele ihrer Waren und Waffen hatten sie nicht mitnehmen können; die Polizei fand in den Folgetagen Dutzende weitere Gewehre, zwei Granatwerfer und sogar zwei Panzerabwehrraketen, eine Marihuana-Presse und große Mengen von Verpackungsmaterial zur Verfertigung von Kokainpäckchen für die Endverbraucher.

Zwei Tage vor der Eroberung konnte die Polizei Antônio Bonfim Lopes, genannt »Nem«, festnehmen, als er versuchte, im Kofferraum eines Autos zu entkommen. Nem gilt als Chef der Rocinha. Die beiden Polizisten, die ihn festnahmen, widerstanden Zeitungen zufolge dem Angebot, ihn gegen etwa 400.000 Euro laufen zu lassen. Auch fünf Geschäftskollegen von Nem wurden in ihren Autos verhaftet. Sie hatten besondere Fluchthelfer: vier Polizisten und einen Ex-Polizisten. Wie andere Geschäftsführer des Drogenhandels gehörte es zu Nems Gebaren, Polizisten der Militärpolizei und der (angeblich nicht so korrupten) Zivilpolizei durch regelmäßige Geldzahlungen einzubinden. Er gab nach seiner Festnahme an, etwa die Hälfte seiner – auf etwa 3,5 Millionen Euro monatlich geschätzten – Einnahmen für Zahlungen an Polizisten aufzuwenden.

Das Organisierte an der Drogenkriminalität ist, wenn überhaupt, nicht die Struktur der Gruppen, die sich Freunde der Freunde oder Rotes Kommando nennen, sondern die Art wie Teile der Polizei und Justiz aller Hierarchieebenen in diesem Komplex die Hebel bedienen. Der frühere Landes- und Bundesminister für öffentliche Sicherheit Luiz Eduardo Soares wird nicht müde zu betonen, dass der Drogenhandel nur funktionieren kann, weil formelle Sektoren der Wirtschaft und Teile der Politik sowie der Justiz mit dem Drogenhandel verbunden sind. Er formuliert damit einen common sense in der kritischen Gewaltforschung Brasiliens.

Drogenhandel, Polizei und politische Eliten stehen in »gefährlichen Verbindungen«, wie Michel Misse, Soziologe der Bundesuniversität Rio de Janeiro und einer der anerkanntesten Experten für die Politik der öffentlichen Sicherheit, das nennt. Wirtschaftsbeziehungen der besonderen Art, in denen Korruption die Währung ist und in welcher der Drogenhandel die anderen beiden Gruppen für »politische Güter« bezahlt: Für Hilfe bei der Beschaffung der Drogen, Verkauf von Waffen aus Polizei- und Armeebeständen, Verzicht auf effektive Unterbindung des Drogenhandels an den bekannten Verkaufsstellen, Unterstützung bei Geldwäsche, Tötung von rivalisierenden Bandenführern, das Ebnen von Zugängen in die formelle Ökonomie und anwaltliche Dienstleistungen zahlen die Drogenchefs Geld – viel Geld. Wie die Zeitung Folha de São Paulo am 9. Dezember 2011 berichtete, haben Angehörige der Antidrogenpolizei in São Paulo von internationalen Drogenhändlern umgerechnet rund 1,25 Millionen Euro dafür erpresst, dass sie sie nicht der Justiz übergeben. Die Drogenchefs bezahlen auch, indem sie Politikern Wählerstimmen zuführen. Innerhalb der Favela etablieren die Kommandos Klientelbeziehungen zu den Bewohnern. Sie tauschen »Sicherheitsgarantien« sowie einzelne »Sozialleistungen« gegen Schweigen und die Duldung einer permanenten und im körperlichen Sinne existenziellen Unsicherheit und Willkür.

Dass der Drogenhandel in Brasilien und vor allem in Rio de Janeiro so vielen Menschen das Leben kostet – und zwar nicht durch den Konsum der Drogen –, hat mit seiner verschärften Territorialität zu tun. Damit ist die Kennzeichnung, Aneignung und Kontrolle eines Raumes mittels Machtbeziehungen, physischer wie symbolisch-diskursiver Art gemeint. Das wichtigste Territorium ist die Favela. Eine Favela ist ja zunächst nichts anderes als ein vom Sozialstaat ignorierter, aber von der staatlichen Repression besonders betroffener Stadtbezirk mit zwischen absoluter Armut und unterer Mittelklasse sozial differenzierter Bevölkerungsstruktur und einer Mehrheit von working poor, die hart arbeiten und mit ihren Familien ein möglichst »normales Leben« führen wollen.

Als Territorium beziehungsweise Territorialität durchziehen die Favela Strukturen der Exklusion und Inklusion: Ausgeschlossen ist eine Favela etwa von staatlichen Leistungen, wie sie in einem Mittelschichtsviertel ein paar Meter weiter unten »auf dem Asphalt« sind (Müllabfuhr, Kanalisation, Gesundheitssystem, Sicherheitstruktur) sowie von einer an Rechten orientierten Behandlung durch Staatsvertreter. Eingeschlossen ist sie in die informelle, aber immer mehr auch in die formelle Ökonomie sowie in ein gewaltförmiges Beziehungsgeflecht zwischen gesellschaftlichen, staatlichen wie nichtstaatlichen Funktionsgruppen, die legale und illegale Güter einschließlich »politischer Güter« untereinander handeln. Dieses Geflecht konzentriert sich auf kleinem Raum und schafft dadurch eine politisch-symbolische Dichte. Diese Dichte liefert unter anderem einem öffentlichen, vor allem medialen, Diskurs fortlaufend Nahrung, der hochmoralisch operiert und die Favela als solche innerhalb eines binären Gut-Böse-Schemas verortet. Nirgendwo sonst in Brasilien ist der Drogenhandel so territorial gebunden und zugleich so exponiert wie in Rios Favelas. Die Kosten dafür, vor allem die an Menschenleben, sind ständig gestiegen.

Der Drogenhandel in der Rocinha und in anderen Teilen der Stadt wird weitergehen. Aber er wird eine andere Form von Territorialität annehmen. Es zeichnet sich etwas ab, das man als »zwangsweise Modernisierung« bezeichnen könnte.


Kleiner Blick in die Geschichte der Gewaltökonomie Rios

Gesellschaftskritische Romane aus den 1920er Jahren wie Théo-Filhos »Ipanema« legen Zeugnis ab, dass der Konsum von Rauschgift wie Opium und Kokain eine mindestens hundertjährige Geschichte hat – in der Ober- und Mittelschicht Rio de Janeiros. Die schädlichen Folgen des Marihuanakonsums hatten bereits 1915 einen Arzt in Bahia im Nordosten Brasiliens beschäftigt, dem bis heute wichtigsten Anbaugebiet dieser Pflanze. Sofern sie es sich leisten konnten, rauchten die Armen in den Favelas Marihuana, wie es seit den 1940er Jahren belegt ist, als der Konsum strafbar und in den Polizeiakten verzeichnet wurde.

Ende der 1960er Jahre nahm die Verfolgung von Drogenkonsum und Drogenhandel drastisch zu. Neue Gesetze erweiterten Straftatbestände und erhöhten das Strafmaß, insbesondere für den Handel. Die »rebellische« universitäre Jugend entdeckte das Marihuana für sich. Auch der Kokainkonsum stieg. Verschiedene Autoren weisen darauf hin, dass sich innerhalb der Leitdoktrin der »nationalen Sicherheit« der Status des »inneren Feindes« vom Linksaktivisten auf den Drogenhändler übertrug. Während der Militärdiktatur (1964-1985) verfestigte die Militärpolizei ihre repressive Ausbildung und Identität, die sie vor allem während der Vargas-Diktatur (1930-1945) angenommen hatte.

Folter und außergerichtliche Hinrichtungen gehören seitdem zu ihrem standardmäßigen Arsenal. Ganz besonders im Bundesstaat Rio de Janeiro: Nach offiziellen Angaben erschoss die Polizei hier seit 2002 im Durchschnitt etwa 1.000 Zivilisten im Jahr, also im Schnitt drei am Tag, wegen »Widerstands gegen die Staatsgewalt«. Nur ein Bruchteil dieser Tötungen wird überhaupt von der Staatsanwaltschaft untersucht. Menschenrechtsorganisationen haben nachgewiesen, dass ein erheblicher Teil dieser Fälle tatsächlich außergerichtliche Hinrichtungen Unbewaffneter sind. All diese Tötungen bleiben praktisch straffrei.

Das Drogenbekämpfungsgesetz von 1976, das 30 Jahre Bestand haben sollte, definierte Drogenhandel sehr vage und unterließ es, verbotene Substanzen und Mengen genauer zu bestimmen. Gleichzeitig übertrug es Polizei und Justiz weitreichende Befugnisse. Das gab der Polizei alle Freiheit, mit Dealern etwa den Preis für eine Nichtfestnahme auszuhandeln. Die Gewaltdynamik der Drogenökonomie hängt nicht zuletzt davon ab, welche Formen der finanziellen Beteiligung – Entführung von Anführern oder Familienangehörigen und Lösegeldforderung, monatliche Schutzgeldverträge, Erlöse durch illegalen Waffenhandel, Honorar für Auftragsüberfälle auf Territorien rivalisierenden Gruppen oder Auslieferung von Anführern derselben – die Polizei jeweils favorisiert.

Wie sich ein illegaler Markt mit Hilfe staatlicher Strukturen zu einem ökonomisch wie politisch profitablen Komplex entwickelt, wurde in Rio de Janeiro seit den 1940er Jahren mit dem jogo de bicho, dem beliebten Lotteriespiel mit den Tierbildchen, vorgemacht. Die Chefs der Lotterie teilten die Stadtbezirke unter sich auf, rekrutierten Laufboten zur Nachrichtenübermittlung zwischen Chefs, Geschäftsführern und den Annahmestellen sowie Späher, die die Polizei auskundschafteten. Damit boten sie ehemaligen Strafgefangenen sowie Kindern und Jugendlichen Verdienstmöglichkeiten. Gewaltsame Auseinandersetzungen um die Kontrolle von Territorien endeten in einem Generalabkommen zwischen den »Bankiers« des jogo de bicho in Rio de Janeiro und anderen Bundesstaaten Ende der 1970er Jahre. Das jogo do bicho konnte sich danach sowohl in die formelle Wirtschaft als auch in die Politik ausdehnen. Während regelmäßige Zuwendungen die Augen des Gesetzes auf der Straße geschlossen hielten, kauften sich die Bankiers in Hotels und Baufirmen ein, wurden zu unverzichtbaren Geldgebern der großen Sambaschulen und gewannen dank ihres Einflusses in den bevölkerungsreichen Bezirken Mandate als Stadt- und Landtagsabgeordnete. Zu seiner Hochzeit war der jogo de bicho die bisher einzige Form wirklich organisierter Kriminalität in Brasilien.

Diese Beschreibung zeigt, dass die Trennung zwischen formeller und informeller Ökonomie hier wenig sinnvoll ist. Vielmehr gibt es legale und illegale beziehungsweise illegalisierte Wirtschaftsweisen und unterschiedliche Formen und Grade ihrer Strafverfolgung (oder auch des illegalen Verhaltens auf den legalen Märkten). Straßenhandel mit Gemüse, Piraterieware oder kleinen Drogenmengen, Prostitution, Handwerksdienstleistungen, Glücksspiel können je nach Gesetzeslage, repressiver Praxis, erfolgreichem Austausch von Gefälligkeiten beziehungsweise Schweigegeldern und Akzeptanz bei der Kundschaft formeller oder informeller, legaler oder illegaler, verfolgt oder geduldet sein. Drogenhandel ist in brasilianischen Großstädten ein wesentliches Segment der informellen Ökonomie, bei der die Kennzeichnung »illegal« weder die Funktionsweise noch die gesellschaftlichen Effekte verständlich macht.

Die Gewaltökonomie basiert auf ungleichen Klientelbeziehungen, wie sie die brasilianische Gesellschaft seit Jahrhunderten prägen. Immer schon sah sich die arme Bevölkerung an die ökonomisch-politischen Machthaber gebunden und ihnen untergeordnet. Privat-persönliche Normen und Verfügungen prägten auch die eigentlich öffentlich zu regelnden Räume – etwa Justiz und politische Wahlen. (Vgl. dazu und zur Gewaltförmigkeit der illegalisierten Ökonomie Brasiliens Regine Schönenberg: Gewalt, Kriminalität und Drogenhandel, in: Sergio Costa et al. (Hg.): Brasilien heute, Frankfurt: Vervuert 2010, S. 265-281.) Diese Gesellschaft, die der Sklaverei erst Ende des 19. Jahrhunderts und eher widerwillig entsagte, lehrte die Polizei, Favela mit Faulheit und Verbrechen gleichzusetzen und ihre Bewohner nicht als Staatsbürger, sondern als Störer zu betrachten. Durch ihre Aktionen hat die Polizei diese Sicht der Gesellschaft immer wieder bestätigt. Diese sichert ihr wiederum bis heute zu, sich hierfür nicht verantworten zu müssen. Es ist immer noch kein Skandal, sondern nur die Summe kleiner Zeitungsmeldungen, dass diese Polizei ungesühnt jeden Tag drei Menschen tötet.

Das Muster lag also bereit, als in den 1980er Jahren der Drogenhandel die soziale Landschaft Rio de Janeiros veränderte. Während der Militärdiktatur hatten politische Gefangene und Kriminelle als gemeinsame »Feinde der nationalen Sicherheit« in Hochsicherheitsgefängnissen wie der Ilha Grande vor der südlichen Küste Rio de Janeiros eingesessen. Eine verbreitete Erzählung besagt, dass sie dabei einen intensiven Austausch pflegten, bei dem sich die kriminellen Insassen bei den politischen Gefangenen Organisationsformen, Guerillataktiken sowie eine Ethik des Zusammenhalts abschauten. Inwieweit dies der Realität entsprach, ist unter Wissenschaftlern umstritten. Unumstritten ist allerdings, dass die Falange LSN 1979 in Ilha Grande rivalisierende Bandenführer umbrachte und die Macht im Gefängnis übernahm.

Als Comando Vermelho (CV, Rotes Kommando), errang die Gruppe schnell die Kontrolle über alle Gefängnisse Rio de Janeiros. Sie setzte einen unmissverständlichen Kodex in Kraft. Er verbot bei Todesstrafe Gewalt und Diebstahl unter den Gefangenen. Außerhalb der Gefängnisse galt, dass die kontrollierten Territorien zu respektieren seien. Neumitglieder erhielten Gründungskredite, die Familienangehörigen der Gefangenen finanzielle Unterstützung. Verrat an der Gruppe, etwa durch Zusammenarbeit mit der Polizei, wurde streng bestraft. Anfänglich erzielte das CV seine Einnahmen, indem es Banken und Apartments ausraubte und mit gestohlenen Autos handelte. Doch in den 1980er Jahren erwies sich der Handel mit Kokain als lukrativer und zukunftsträchtiger. Vom Gefängnis aus baute das Kommando in den Favelas den Drogenhandel auf. 1985 kontrollierte das CV 70 Prozent der Favelas in Rio.

Mit dem Ende der Militärdiktatur im selben Jahr öffnete sich Brasilien auch ökonomisch. Der Warenverkehr weitete sich grenzüberschreitend aus, die Sicherung der Außengrenzen gehorchte nicht mehr der Paranoia der nationalen Sicherheit. Der Staat wurde aus der Wirtschaft zurückgedrängt, der Markt liberalisiert und dereguliert. Dies erhöhte den Zustrom von Kokain aus den Produktionszentren in Kolumbien, Bolivien und Peru.


Organisierte Kriminalität?

Weder das Comando Vermelho noch später entstehende Konkurrenzformationen wie Terceiro Comando (TC, Drittes Kommando) oder die eingangs genannten »Freunde der Freunde« sind der italienischen Mafia oder den kolumbianischen Drogenkartellen vergleichbare kriminelle Organisationen. Nicht wenige Spezialisten lehnen daher den Begriff der Organisierten Kriminalität für den brasilianischen Drogenhandel ab, da er klare Hierarchien und Strukturen impliziere, die bei diesen Verbänden nicht vorhanden seien. »Die Fraktionen wie CV, ADA oder PCC sind eher ›Marken der Angst‹ als Ausdruck organisierter Kriminalität«, argumentiert der Landtagsabgeordnete von Rio de Janeiro und Spezialist für Städtische Kriminalität Marcelo Freixo im Interview: »Sie sind im Endverkauf tätig, nicht im internationalen Handel; sie sind fragmentiert, desorganisiert und nicht einmal in ihren Territorien wirklich allbeherrschend.« Der CV ist dem US-amerikanischen Kulturanthropologen Ben Penglase zufolge »am besten beschrieben als lose Verbindung von Drogenhändlern, die sich zwecks gegenseitiger Unterstützung zusammentun, dabei aber mit großer Selbständigkeit handeln. Er kann so gedacht werden, wie ihn Mitglieder und Favelabewohner auch oft beschreiben, als ein ›Banner‹, ein Modus des Denkens und Handelns, eine ›kriminelle Vereinigung‹, die lose, aber dauerhafte Symbole einer gemeinsamen Identität etabliert, dazu eine allgemeine Strategie für kollektiven Gewinn und einen Verhaltenskodex in Bezug auf andere Kriminelle, Nachbarn und den Staat.«

Auf Vertrauen basierende Hegemonie ist in einem gewaltförmigen, mit illegalen Gütern handelnden Markt besonders problematisch, und so begannen in den späten 1980er Jahren Fraktionen und Konkurrenzgruppen dem CV Territorien und Einfluss streitig zu machen. Dies führte zu einem blutigen Dauerkrieg zwischen den Gruppen und der Polizei, die sowohl als Ordnungsmacht als auch als integraler Akteur im Drogenhandel beteiligt war. In dieser Zeit erschoss die Polizei immer häufiger junge schwarze Männer und Minderjährige, da die Organisation des Drogenhandels unter Kriegsbedingungen in der Logik der Anführer den Einsatz von Kindern besonders sinnvoll machte. 6.000 Kinder sollen in der Stadt Rio bewaffnet sein.

In Rio selbst ist der Handel nur weniger hierarchisch, aber funktional differenziert als das organisiert, was die Beteiligten selbst eine »Firma« nennen: Der matuto, ein Zwischenhändler, liefert dem Chef eines Gebietes (meist einer Favela) Drogen zu. Dieser hat um sich eine Gruppe von Vertrauenspersonen: Der »Geschäftsführer« hält den Kontakt zu Untergeschäftsführern der einzelnen Verkaufsstellen, die wiederum für die Koordination der einzelnen Verkaufsstellen, für die »Soldaten«, für die Waffenverteilung und Munitionsbeschaffung zuständig sind; die endoladores sind für das Aufbereiten, Abwiegen und Verpacken des Kokains in Abgabemengen zuständig; vapores (Dämpfe) verkaufen Päckchen entweder direkt an den Endverbraucher oder weiter in Kommission an aviões (Flugzeuge) aus der eigenen Favela oder gegen Bares an Kleinhändler von außerhalb, etwa aus den Mittelschichtsbezirken; olheiros (Beobachter) und fogueteiros (Feuerwerker) wachen von den Zinnen und schießen Leuchtmunition ab, wenn die Polizei oder eine verfeindete Bande sich anschicken, die Favela zu stürmen. Dies sind die Kleinsten, die zum Teil nicht älter als acht Jahre alt sind. Solche Angriffe abzuwehren, ist Aufgabe der schwer bewaffneten (und dem Kindesalter meist kaum entwachsenen) soldados. Sie bewachen auch die bondes, Autokonvois, die zum Überfall auf Banken oder Geldtransporter ausfahren.

Die Territorialisierung bedeutet hier, Biographien auf grausame Weise vorherzubestimmen: Sie hält die Kinder physisch wie sozial in den Favelas fest. Und 80 Prozent aller Kinder, die in den Drogenhandel involviert sind, werden einer Studie des Instituts für Religionsstudien zufolge nicht älter als 21 Jahre.
Der Chef mag noch den einen oder anderen Hügel kontrollieren. Doch im Wesentlichen ist der Drogenhandel in Rio sozusagen in burgenartig verschanzten operativen Einheiten organisiert. Nach dem Zusammenbruch der Hegemonie des CV ist auch kein nennenswerter Überbau mehr vorhanden. Der Drogenhandel in Rio kann als Geflecht sich überlagernder und punktuell miteinander verknoteter Netze beschrieben werden: Das internationale Netz, das die Produktionsorte in den Andenländern mit den Hauptkonsumorten USA und Europa verbindet und das Rios Häfen und Flughäfen als Umschlagort für Drogen nutzt; das Netz der »Bewegungen« des CV und seiner Konkurrenten, die die halbautonomen Einheiten in den Favelas sowie größere Transporte organisieren sowie die Territorien selbst, in denen ein funktionales Netz Transport, Verpackung und Einzelhandel organisiert. Diesem lokalen Netz assoziiert, ist der Einzelhandel in den wohlhabenderen Stadtteilen mit Lieferung frei Haus. Die Händler vom »Asphalt« (die selbst der Mittelklasse angehören) sind denen vom »Hügel« teils verbunden, agieren aber auch unabhängig von den Favelas. Nach einer Studie des Finanzministeriums des Bundesstaates Rio de Janeiro von Dezember 2008 setzt der Drogenhandel im Bundesstaat bis zu 270 Millionen Euro jährlich um. Der Gewinn wird in der Studie auf 56 Millionen Euro geschätzt.

Die Kosten jenseits des Einsatzes für den Ankauf der Droge, insbesondere für Logistik, den Schutz der Territorien, für Waffen und Munition, Verluste durch fehlgeschlagenen Schmuggel und nicht zuletzt die nötigen Bestechungsgelder für die Polizei sind hoch. Wie viele Menschen in Brasilien vom Drogenhandel leben, ist unklar. Schätzungen sprechen von 100.000 allein in Rio de Janeiro. Allerdings ist der Drogenhandel vielfältig mit anderen illegalen Beschaffungsmaßnahmen verbunden, wie Waffenhandel, Autodiebstahl oder Schmuggel von Gold, Edelsteinen und Tropenholz, und viele derer, die in untergeordneter Funktion beim Drogenhandel verdienen, sind gleichzeitig in anderen Bereichen der informellen Ökonomie tätig.


Die Routen des Drogenhandels

Über Brasiliens lange grüne Landgrenze im Westen kommt die Ware ins Land. Mittelsmänner des Primeiro Comando da Capital (PCC) aus São Paulo und den Kommandos in Rio kontrollieren den Drogenschmuggel entlang der Grenzen zu Argentinien, Paraguay, Bolivien, Peru, Kolumbien und Venezuela. Einer der wenigen Studien zu den Routen der in Brasilien gehandelten Drogen zufolge unterhalten auch die japanische, libanesische, russische und italienische Mafia Personal an diesen Grenzen, beschränken sich aber auf die Transitkontrolle und mischen sich nicht in den innerbrasilianischen Handel ein. Eine ganze Reihe brasilianischer Drogenbosse sind über die Grenze in die Nachbarländer, vor allem nach Paraguay und Bolivien, gegangen, erfreuen sich dort des Schutzes korrupter Behörden und »überschwemmen die Städte des Landes mit Tonnen von Kokain und Kokapaste«, wie die brasilianische Zeitschrift Época in einer am 3. Oktober 2011 veröffentlichten umfangreichen Recherche berichtet. Die Grenzstadt Ponta Porã in Mato Grosso do Sul bildet mit seiner paraguayischen Doppelstadthälfte Pedro Juan Caballero eines der wichtigsten Einfallstore für Kokapaste.

Vor allem Paraguay gilt heute als de facto unkontrolliertes Drogenumschlaggebiet. Einzelerfolge wie die Festnahme von Alexander Mendes da Silva, genannt Polegar, durch paraguayische Antidrogeneinheiten widerlegen dies nicht. Wie einige andere Drogenchefs war Polegar bei der Megaoperation im November 2010 im Favelakomplex »Alemão« und »Vila Cruzeiro« aus Rio de Janeiro auf der gut funktionierenden Route nach Paraguay entkommen. Allein in Pedro Juan Caballero sollen Angaben paraguayischer Behörden zufolge Monat für Monat Drogen im Wert von 100 Millionen US-Dollar umgesetzt werden.

Ein großer Teil des Kokains gelangt über die langen grünen Grenzen Amazoniens nach Brasilien. Beliebt ist es, mit kleinen – oft gestohlenen – Flugzeugen unterhalb des Radars zu fliegen und die Paste in 200 bis 500 Kilogramm schweren Paketen auf den Farmen beteiligter Zwischenhändler abzuwerfen. In São José do Rio Preto, 450 Kilometer von São Paulo entfernt, konnte die Polizei fast 500 Kilogramm bestes Kokain sicherstellen. In einer zweimotorigen Maschine des wohl heute wichtigsten brasilianischen Drogenmagnaten Luiz Carlos da Rocha, genannt »Weißkopf«, war der Stoff aus Kolumbien direkt auf eine Farm in Mato Grosso geflogen worden. Von dort gelangte er unter Tonnen von Reis versteckt auf Lastwagen ins Hinterland São Paulos. Vorgesehen war der Weitertransport nach Rio, dieses Mal zwischen Zuckersäcken verborgen.

Zwar haben für Amazonien immer schon spezielle militärische Schutzprogramme gegolten, doch de facto sind die Grenzkontrollen in dieser Region schwach. Ausgeprägt dagegen ist die Korrumpierbarkeit von Staatsvertretern, etwa von Grenzschützern oder den Kontrollbehörden der kleinen grenznahen Flughäfen. Aber auch viele Lokalpolitiker in drogenrelevanten Bundesstaaten wie Acre, Rondônia, Mato Grosso und Mato Grosso do Sul, Tocantins oder Goiás sind direkt in den Drogenhandel involviert. Im brasilianischen Amazonasgebiet wird mittlerweile auch Koka selbst angebaut sowie verarbeitet. Procópio Filho und Costa Vaz haben die »Hinterwäldlerroute« durch die ländlichen Gebiete von São Paulo und Minas Gerais beschrieben. Mit Unterstützung der korsischen und italienischen Mafia gelangt die Paste an die Häfen in Paraná, São Paulo und Espirito Santo zum Export in die USA und nach Europa. Die Koka folgt hier vielfach den Wegen der enormen Mengen an Eisenerz, Soja und anderer Waren aus dem Norden und Nordwesten, die nach China, USA und Europa exportiert werden. Das bedeutet auch, dass heute die Routen durch fast das ganze brasilianische Territorium verlaufen, mit einem Schwerpunkt gerade in »entwickelten« Bundesstaaten wie São Paulo und Minas Gerais, wo der Drogenhandel in vielen kleineren und mittleren Städten Basen errichtet hat. Die Routenverläufe verändern sich je nach Intensität staatlicher Kontrollen, eine »stillgelegte« Route kann aber auch jederzeit wieder aktiviert werden.

Die Internationale Drogenkontrollbehörde UNODC betrachtet Brasilien als »wichtiges Transitland für verschiffte Drogen mit Ziel USA, Afrika und Europa«.  (Siehe dazu und zum Folgenden die jährlichen World Drug Reports der UNODC, hier insbesondere 2005 und 2011.) Solche Einschätzungen basieren auf unsicheren Daten. Es gibt keine gesicherten Angaben darüber, wie viele Drogen nach Brasilien gelangen und wie viel davon reexportiert wird. Hinweise geben Zahlen über Drogenkonsum und – bei allen Unwägbarkeiten – die Mengen sichergestellter Drogen. Der letzte Weltdrogenreport von UNODC zeigt, dass in Brasilien der Konsum deutlich steigt. Immer noch liegt er aber weit unter dem, was in den USA und Europa konsumiert wird und gehört auch im südamerikanischen Vergleich nicht zur Spitze. Dagegen ist zwischen 2004 und 2009 die Menge beschlagnahmter Drogen von 8 auf 24 Tonnen gestiegen (zum Vergleich: Kolumbien 253, Ecuador 65 t). Soweit bekannt, war Brasilien 2009 das einzige südamerikanische Land, von dem aus Kokain nach Afrika gelangte. Die verhältnismäßig geringe Entfernung zwischen dem Nordosten Brasiliens und der westafrikanischen Küste haben dazu geführt, dass »signifikante Mengen« des Kokains aus Bolivien, Kolumbien und Peru von Brasilien auf dem Land- und Seeweg in westafrikanische Länder geschmuggelt werden. Es ist aber nicht zuletzt die steigende Nachfrage im Land selbst, die die Umschlagmengen in Brasilien erhöht und auf die gewaltförmigen Ökonomien – und damit die Menschenrechtssituation – in den Städten zurückwirkt. Denn dort ist der Drogenhandel wesentlich ein Abnehmermarkt – man könnte auch sagen, mehr Einzel- als Großhandel. Die großen Händler, die den Kontakt zu den hispano-amerikanischen Kartellen pflegen und den Import der Paste oder der Koka sowie ihren Weitertransport in die Hauptkonsumländer organisieren, treten in Rio oder São Paulo nicht in Erscheinung. Sie sind nicht in Gruppen zersplittert, sie sterben nicht im Alter von 17 Jahren im Kugelhagel der Polizei oder der Konkurrenz.


Produktionsort Gefängnis

Wie in Rio de Janeiro entstand der organisierte Drogenhandel auch in São Paulo aus dem Gefängnis heraus. Obwohl São Paulo vermutlich einiges mehr umsetzt als Rio, ist die Geschichte und Handlungsweise des »Ersten Hauptstadtkommandos« (PCC), der führenden Drogenorganisation in São Paulo, seit seinem Entstehen 1993 bisher kaum erforscht. Offenbar besteht wie in Rio auch in São Paulo ein Zusammenhang mit Folter und Misshandlungen an Gefangenen sowie den unerträglichen Haftbedingungen. Für beides war der Anbau des Gefängnisses von Taubaté in São Paulo berüchtigt. Vergleichbar dem CV in der Anfangsphase ist das PCC nichthierarchisch in autonomen Zellen organisiert. Im Unterschied zu Rio ist aber die Organisation nicht territorial gebunden, sondern agiert überregional. Auch ist die Hegemonie des PCC bis heute kaum angefochten. Sie reproduziert sich weiterhin aus den Gefängnissen, denn praktisch alle wichtigen Führer sind seit Jahren in Haft. Noch vor wenigen Jahren hat das PCC bewiesen, dass es den Staat im öffentlichen Raum herausfordern kann: Mit einer simultanen Rebellion in 73 Gefängnissen des Bundesstaates ging eine Serie koordinierter Gewalttaten mitten in den Städten einher, hunderte Anschläge auf öffentliche und private Einrichtungen, Banken, Polizeistationen. Busse brannten dutzendweise, in einigen Fällen verbrannten dabei Fahrgäste. Polizisten und Gefängnisbeamte wurden gezielt ermordet. Im Wirtschafts- und Finanzzentrum der Stadt sah sich der Handel für einige Tage gezwungen, zu schließen. Insgesamt starben innerhalb von acht Tagen im Mai 2006 offiziell 439 Menschen im Bundesstaat São Paulo. In geringerem Umfang hatten solche Aktionen in den Jahren zuvor in São Paulo und auch in Rio de Janeiro stattgefunden.

Die Rolle des Gefängnisses ist für die Analyse von Drogenhandel und Gewalt in Brasilien kaum zu überschätzen. Das brasilianische Gefängniswesen wird nicht nur von Fachleuten wie dem bereits erwähnten Marcelo Freixo als »eines der perversesten Systeme der Welt« beschrieben. Eine überforderte Klassenjustiz schickt arme Kleintäter hinter Gitter, oft nur für eine »Untersuchungshaft«, wo sie dann aber schlicht vergessen werden, während Wirtschaftskriminelle in Krawatte gar nicht erst vor Gericht kommen. Heute sitzen fast 500.000 Menschen in Brasilien in Haft, in Rio mehrheitlich wegen Drogenhandel. Nirgendwo auf der Welt ist die Zahl der Gefangenen in den letzten Jahren so stark angestiegen wie in Brasilien. Sie hat sich seit 1994 verdreifacht. Es wird kaum einen Ort in Brasilien geben, an dem sich Fanons Wort von den »Verdammten der Erde« im Urbanen derart drastisch erfüllt, wie in den Gefängnissen. Chronische Überbelegung, unvorstellbare hygienische Bedingungen, endemische und allseitige Korruption und ein Regime des Schreckens, das den einzelnen Gefangenen der Willkür der internen kriminellen Strukturen aussetzt. Nicht umsonst stehen das Verbot der Vergewaltigungen von Mitgefangenen einerseits, das Verbot der Folter durch Staatsvertreter andererseits ganz oben auf der Liste der Kodizes von CV und PCC. Periodisch entladen sich die Spannungen in gewaltsamen Revolten mit Dutzenden von Toten. »Niemand leugnet mehr, dass die Verhältnisse in unserem Strafvollzug grausam, unmenschlich und erniedrigend sind«, fasst Julita Lemgruber vom Studienzentrum für Sicherheit und Staatsbürgerrechte der Universität Cândido Mendes in einem Interview mit dem Nachrichtenportal Rede Brasil Atual vom 2.9.2011 zusammen. Der damalige Zuständige für die Justizvollzugsanstalten und heutige Minister für öffentliche Sicherheit in São Paulo, Antonio Ferreira Pinto, vergleicht in einem von Wikileaks veröffentlichten Dokument des US-amerikanischen Konsulats in São Paulo zufolge 2008 die Gefängnisse des Bundesstaates gegenüber US-Diplomaten mit Konzentrationslagern.  Und es ist den einsitzenden Hungerdieben praktisch unmöglich, sich nicht mit den kriminellen Gruppen zu arrangieren, die die Gefängnisse dominieren, und für diese tätig zu werden – durch Verbrechen. Dieses System »resozialisiert« nicht Kriminelle, sondern produziert sie erst und sorgt somit für den ständig benötigten Nachschub an olheiros, aviões, fogueteiros und soldados.


Die Modernisierung des Drogenhandels

Das territoriale Modell des Drogenhandels hatte sich seit Mitte der 1990er Jahre als zu teuer erwiesen. Ein sichtbarer und allseits bekannter Standort für einen äußerst lukrativen und zugleich stark kriminalisierten Wirtschaftszweig führt in Konkurrenzsituation zu hohen Kosten für seine Verteidigung. Kämpfe um die Territorien zwischen konkurrierenden Gruppen haben seit den späten 1990er Jahren ebenso zugenommen wie die staatliche Repression. Die Polizei tötete immer mehr am Drogenhandel Beteiligte (und auch viele Unbeteiligte), die Zahlen stiegen von 300 Zivilpersonen, die die Polizei 1997 wegen »Widerstands gegen die Staatsgewalt« im Bundesstaat Rio erschoss, auf 1.330 im Jahr 2007.

In den letzten Jahren haben sich sogenannte Milizen enorm ausgebreitet. Diese zunehmende Kontrolle von Territorien in Rio entwickelt einerseits die kriminelle Staatsökonomie fort und schwächt andererseits den Drogenhandel weiter. Statt die Drogenfraktionen gegeneinander auszuspielen und Schweigegelder einzutreiben, sind aktive und ehemalige Polizisten und in geringerer Zahl Feuerwehrleute (die in Brasilien militärisch organisiert und bewaffnet sind) und Strafvollzugsbeamte dazu übergegangen, dem Drogenhandel Territorien ganz abzunehmen. Oft sind diese Milizen aus den Todesschwadronen der 1980er und 1990er Jahre hervorgegangen, die vor allem in den ärmeren Vororten der Stadt wüteten. Sie treten an, um einen Bezirk vom Drogenhandel zu »befreien«. Doch die Bevölkerung stellte alsbald fest, dass ihr der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wurde. Die Milizen übernehmen systematisch die Kontrolle über die ortstypischen informellen Wirtschaftszweige wie Kochgashandel, Kleinbustransporte, illegales Kabelfernsehen, selbst Parkplätze am Straßenrand, und kassieren von allen Händlern und Bewohnern dafür »Schutzgebühren«. Widerstand gegen diese Ausbeutung brechen die Milizionäre rücksichtslos. Noch viel direkter als der Drogenhandel sind von Milizen beherrschte Territorien in die Wahlmaschinerien lokaler Politik eingefügt, wie es der Film »Tropa de Elite 2« beschreibt. Erst 2007 hat die Regierung in Rio offiziell zugegeben, dass die Milizen existieren und ein erhebliches Sicherheitsproblem darstellen. Dennoch bleiben sie zumeist unbehelligt. Heute kontrollieren die Milizen bereits mehr als 40 Prozent aller Favelas in Rio.

Die Polizei erzielte zugleich Verhaftungserfolge. 2001 ging in Paraguay Fernandinho Beira-Mar ins Netz, oberster Chef des Drogenhandels in Rio und Chef des CV. Auch Marcinho VP, die ehemalige Nummer Zwei des CV sowie zahlreiche andere Drogenchefs sitzen in Haft. Die Polizei setzt sie mit Isolationshaft - das sogenannte »Differenzierte Disziplinarsystem« erlaubt seit 2003 Einzelhaft für bis zu 360 Tage mit erschwerten Besuchsbedingungen -, Repressalien gegen Familienangehörige, Verlegung in von Rio weit entfernte Bundesgefängnisse sowie Beschlagnahmungen von Eigentum (etwa Apartments in den besseren Vierteln) unter Druck. Die enormen Verluste an Menschenleben, aber auch die Aufwendungen für Bestechungsgelder und für die Wiederbeschaffung beschlagnahmter Waffen machen dieses Modell des Drogenhandels nicht nur sozial immer unerträglicher, sondern auch unrentabel.

Der kleine Teil des Handels in Rio, der die Konsumenten der Mittel- und Oberklasse direkt beliefert, operiert schon länger diskret und flexibel und verzichtet weitgehend auf Gewalt und Waffeneinsatz, wie Carolina Grillo von der Bundesuniversität Rio de Janeiro in einer jüngeren Studie berichtet. Dieses Modell basiert wesentlich auf persönlichen Beziehungen unter sozial Gleichen und ist daher auf größere Kontexte nicht direkt übertragbar. Dennoch zeichnet sich eine Modernisierung des Drogenhandels in Brasilien und in Rio de Janeiro ab, die in diese territorial weniger gebundene und gewaltärmere Richtung geht.

Die Drogenhändler in São Paulo haben weder Gewehre noch Granaten, sagt der Vorsitzende der Untersuchungskommission zum Waffenhandel im Bundesstaat Rio de Janeiro, Marcelo Freixo. Mittlerweile ist das PCC aus São Paulo in 16 Bundesstaaten vornehmlich im Nordosten des Landes und oft im Bündnis mit örtlichen Gruppen im Drogenhandel aktiv. Antonio Ferreira Pinto, langjähriger Minister für öffentliche Sicherheit des Bundesstaates São Paulo, hat kürzlich bekräftigt, dass Massenrebellionen und Anschlagsserien wie die bereits erwähnte im Jahr 2006 sich nicht mehr wiederholen könnten, da der Staat die etwa 30 PCC-Führer im Gefängnis mittlerweile vor allem durch geheimdienstliche Arbeit sehr gut kontrolliere. Unterdessen hat das Kommando fast unbemerkt seine Zellenstruktur und damit seinen Einfluss nationalisiert. Die Nachfolger der Beira-Mars haben sich in den Grenzbereich und gerne nach Paraguay zurückgezogen. »Weißkopf« da Rocha, Jarvis Gimenez Pavão, Lourival Máximo da Fonseca und andere ziehen es vor, »wie Geschäftsmänner zu handeln und befehligen, von außerhalb oder innerhalb der Gefängnisse, veritable Unternehmensnetze für Drogen«, so die Wochenzeitschrift Época in der oben zitierten Reportage vom 3.10. 2011. Auf Gewalt verzichten sie nicht, doch ziehen sie Diskretion vor. Sie halten sich von kriminellen Gruppen fern und unterhalten keine bewaffneten Kleinarmeen, die der Polizei militärisch entgegentreten.

Erklärtermaßen dient das große neue Sicherheitskonzept Rios mit den Polizeieinheiten der UPP nicht dazu, den Drogenhandel zu bekämpfen. Ebenso wenig wird die Festnahme des Rocinha-Chefs Nem den Drogenhandel verringern. Irgendjemand im Justizwesen und bei der Polizei wird darüber entscheiden, welche Rolle Nem bei der Fortsetzung der Geschäfte zukünftig spielen soll. Genau dies erklärt, weshalb es für die Polizei in Rio zuletzt so einfach war, ganze Favelas zu besetzen.

Das Drogensystem stellt sich um und folgt einem größeren ökonomischen Imperativ: Die Stadt muss einer auf die Großereignisse der kommenden Jahre, allen voran die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016, ausgerichteten Verwertungslogik entsprechen. Die UPPs säubern schon jetzt die dafür benötigen Routen und Territorien – in der strandnahen Südzone und um die Sportstätten herum. Dass die favelados aus ihren Hütten mit Ausblick ausziehen müssen, weil die Mieten zu hoch werden, ist nur noch eine Frage der Zeit.

Indem die UPPs dem Drogenhandel seine wichtigsten Territorien genommen haben, zwingen sie ihn zur Flexibiliserung seiner Standorte und Verkaufsmethoden und zu einer insgesamt leiseren Vorgehensweise, in der Konfliktvermeidung vor bewaffneter Auseinandersetzung geht. Damit würde sich der Drogenhandel in Rio dem internationalen Standard annähern. Da die Polizei ja weniger Gegner als Geschäftspartner ist und sich mit dem Verschwinden der Gruppen aus den Favelas der medial-moralische Imperativ erfüllt, stehen die Chancen hierfür ganz gut. Das Geschäft ist einfach zu lukrativ.

Ich danke Ana Carolina Alfinito Vieira für substanzielle Hilfe bei der Literaturrecherche und Alena Profit Pachioni für die mühevolle Transkription eines fast zweistündigen Interviews mit Luiz Eduardo Soares.

Kleine Auswahl zitierter und weiterführender Literatur

  • Adorno, Sérgio; Salla, Fernando (2007): Criminalidade organizada nas prisões e os ataques do PCC. In: Estudos Avançados 21 (61), S. 7-29.
  • Amorim, Carlos (2010): Assalto ao Poder. O Crime Organizado. Rio de Janeiro: Record.
  • Barbosa, Antônio Rafael (2005): Prender e Dar Fuga. Biopolítica, sistema penitenciário e tráfico de drogas no Rio de Janeiro. PPGAS/MN/UFRJ 2005 (tese de doutorado).
  • Justiça Global (Hg.) (2008): Segurança, tráfico e milícias no Rio de Janeiro, Rio de Janeiro: Fundação Heinrich Böll.
  • Misse, Michel (2007): Mercados ilegais, redes de proteção e organização local do crime no Rio de Janeiro. In: Estudos Avançados 21 (61), S. 139-157.
  • Misse, Michel/Vargas, Joana D. (2010): Drug Use and Trafficking in Rio de Janeiro. Some remarks on harm reduction policies. In: Vibrant v.7 n.2, S. 88-108.
  • Penglase, Ben: The Bastard Child of the Dictatorship: the Comando Vermelho and the Birth of »Narco-Culture« in Rio de Janeiro. In: Luso-Brazilian Review 45:1, S. 118-144.
  • Procópio Filho, Argemira/Costa Vaz, Alcides (1997): O Brasil no contexto narcotráfico internacional. In: Revista Brasileira de Política Internacional 40, 1, pp. 75-122.
  • Schönenberg, Regine (2010): Gewalt, Kriminalität und Drogenhandel, in: Sergio Costa et al. (Hg.): Brasilien heute, Frankfurt: Vervuert, S. 265-281.
  • Théo-Filho ([1927] 2000): Praia de Ipanema. Rio de Janeiro: Livraria Editora Leite Ribeiro.

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Dawid Danilo Bartelt ist Leiter des Brasilienbüros der Herinrich-Böll-Stiftung.