Mexiko im Griff der Kartelle

Protestmarsch der Bewegung „Yo soy 132“ Bild: MaloMalverde Lizenz: CC BY-SA 2.0 Original: flickr.com

11. Juni 2012
Stefan Schaaf
Kommt mit einem neuen Präsidenten eine neue Drogenpolitik?

Am 1. Juli wählt Mexiko einen neuen Präsidenten – oder eine Präsidentin, aber das ist eher unwahrscheinlich, denn die Kandidatin der seit zwölf Jahren regierenden konservativen PAN, Josefina Vázquez Mota, liegt in Umfragen nur auf dem dritten Rang. Spannender ist die Entwicklung auf den vorderen beiden Plätzen: Dort hat Enrique Peña Nieto, der Kandidat der PRI, der noch vor wenigen Wochen als unbesiegbar galt, überraschend an Vorsprung verloren. Nur noch knapp hinter ihm liegt den Meinungsforschern zufolge Andres Manuel López Obrador, kurz AMLO, der vor sechs Jahren nur knapp gescheiterte Kandidat der PRD. Mexikos politische Landschaft hat sich verändert, seit eine Mobilisierung von Bürger/innen und Studierenden nach radikal neuen Perspektiven verlangt.

Der offizielle Wahlkampf war überschattet von Verdruss und Abscheu über ein politisches System, das auf die immer brutalere Gewalt im mexikanischen Drogenkrieg keine Antwort hat. Der scheidende Präsident Felipe Calderón hat diesen Krieg, in dem sich mächtige kriminelle Kartelle und 50.000 mexikanische Soldaten gegenüberstehen durch den Einsatz des Militärs eskaliert, doch er hat den Einfluss der Syndikate nicht brechen können.

Gibt es von Seiten der Präsidentschaftsaspirant/innen neue Vorschläge, wie Mexiko befriedet und vor dem Schicksal eines gescheiterten Staates bewahrt werden kann? Was müsste eigentlich geschehen? Darüber diskutierten beim Jour Fixe der Heinrich-Böll-Stiftung und der Tageszeitung (taz) Anfang Juni die Mexiko-Kennerin, Kulturwissenschaftlerin und Publizistin Anne Huffschmid und der mexikanische Journalist Francisco Castellanos von der Wochenzeitung „Proceso“ mit Bernd Pickert, dem Lateinamerika-Redakteur der taz. Castellanos schreibt vor allem über Drogenhandel, Gewalt und organisierte Kriminalität in Mexiko. Deshalb ist der 57-Jährige gleichermaßen ins Visier der Kartelle und der Behörden geraten. Schon zweimal wurde er entführt.

Castellanos warnte vor zu viel Aufmerksamkeit für Umfragen vor der Wahl, denn sie seien doch recht unzuverlässig. Die Kandidaten sprächen zwar davon, Arbeitsplätze schaffen und die Sicherheit wiederherstellen zu wollen, machten aber keine konkreten Vorschläge. Sie negierten oft sogar die Realität, so habe López Obrador bei einer Tour durch den Bundesstaat Michoacán behauptet, die Gewalt könne gestoppt werden. Dabei seien in Calderóns Amtszeit zwischen 70.000 und 80.000 Menschen Opfer der Gewalt geworden – sehr viele davon Unbeteiligte, die im falschen Moment am falschen Ort waren. 70 Journalisten seien ermordet worden, doch keine einzige dieser Gewalttaten wurde aufgeklärt. Immer wieder kehrte er an dem Abend zu dem Punkt zurück, dass mittlerweile alle Ebenen des Staates von der Drogenmafia durchsetzt seien. In Michoacán, einem Bundesstaat westlich der Hauptstadt, werde die Hälfte der Kommunen von ihr kontrolliert. Es gebe in Mexiko keine Garantie der Rechtsstaatlichkeit mehr, sondern eine Praxis der Straflosigkeit: Anzeigen bei der Polizei werde nicht nachgegangen, 98 Prozent der Straftaten blieben ungesühnt. Vielmehr riskierten alle, die sich gegen die Kriminalität wehren, selbst zum Ziel von Gewalt zu werden. Deshalb hätten die Mexikanerinnen und Mexikaner jegliches Vertrauen in Polizei und Strafverfolgungsbehörden verloren.

Mexikos Friedensbewegung hinterfragt Wahlen

Es habe den Vorschlag gegeben, wegen des faktischen Ausnahmezustands in den letzten Jahren die Präsidentenwahl zu suspendieren, sagte Anne Huffschmid, vor allem aus der Öffentlichkeit und von der neuen Friedensbewegung, die der Dichter Javier Sicilia 2011 initiiert hatte. Javier Sicilias Sohn war zuvor Opfer der Drogengewalt geworden. Doch von einer Verschiebung der Wahl wollte die politische Elite nichts wissen.

Diese Friedensbewegung gipfelte im Mai 2011 in einem dreitägigen Marsch von 100.000 Menschen von Cuernavaca nach Mexiko-Stadt. In ihr sammelten sich die Opfer der Gewalt, viele Angehörige von Ermordeten, als neue politische Akteure. Dazu kamen in den letzten Wochen Tausende Studierende, die sich von einem Auftritt Peña Nietos diffamiert fühlten und die Bewegung „Yo soy 132“ (Ich bin 132) gründeten.

Die Unterstützer/innen dieser beiden Gruppierungen sehen die institutionalisierte Politik Mexikos mit großer Skepsis. Ihre Bewegung überkreuzte sich mit der Mobilisierung der Anhänger/innen AMLOs. Seit der gescheiterten Anfechtung des Wahlergebnisses von 2006, als AMLO sich um seinen Sieg betrogen sah, hatte er sich aus dem politischen Geschehen zurückgezogen, meldete sich lediglich von Zeit zu Zeit als Kommentator zu Wort. Dabei vertrat er deutlich radikalere Positionen als 2006. Hinter seiner Kandidatur vereinigte sich dann die PRD, zwei kleinere Parteien und eine breite Bürgerbewegung namens Morena – Movimiento de Regeneracion Nacional (Bewegung der nationalen Erneuerung). Sie habe im Zuge von AMLOs Wahlkampf Stärke und Einfluss gewonnen und der Kandidatur eine Legitimität verliehen, die die eher diskreditierte PRD nie hätte liefern können.

Damit aber gab es zwei Gegenbewegungen zur etablierten Politik Calderóns bzw. seines Wunschnachfolgers Peña Nieto – eine politikskeptische, und eine, die den Machtapparat erobern will. Erst vor wenigen Tagen gab es in Mexiko-Stadt ein Aufeinandertreffen der beiden Strömungen in einem Forum zur Wahl mit den vier wichtigsten Kandidat/innen. Es war, sagte Huffschmid, eine der raren Gelegenheiten, bei denen führende Politiker den Opfern der Gewalt auf Augenhöhe gegenübertreten mussten. Das Ergebnis sei für sie jedoch enttäuschend, wenn auch zu erwarten gewesen: Keiner der Kandidat/innen habe konkrete politische Vorschläge zu den präzise vorgetragenen Anliegen präsentiert, sondern alle seien ausgewichen. Auch López Obrador, der bei aller Skepsis doch der Kandidat sei, der noch Hoffnungen wecken könne, sei nicht in der Lage gewesen, sich auf die Ebene der Bürger/innen einzulassen und ihrer Skepsis etwas entgegenzusetzen. Seine größte Sorge sei, dass die Friedensbewegung um Sicilia zu einem Wahlboykott aufrufen könnte.

Legalisierung bietet kein Ausweg

Was müsste geschehen, um die Gewalt zu stoppen? Castellanos wirft dem Militär halbherziges Vorgehen gegen die Kartelle vor – das aber einhergehend mit schweren Menschenrechtsverletzungen. Große Zweifel hat er, ob eine Legalisierung und staatliche Kontrolle von Drogen, wie sie inzwischen auch zentralamerikanische Präsidenten fordern, eine gute Strategie wäre. Die Palette der Rauschmittel sei zu vielfältig, von traditionellen, für religiöse Rituale zugelassenen Drogen reiche sie über Marihuana und Schlafmohnprodukte wie Opium und Heroin bis zu synthetischen, zum Teil extrem gesundheitsschädlichen Drogen. Wer durch Legalisierung bestimmte Drogen dem Zugriff der kriminellen Netzwerke entziehe, werde erleben, dass andere an ihre Stelle treten, sagte er. Auch Huffschmid bezeichnete es als illusorische Hoffnung, Frieden mit den Drogen schließen zu können. Das Portfolio der kriminellen Netzwerke umfasse längst auch Entführung, Menschenschmuggel, Prostitution und Produktpiraterie. Nur noch die Hälfte des Umsatzes werde mit Drogen gemacht, die Profite dann in Immobilien und Tourismusprojekte investiert. So seien indirekt bereits 50 Länder und darunter auch Deutschland von dieser organisierten Kriminalität berührt.

Castellanos fordert für sein Land mehr Aufklärung, sodann einen Nachrichtendienst, der allein die Köpfe der Drogenkartelle aufspüren solle, und den entschlossenen Kampf gegen Geldwäsche. Die Millionen und Abermillionen, mit denen die Kartellbosse sich Paläste bauen ließen, müssten beschlagnahmt werden. Huffschmid sagte, man müsse die Korruption in den Amtsstuben und Ministerien durch mehr Transparenz der Vermögensverhältnisse bekämpfen, und es brauche eine Justizreform. In dem von Huffschmid herausgegebenen Buch „Narcozones“ erläutert der Journalist Edgardo Buscaglia seinen Vorschlag, ein zivilgesellschaftliches Monitoring von Polizei, Justiz und Staat zu institutionalisieren. Außerdem fordert er mehr Bemühungen, die acht Millionen Jugendlichen in Mexiko, die nicht am regulären Bildungssystem teilhaben und die das Reserveheer der Kartelle bilden, durch Sozialarbeit im weitesten Sinn vor dem Abgleiten in die Kriminalität zu bewahren.

 

Jour Fixe