„Würde und Brot“ - Wie gelingt die Demokratie in Ägypten und Tunesien?

4. März 2011
Stefan Schaaf

Es sollte beim Jour Fixe der Heinrich-Böll-Stiftung am 1. März um die Perspektiven nach dem Sturz der Diktaturen in Tunesien und Ägypten gehen, doch immer wieder drängte sich die aktuellste Rebellion gegen einen arabischen Gewaltherrscher in die Diskussion: Der Aufstand der Libyer gegen ihren Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, dessen Ausgang derzeit noch ungewiss ist, der aber bereits seine Nachbarländer destabilisiert. Zehntausende Ägypter und Tunesier arbeiteten in Libyen und drängen nun zurück in ihre Heimatländer. Die Lage an Libyens Grenze zu Tunesien wird zunehmend kritisch.

In der Debatte wurde betont, dass das Flüchtlingsproblem derzeit wohl der wichtigste mögliche Ansatzpunkt für eine Hilfe der Europäischen Union zugunsten der demokratischen Bewegungen in Ägypten und Tunesien ist. Es ging auch um die Frage, ob die drei Revolutionen vergleichbar sind und wie groß die Gefahr eines konservativen Rollback bei der Ausarbeitung der neuen Verfassungen sei. Auf dem Podium debattierten Teilnehmer/innen wie analytische Beobachter/innen des arabischen Aufbruchs.

Magdi Gawhary ist in Ägypten geboren, lebt in Deutschland und war mit dabei auf Kairos Tahrir-Platz, dem, wie er sagte, „Herzen der arabischen Welt“. Die Ereignisse auf diesem Platz, das unbeschreibliche Gemeinschaftsgefühl dort, hätten Ägypten grundlegend verändert. Er zitierte einen jungen ägyptischen Schriftsteller, der von „Glückseligkeit, Freude und Überschwang“ sprach, und von dem Wunsch, „die Fernbedienung des Daseins in die Hand zu nehmen und den Pausenknopf zu drücken, um jeden Moment einzeln zu genießen“. Worum geht es den Menschen auf dem Tahrir? Gawhary brachte es auf den knappen Begriff „Würde und Brot“. Würde bedeutete dabei auch, sich nicht länger der alltäglichen Willkür und Korruption zu unterwerfen. Würde hieß auch, den Frauen eine gleichberechtigte Stellung nicht nur auf dem Tahrir-Platz zu gewähren. Diese Frauen, sagte Gawhary, „werden, wenn sie zu ihren Männern zurückkehren, nicht nur Tee kochen und die Windeln der Kinder wechseln“. Der Wandel sei „unumkehrbar“.


Die Rolle des Militärs

May Elmahdy, eine junge Ägypterin, die in Berlin studiert und arbeitet und ebenfalls mit auf dem Tahrir-Platz war, sprach von den Schwierigkeiten, aus den spontanen Organisationsformen des Protests neue dauerhafte politische Strukturen zu formen. Es gebe eine gemeinsame Basis, das sei die Forderung nach einer Übergangsregierung von Technokraten, die einen demokratischen Wandel ermöglicht und nur so lange im Amt bleiben solle, bis sich politische Parteien konstituiert haben.

Vorerst liegen die Zügel der Macht in den Händen eines Militärrats. Die Militärführung war seit Nassers Revolution der Freien Offiziere von 1952 das Fundament der ägyptischen Staatsmacht, sie kontrolliert auch große Teile der Wirtschaft des Landes. Stephan Roll, Ägypten-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, hielt es für erstaunlich, welche Folgen der „riesengroße Druck der Straße“ für die Haltung des Militärs hatte, das lange Zeit Teil des Regimes war. Denn die 470.000 Mann starken Streitkräfte – mit Reservisten und paramilitärischen Einheiten eher doppelt so viele – hätten bei einer demokratischen Öffnung viel zu verlieren. Nur zögernd gab die Militärführung jetzt der Forderung nach einer Absetzung des noch von Mubarak eingesetzten Premierminsters Ahmed Schafik nach, der am Donnerstag von Essam Scharaf ersetzt wurde. Und noch immer ist der 1981 verhängte Ausnahmezustand in Kraft.

Der Wunsch nach Demokratisierung, so Isabelle Werenfels, Maghreb-Kennerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, nach dem Wiedererlangen der Würde, schließe in Tunesien wie Ägypten auch den Wunsch ein, die soziale Ungerechtigkeit zu beenden und ein Auskommen zu haben. Gegenwärtig sei aber der Tourismus eingebrochen, Investoren blieben weg und es baue sich eine gefährliche Situation auf. Ohne eine Wiederbelebung der Wirtschaft werde es kaum eine Demokratisierung geben. Deshalb sei es wichtig, dass die EU ihre Märkte für landwirtschaftliche Produkte öffne, außerdem müsse es eine begrenzte Öffnung für Arbeitskräfte geben, regte sie an. „Man kann nicht sagen, toll, dass ihr jetzt Demokratien werdet, aber wir machen die Grenzen dicht“, stimmte ihr Kerstin Müller, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, zu. Auch die in Europa gebunkerten Milliardenvermögen der Despoten-Clans sollten, so auffindbar, sichergestellt und an Ägypten, Tunesien und Libyen zurückgegeben werden.


Testfall Verfassungsreform

Streit deutet sich um die neue Verfassung Ägyptens an, über deren Entwurf, das Werk eines Rats aus acht Männern, bereits am 19. März abgestimmt werden soll. Parlaments- und Präsidentenwahlen sollen im Sommer folgen.

May Elmahdi sah wie auch Stephan Roll diese kurze Frist als problematisch an, es seien eher zwei Jahre nötig, damit sich die politischen Kräfte formieren könnten. Roll sagte, selbst die gut organisierten Muslimbrüder, seien intern uneins, in welcher Form sie sich in den politischen Prozess eingliedern sollen. Noch verbietet die Verfassung die Gründung religiös orientierter Parteien. Ein modernerer Flügel der Muslimbrüder, so Roll, eifert eher dem Vorbild AKP nach, die konservativere Strömung sei eher unpolitisch.

Ägyptische Frauenorganisationen befürchten, dass die Reform der Verfassung sich nicht auf das Wahlrecht beschränkt, sondern auch die Rolle der Scharia stärker betont und die Rechte von Frauen im Familiengesetz einschränkt. Elmahdi sagte dazu, dass bislang nur wenige in Ägypten eine Trennung von Staat und Religion wünschen, die auch in Tunesien oder Marokko noch nicht stattgefunden hat. Kerstin Müller sagte, es dürfe nicht sein, dass Frauen am Ende einer solchen Revolution für die Demokratie weniger Rechte hätten als vorher.


Das Versagen der EU

Die EU war „quasi ein Totalausfall“, kritisierte Müller, sie habe nicht gehandelt und war nicht präsent. Auch die Bundesregierung habe bis zum Sturz den Satz „Mubarak muss weg“ nicht über die Lippen gebracht. Die Staaten im Süden der EU – Italien, Frankreich, Spanien – wollten im Interesse einer fragwürdigen Stabilität und der Flüchtlingsabwehr offenbar am liebsten an den Despoten, auch an Gaddafi, festhalten. Madrid und Paris wollten nun sogar das „potemkinsche Dorf“ der Mittelmeerunion wiederbeleben.
Die Bundesregierung und andere EU-Mitgliedsstaaten hätten da einen sinnvolleres Papier vorgelegt, das eine neue Strategie enthalte: Rückhaltlose Unterstützung des Demokratisierungsprozesses und Hilfen – so gewünscht – beim Aufbau der Justiz oder bei der Abfassung der endgültigen Verfassung. Schluss müsse sein mit der Hilfe des BND bei der Ausbildung der Ordnungskräfte in Diktaturen wie Libyen.


Gaddafis Kampf um die Macht

Isabelle Werenfels benannte die auffälligsten Unterschiede zwischen der Protestbewegung in Ägypten und der in Libyen. In Libyen sei die Zivilgesellschaft schwach ausgeprägt, die relevanten Figuren der Opposition in Europa nicht bekannt, es gebe kaum politische Strukturen jenseits des Machtapparats von Gaddafi, und es sei, den Bildern nach zu urteilen, nahezu ausschließlich eine Bewegung von Männern. Klar sei, dass die Gründe für die Rebellion die gleichen sind wie in Tunesien und Ägypten: die soziale Lage der libyischen Bevölkerung, die trotz des Ölreichtums nichts abbekommen und die Raffgier des Herrscherclans. Prognosen über die weitere Entwicklung und die Chancen für eine Demokratisierung seien da sehr schwer. Dringend nötig sei, Gaddafi von seinen Ressourcen abzuschneiden. Militärische Optionen sah sie als riskant an.

Dossier

Die Bürgerrevolution in der arabischen Welt

Die Massenproteste in Tunis und Kairo haben die alten Regime in Tunesien und Ägypten hinweggefegt. Die Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten hat eine politische Wende herbei geführt, die das Tor zu einer demokratischen Entwicklung in der Region weit aufgestoßen hat. Aus dem Funken ist ein Lauffeuer geworden, in Algerien, Marokko, Jemen, Bahrain, Jordanien und Libyen gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße und fordern die Machthaber heraus. Die Heinrich-Böll-Stiftung begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Analysen, Kommentaren und Interviews:

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