Von Iris Kempe
4. August 2008
Wie keinem anderen ist es Alexander Solschenyzin gelungen, durch sein literarisch-dokumentarisches Werk das System sowjetischer Gefangenenlager seit Lenin und den stalinistischen Terror begreifbar zu machen. Anderseits gilt der Autor und Dissident nicht als Anwalt für einen modernen, demokratischen russischen Staat. Anders als Vaclav Havel, Adam Michnik oder György Konrad – um nur einige Exponenten zu nennen – ist sein Name nicht richtungweisend für den jüngsten gesellschaftlichen Wandel in Russland.
Als Solschenyzins literarisches und politisches Hauptwerk gilt der dreibändige „Archipel Gulag“. Das Werk, das das Leben im System der sowjetischen Gefangenlager schildert, ist eine Anklage des sowjetischen Regimes und der Gewaltverbrechen des stalinistischen Terrors. Es wurde bereits im Vorfeld der Veröffentlichung publik und führte 1974 zunächst zu Verhaftung und dann zur Ausbürgerung Solschenyzins – der dann, einer Einladung Heinrich Bölls folgend, nach Köln kam. Böll bezeichnete sein literarisches und politisches Werk als ein „Symbol der Freiheit“. Wie für die sowjetische Dissidentenliteratur üblich, erschien das Buch im „Tamisdat“ (→ Definition) zunächst in Paris und dann in vielen westlichen Ländern. Unter westlichen Intellektuellen veränderte der „Archipel Gulag“ die Einschätzung der Sowjetunion und führte zu Austritten aus den westeuropäischen Kommunistischen Parteien.
In Russland wurde Solschenyzin zu einer Symbolfigur für die Kritik am sowjetischen Regime. Entsprechend hoch waren die Erwartungen, als er als einer der wenigen Dissidenten 1994 in das Russland des damaligen Präsidenten Boris Jelzin zurückkehrte. Seit seiner Rückkehr aus dem Exil kritisierte Solschenyzin westliche Demokratien und deren zunehmenden Einfluss auf das postsowjetische Russland. Sein Name stand nun für moralischen Rigorismus und orthodoxe Werte. Es gelang dem Literaten nach seiner Rückkehr nicht, ein Träger einer modernen russischen Gesellschaft zu werden. Während seine Haltung zu Michal Gorbatschow und Boris Jelzin kritisch war, stimmte er mit Wladimir Putins Akzentuierung eigener russischer Werte – einer nicht westlichen, einer stattdessen gelenkten Demokratie – durchaus überein. Die Zustimmung ging so weit, dass er die Verleihung des russischen Staatsordens durch Putin annahm – ein symbolischer Akt, der von den Verfechtern eines demokratischen Russlands kritisiert wurde.
So wichtig Solschenyzin. für den kritischen Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit war, es gelang ihm nicht, auch eine Kraft für die Transformation Russlands zu werden.
Iris Kempe leitet das Süd-Kaukasus-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi.