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Mit Fallada nach Europa: Israel und der Roman "Jeder stirbt für sich allein"

Originalmanuskript Falladas im Fallada Museum, Foto: benniebunnie, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY 2.0

23. Juni 2011
Yossi Yonah
Bei meinem letzten Berlin-Besuch erwähnte ich wiederholt den Namen Hans Fallada und seinen Roman "Alone in Berlin". Meine Gesprächspartner wussten nicht, von wem ich sprach. Es half mir wenig, den wahren Namen des Autors, Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen, oder den deutschen Titel des Romans, Jeder stirbt für sich allein, zu nennen. In Israel dagegen ist Hans Falladas Roman insbesondere unter Liebhabern internationaler Literatur Tagesgespräch. Das Buch war ursprünglich 1947 in Ostdeutschland veröffentlicht worden, erschien in Deutschland in diesem Jahr erstmals in der ungekürzten Originalausgabe und wurde ins Englische übersetzt. Nach der großen Resonanz im angelsächsischen Raum erschien der Roman inzwischen auch in einer hebräischen Ausgabe.

Das Buch erzählt vom aussichtslosen Widerstand eines Berliner Ehepaars gegen die Nazis. Es beschreibt dabei das Leben unter einem Terrorregime auf faszinierende Weise. Man bekommt vor Augen geführt, was eine Existenz in Angst und unter ständiger Überwachung bedeutet, was es heißt, nicht einmal dem engsten Freund, dem eigenen Bruder, der eigenen Schwester vertrauen zu können und ständig befürchten zu müssen, dass diese bereitwillig oder widerwillig zu Kollaborateuren eines bis in intimste Bereiche vordringenden Machtapparats geworden sind.

Der Roman führt vor, wie ein Terrorregime das Gewebe sozialer Verbundenheit zerstört und Individuen in eine unterwürfige Herde verwandelt, wie grundlegende menschliche Eigenschaften wie Anstand, Solidarität und Vertrauen bedeutungslos werden. Er zeigt aber auch, wie Menschen selbst unter fürchterlichen gesellschaftlichen Umständen noch immer die Wahl haben, sich moralisch zu bewähren und heroisch bereit zu sein. Und dafür, wie das Ehepaar Otto und Anna Quangel, auch mit dem eigenen Leben zu bezahlen. Auf ihre eigene naive und wirkungslose Art hatten sie den Widerstand gegen das Nazi-Regime gewagt.

Der Roman stellt die Frage nach dem Wesen von Nazi-Deutschland noch einmal neu. Natürlich sind beide, Nazi-Deutschland und die Nazis, auf jeder Seite des Romans ständig und schaurig präsent. Und doch ist das nicht das Land mit seiner Bevölkerung, die bei den monströsen Verbrechen begeistert und pflichteifrig mittut, wie Daniel Goldhagen Hitlers willige Vollstrecker entwirft. Die Nazis in Jeder stirbt für sich allein sind auch nicht die Nazis, denen ich in meiner Schulzeit begegnet bin. Dort nämlich habe ich sie einzig als Verkörperung und Ausgeburt des Bösen, als Erzfeind der Juden kennengelernt.

Ausgeburten des Bösen

Die offiziellen wie die inoffiziellen israelischen Erziehungsinstitutionen haben Generationen von Israelis das Erbe des Holocaust in sehr eindeutiger Weise eingeimpft. Nazi-Deutschland erschien da immer als die „metaphysische Verkörperung des Bösen“, der Holocaust als das mit keiner anderen Katastrophe zu vergleichende Ereignis, die Opferrolle der Juden absolut. Beide Phänomene, Nazi-Deutschland und Holocaust, Opfer- wie Täterschaft, mussten sich so der Entschlüsselung und Analyse nach den universellen Prinzipien entziehen, die normalerweise menschliches Verhalten kennzeichnen: Sie wurden zu Ereignissen außerhalb unserer Vorstellungskraft, die die menschliche Erfahrung übersteigen und Geschehnisse von radikaler Fremdheit bleiben müssen.

Die mythischen Ausgeburten des Bösen, die diesem Bild entsprächen, findet man in Falladas Roman selten. Eine Ausnahme ist der Gestapo-Obergruppenführer Perl, der am ehesten der stereotypen Beschreibung eines Nazi-Offiziers nahekommt. Doch scheint selbst das Ungeheuer Perl zugleich auch Opfer des Regimes zu sein. Die Angst vor dem Zorn seiner Vorgesetzten bleibt als ein Bestimmungsgrund für sein Handeln immer sichtbar. So ist eine wichtige Nebenwirkung dieses faszinierenden Meisterwerks die Entmystifizierung der Täter. Zwar ist das Böse auch hier unfassbar und ungeheuerlich, doch erweisen sich die Täter durchaus als irdische, menschliche Wesen.

In gewisser Weise greift Fallada in seinem Roman Hannah Arendts Klassiker Eichmann in Jerusalem vor, in dem sie Adolf Eichmann überzeugend entmystifiziert. So erschien der Sendbote des Todes, der die Deportation unzähliger Juden in Konzen­trationslager zu verantworten hatte, in ihrer Analyse – zum Entsetzen mehrerer Generationen von Israelis – als ein „Mann aus Fleisch und Blut“ und gerade nicht als das „Monster“, als das ihn seine Verfolger darzustellen versuchten.

Der bekannte israelische Historiker und Publizist Tom Segev schrieb (1), mit der Veröffentlichung des Fallada-Romans beabsichtige das Goethe-Institut als verlängerter Arm des Auswärtigen Amtes eine Revision der deutschen Vergangenheitspolitik. Dies sei umso ironischer, als es bei der Erstveröffentlichung des Buches 1947 in Ost-Berlin gerade um den Nachweis gegangen sei, dass die Ostdeutschen dem Naziregime eher widerstanden hätten als die Westdeutschen. Zwar ist, dem würde Segev sicher auch zustimmen, die Darstellung der Vergangenheit zwangsläufig vom jeweiligen Zeitgeist der Gegenwart mitbestimmt. Allerdings übersieht Segev die andere Seite der Medaille. In der israelischen Gesellschaft gibt es nämlich durchaus aufmerksame Zuhörer, die diese revidierte Darstellung der Vergangenheit hören wollen. Auf die Gründe für den Erfolg des Buches in Israel geht Segev aber erst gar nicht ein.

Unpatriotische Aktivitäten

Ich würde hingegen argumentieren, dass die Darstellung der Deutschen eher als Opfer denn willige Partner des Nazi-Regimes sich zwar gut mit dem deutschen Bestreben „nach einem verbesserten historischen Image“ verbinden lässt; dass es allerdings auch mit kulturellen und politischen Strömungen in Israel übereinstimmt, die sich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt haben. Der durchaus begrüßenswerte neue Geist der Versöhnung ist allerdings nicht frei von inneren Unstimmigkeiten und bedauerlichen Konsequenzen.

Die israelische Gesellschaft erweist sich als zusehends intolerant gegenüber politischen Ansichten, die vom nationalen Konsens abweichen. So werden etwa der Protest gegen die anhaltende Besatzung in der Westbank oder die Nicht-Übereinstimmung mit den offiziell abgesegneten nationalen Narrativen schnell als Angriff auf den „demokratischen und jüdischen Charakter“ des Staates betrachtet. Zudem werden Einzelpersonen oder Organisationen, denen „mangelnde Loyalität dem Staat gegenüber“ oder die Teilnahme an „subversiven“ und „unpatriotischen“ Aktivitäten unterstellt werden, mit immer neuen Sanktionen bedacht.

Viele kritische israelische Leser sehen bei der Lektüre von Jeder stirbt für sich allein manche unangenehme Parallelen zur eigenen Situation. Natürlich werden sie sehr zu Recht jeden Vergleich zwischen der israelischen Gesellschaft und Nazi-Deutschland zurückweisen. Dennoch ist der Roman für sie Ausdruck einer bis heute gültigen Warnung vor greifbaren Gefahren für Demokratien im Allgemeinen und insbesondere für die israelische Demokratie. Sie werden argumentieren, dass die von israelischen Politikern zynisch geschürte Belagerungsmentalität den fruchtbaren Boden schafft für undemokratische Regungen.

Teil von Europa

Der Erfolg von Falladas Roman in Israel ist neben seinen literarischen Qualitäten nicht allein auf die üblichen Verläufe der Links-Rechts-Dichotomie zurückzuführen. Mehr noch hat er jedoch mit der zionistischen Ideologie zu tun, die von Rechts und Links weithin geteilt wird. Beide politischen Lager sehen im Zionismus eine nationale, von europäischer Geisteshaltung inspirierte Bewegung, die immer darauf ausgerichtet war, die kulturellen und symbolischen Grenzen Europas nicht zu verlassen. Von Anfang an gab es freilich im Zionismus auch die entgegengesetzte Bestrebung, an nahöstliche Wurzeln anzuknüpfen – ein heute fast völlig vergessenes Anliegen. Auch die Schrecken des Holocaust haben nicht dazu geführt, diese andere Orientierung wieder aufleben zu lassen und den israelischen Wunsch, zumindest kulturell Teil von Europa zu sein, infrage zu stellen.

Große Teile der israelischen Gesellschaft – und zwar im rechten wie im linken politischen Spektrum – würden heute Samuel P. Huntingtons Sicht auf die Weltpolitik akzeptieren, derzufolge Israel im Kampf der Kulturen zwischen jüdisch-christlicher und islamischer Zivilisation steht. Diese manichäische Sicht der geopolitischen Lage wird von Israels rechtem Lager nachdrücklich propagiert, findet aber auch Zustimmung in jenen Teilen der israelischen Gesellschaft, die im Friedensprozess kompromissbereitere Positionen vertreten. Für sie alle bleibt diese geopolitische Vision verlockend, die Israel auch für die glücklicheren Zeiten eines friedlichen und wirtschaftlich florierenden Nahen Ostens kulturell an Europa gebunden sieht.

Im Einklang damit steht die zunehmende Faszination von Israelis der Dritten Generation für Deutschland und ganz besonders für Berlin. Berlin, so die weitverbreitete Meinung, habe sich zu einer der lebendigsten Kulturmetropolen der Welt entwickelt, zu einem Zentrum des Multikulturalismus und dynamischer Aktivitäten. Diese Kombination aus der Atmosphäre der Stadt, den komplizierten historischen Beziehungen vieler Israelis zu Deutschland und ihrer allgemeinen Sicht auf die Welt haben dazu geführt, dass viele Israelis nicht nur nach Berlin reisen, sondern dort auch länger bleiben.

Ich glaube, dass diese politischen und kulturellen Trends – selbst wenn sie einander manchmal zu widersprechen scheinen – für den Erfolg von Falladas Roman mit ausschlaggebend sind. Unbewusst mag sich in der Begeisterung für die literarische Leistung auch das Gefühl der Ambivalenz vieler Israelis gegenüber Deutschland beruhigen, das aufgrund der Verbrechen am jüdischen Volk natürlich weiterhin existiert.

Selbstvertreibung

„Die Vergangenheit“, so der renommierte Historiker des Holocaust, Yehuda Bauer, „wird nicht verschwinden“. Das war eigentlich gegen die deutsche Geschichtsschreibung gerichtet, die seiner Meinung nach ein unvollständiges Bild der deutschen Geschichte zeichnet. Allerdings trifft dies auch auf die Art und Weise zu, wie viele Israelis die Geschichte heute sehen möchten. Die Vergangenheit wird in der Tat nicht verschwinden, aber festgelegt auf eine einzige Deutung ist sie nicht. „Der Holocaust fließt in unseren Adern“ lautet der Titel einer unlängst durchgeführten Studie zur Haltung junger Israelis gegenüber dem Holocaust. Wobei die gegenwärtige offizielle und inoffizielle Darstellung sich signifikant von der traditionellen Deutung unterscheiden.

Die Entmystifizierung von Nazi-Deutschland und die Abkopplung des deutschen Volks vom Nazi-Regime erlauben es vielen Israelis, den Nazismus als ein abstraktes Konzept zu sehen. Wir, die Israelis, erinnern uns noch gut an das Gelübde des damaligen Premiers Menachem Begin während des Libanonkriegs 1982, Arafat aus seinem „Bunker“ zu vertreiben. In diesen Tagen gilt der iranische Präsident Mahmud Ahmadinejad als die neue Nazi-Bedrohung aus Teheran. Ich könnte noch viele weitere Beispiele für diese problematischen Vergleiche anführen.

Sie sind Übertragungen, die sich tief in Israels kollektivem Unterbewusstsein abspielen, und sie sind vielleicht nicht mehr als ein tragischer Abschnitt der verwickelten und umständlichen Reise der zionistischen Bewegung in den Nahen Osten und zurück nach Europa. Um sich mit Europa und insbesondere mit Deutschland zu versöhnen, lässt sich Israel nicht nur bereitwillig auf die angebotenen Entmystifizierungen der tragischen Vergangenheit – wie in Falladas Roman – ein. Es verwendet auch beträchtliche geistige Anstrengungen darauf, seine Erzfeinde im Nahen Osten als prototypische Nazis zu präsentieren. Damit scheint sich Israel in seinen verzweifelten Bestrebungen, integraler Teil Europas zu sein, symbolisch selbst aus dem Nahen Osten zu vertreiben.

(1) in Haaretz vom 23. 7. 2010

Yossi Yonah ist Philosoph und lehrt als Professor an der Ben-Gurion-Universität des Negev und forscht am Van-Leer-Institut in Jerusalem. Er publiziert zu Themen der politischen Philosophie sowie zur israelischen Kultur und Politik. Zuletzt erschien 2005 sein Buch In Virtue of Difference: The Multicultural Project in Israel. Überarbeitung des Textes: Marianne Zepp von der Heinrich-Böll-Stiftung Tel Aviv

Der Artikel erschien ursprünglich am 21.06.2011 in: der Freitag. Kopie des Artikels mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Freitag.