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Zwischen(t)räume – Transkontinentale Migration nach den Umbrüchen in Nordafrika

Diskussion mit Valeria Bruschi, Urs Fruehauf und Zakaria Mohamed Ali
Foto: Nicola Egelhof, Heinrich-Böll-Stiftung, Lizenz: CC-BY-SA 2.0

5. Juni 2012
Stefan Schaaf
Menschen kommen aus Afrika nach Europa. Es ist eine wagemutige Reise. Erzählt wird ihre Geschichte eigentlich nie. Doch Christian Vium hat sie in eindrucksvollen Fotografien festgehalten. Dem Fotoprojekt gab er den Titel „Clandestine“ – im Verborgenen. Es sind düstere, verwischte Schwarzweißbilder, die erst nach und nach preisgeben, was sie zu erzählen haben.

Umso mehr sprudeln die Worte aus Fabien Didier Yene. Er ist Schriftsteller, stammt aus Kamerun, hat mehrere Jahre in Marokko gelebt und ist dort Sprecher der Migranten. Seine eigenen wie ihre Erfahrungen hat er in dem Buch „Bis an die Grenzen“ festgehalten. Er stellt Ausschnitte in einer Lesung vor.

Der Regisseur Dagmawi Yimer hat einen Film gedreht, in dem Migranten/innen vom Horn von Afrika, aus Äthiopien, Eritrea und Somalia berichten, wie sie immer wieder von der libyschen Polizei festgenommen und zurückgeschickt wurden, bis sie endlich nach Italien gelangten.

In dem Film erscheint auch Ilkka Laitinen. Der Finne sitzt hoch oben in seinem Büro in Warschau, dem Sitz der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Laitinen ist ihr Direktor. Er findet es richtig, dass seine Beamten schon tief auf dem afrikanischen Kontinent tätig werden, um die Migranten/innen von Europas Grenzen fernzuhalten.

Hundert Schüler/innen aus Berliner Gymnasien sehen Viums Bilder, hören Yenes Lesung, schauen Yimers Film. In zwei Workshops werden sie mit der Realität konfrontiert, die sonst bei uns meist ausgeblendet wird. Sie fragen nach, etwa, wie Vium auf sein Thema gekommen sei. Der aus Dänemark stammende Anthropologe und Fotograf erläutert, dass er in Mauretanien geforscht, aber auch Westafrikaner in Paris getroffen habe. Er wollte deren Geschichte jenseits der dramatischen Bilder hilfloser Menschen auf überfüllten Fischerbooten darstellen. Er erzählte, wie bereitwillig und hilfsbereit die Migranten aus dem Dorf Groumea im Norden Malis ihm vor ihrem Aufbruch Auskunft gaben und sein Fotoprojekt unterstützten. Sie hätten begriffen, dass er mit seiner Kamera anderen über ihr Schicksal berichten kann. Er erzählte auch, dass es in vielen Dörfern dort keine jungen Männer mehr gibt, die die Feldarbeit erledigen können. Er begleitete den 23-jährigen Amadou, der auf dem ersten Bild seiner Ausstellung zu sehen ist, und die anderen Auswanderer auf ihrer mühevollen, 3000 Kilometer weiten Fahrt im Geländewagen durch die Wüste bis an die Atlantikküste in Mauretanien, wo sie in winzige Fischerboote kletterten. Keiner von ihnen war mit dem Meer vertraut, niemand konnte schwimmen. Ob er keine Angst gehabt habe, wird Vium gefragt. Er sei nicht mit aufs Boot gestiegen, antwortet er. Hier trennten sich die Wege, erst in Paris, dem Ziel fast aller Migranten aus dem frankophonen Afrika, konnte er sie wieder treffen.

Ihnen war vor der Abreise bewusst, welche Gefahren die Reise birgt, sagte Vium. Doch in ihren Augen blieb ihnen keine Wahl, wenn sie ihren Familien helfen wollen. Dies stürze diese Menschen in ein existentielles Niemandsland: zwischen Jugend und Erwachsensein, zwischen dem Vertrauten und dem Unbekannten, zwischen Afrika und Europa, zwischen Leben und Tod. Es sei eine Odyssee oder, um statt Homer Dantes Göttliche Komödie zu zitieren, die Hölle.

Das Bild traf zeitweise besonders auf die Lage an der marokkanischen Grenze zu den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu. Yene schildert in seinem Buch einen Versuch der Migranten, die doppelten, bis zu sechs Meter hohen Grenzzäune in großer Zahl zu überwinden. 2005 waren dort dabei mehr als ein Dutzend Migranten ums Leben gekommen.

Tausende starben in den vergangenen Jahren auf dem Meer. Dennoch wäre es absurd, von einem Massenansturm der Afrikaner/innen auf Europa zu reden, wie es nach den Umbrüchen in Nordafrika getan wurde. Darauf wies Barbara Unmüßig vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung in ihrer Rede hin. Dies hindert die Europäische Union nicht daran, mit hohem finanziellem Aufwand neue Überwachungssysteme ihrer Außengrenzen einzurichten. In einer von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebene Studie („Grenzwertig: Eine Analyse der neuen Grenzüberwachungsinitiativen der Europäischen Union“ - steht ab Juli als Download auf boell.de) haben die Wissenschaftler Dr. Ben Hayes von der Bürgerrechtsorganisation Statewatch und Mathias Vermeulen vom European University Institute in Florenz die EU-Vorhaben EUROSUR und SMART BORDERS kritisch geprüft. EUROSUR sieht die Überwachung der Grenzen mit modernster Hochtechnologie bis hin zu Satelliten und Drohnen über dem Mittelmeer vor. Der Legislativvorschlag zu EUROSUR wird derzeit im Rat sowie im Europäischen Parlament debattiert. Mit den Smart Borders oder „intelligenten Grenzen“ soll eine Datenbank über alle Ein- und Ausreisen aus der EU geschaffen werden, die auch die Fingerabdrücke speichert. „Die EU rüstet sich zur militärischen Festung auf“, sagte Barbara Unmüßig bei der Vorstellung der Studie. Die Kritik an den neuen EU-Maßnahmen reichen von der Aushöhlung von Grundrechten, etwa dem Recht auf Asyl, über Zweifel an der Machbarkeit bis zu den Kosten, die derzeit als viel zu niedrig eingestuft würden, so die Autoren der Studie. Allein EUROSUR werde nicht 338 Millionen Euro kosten, sondern eher 870 Millionen Euro. Das Sammeln der Daten von jährlich 100 Millionen Personen soll zusätzlich mindestens 1,1 Milliarde Euro kosten – eine Ausgabe, deren Sinn überhaupt nicht nachvollziehbar sei, sagte Ska Keller. Dennoch seien aus der Bundesregierung und von den Innenministern bisher kaum Signale zu vernehmen gewesen, dass man die Vorhaben ablehne.

Umbrüche in Nordafrika:
„Neue Eliten, neue Regeln?“

Der Aufbruch in den Ländern des Nahen Ostens, der Anfang 2011 begann, ist in einigen Staaten zu einem heftigen Konflikt um die politische Ausrichtung geworden. Es werde ein langer Prozess des Übergangs mit harten Kämpfen werden, sagte Barbara Unmüßig zu Beginn dieses Panels, das von Layla al-Zubaidi von der Heinrich-Böll-Stiftung geleitet wurde. Die nordafrikanischen Länder hätten zuletzt als Bausteine in der Mauer fungiert, die die EU um sich herum errichtet hat, sagte sie. Werden die neuen Eliten in Ägypten, Libyen, Tunesien oder Marokko diese Politik fortsetzen?

Fabien Didier Yene, der kamerunische Schriftsteller, hat in Marokko erlebt, wie die dortige Regierung versuchte, Migranten und Aktivisten der „Bewegung 20. Februar“ auseinanderzubringen. Sie habe einige der Migranten zu Gegendemonstrationen angestiftet, bei denen sie auf Plakaten dem Königreich ihre Loyalität zugesichert hätten. Das habe die Migrantenorganisationen bei ihren Bemühen um politische Anerkennung zwei Schritte zurückgeworfen.
Der tunesische Soziologe Fethi Rekik von der Universität Sfax sagte, in seinem Land gehe der politische Wandel und die Wahl und Etablierung neuer, demokratischer Institutionen in kleinen Schritten voran. Aber alles sei noch provisorisch. Immerhin gibt es in Tunesien nun ein Ministerium für Migration, und es habe in der Bevölkerung eine große Solidarität mit Flüchtlingen aus Libyen gegeben. Aber er rechnet trotz des Druckes aus der Zivilgesellschaft  nicht mit einem grundsätzlichen Wandel der Haltung Tunesiens zur Migration und dem Kooperationsabkommen mit  Italien.

Rechtlose Räume

Yolande Ditewig arbeitet für das UNHCR in Benghazi im Osten Libyens. Libyen lockte seit langer Zeit Arbeitskräfte für seine Ölindustrie ins Land, diente aber auch als Sprungbrett für Bootsflüchtlinge nach Italien, bis Gaddafi vor zehn Jahren durch ein Abkommen mit Berlusconi die Migration zu bekämpfen und Migranten wieder abzuschieben begann. Nach Gaddafis Sturz wurde Migranten mit schwarzer Hautfarbe mit großem Misstrauen begegnet, oft wurden sie attackiert und inhaftiert.

Ditewig sagte, im Osten Libyens gebe es viele Migranten aus Südasien, aus Ägypten und Ostafrika. Sie seien gekommen, um Arbeit zu finden, manche aber auch, um Krieg und Repression am Horn von Afrika zu entfliehen. Doch es fehle in Libyen heute eine gesetzliche Regelung zum Schutz von Asylsuchenden. Es gebe rund um die Stadt al-Kufra im Südosten Libyens, aber auch in den großen Städten an der Küste Haftzentren, in denen Migranten bisweilen Monate festgehalten würden. Diese Lager seien meist dramatisch überfüllt, die Bedingungen unmenschlich. Die einzige „Lösung“ bestehe bisher darin, gesunde und kräftige Inhaftierte libyschen Unternehmern als Arbeitskräfte zu überlassen. Dies geschehe auf eine Weise, die sie an einen römischen Sklavenmarkt erinnere, sagte Ditewig.

Die EU sei bereits beim libyschen Übergangsrat vorstellig geworden. Ditewig sagte, vordringlich müssten die Haftzentren unter eine zentrale Kontrolle gebracht werden, dann brauche es eine gesetzliche Regelung für den Umgang mit Asylsuchenden.

Jobs für Ägypten

Professor Ibrahim Awad beschäftigt sich als ehemaliger Experte der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und als Dozent an der American University in Kairo mit Migration. Die Revolution in Kairo sei zunächst mehr von der Unzufriedenheit der Mittelschicht mit dem politischen System als von den Arbeitslosen ausgegangen. Dann machten letztere aber ihr Gewicht geltend und verhalfen der Revolution zum Erfolg. Ägypten mit seiner großen Bevölkerung mangelt es an Arbeitsmöglichkeiten. Bislang war Migration ein Ventil. Aus Ägypten seien Hochgebildete nach Europa, viele aber vor allem in die Golfstaaten ausgewandert, um dort zu arbeiten. Das Problem der Arbeitslosigkeit in Ägypten könne jedenfalls nicht durch Auswanderung nach Europa gelöst werden. Sinnvoller sei, wenn Europa Bildung und Training für Menschen in Ägypten anbiete, um sie zu befähigen, in Ägypten Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen. Viel wurde von der EU über sogenannte Mobilitätspartnerschaften geredet, doch sei dieser Begriff bislang eine leere Hülle geblieben.

Europäische Migrationspolitik:
„Bewegung in den Beziehungen?“

„Wir müssen schon vor der Grenze handeln, dort wo die Probleme entstehen“, sagt Frontex-Chef Laitinen in einem kurzen Ausschnitt aus dem Film „Like a Man on Earth“ zu Beginn des Panels. Seine Wortwahl verrät seine technokratische Perspektive auf Migration. Von der Stadt Kufra in Libyen und den dortigen Migrantenhaftzentren will er noch nie gehört haben. In manchen Gefängnissen dort seien sicher Verbesserungen möglich.  Dass die Häscher der libyschen Polizei festgenommene und abzuschiebende Migranten an Menschenschmuggler verkaufen, die sie zurück über die Grenze bringen, könne seine Organisation nicht ändern.

Das Panel, das Mekonnen Mesghena von der Heinrich-Böll-Stiftung leitete, drehte sich um die europäische Verantwortung im Umgang mit Migration. Der italienische Schriftsteller und Journalist Gabriele del Grande betreibt seit 2006 den Blog Fortress Europe. Die neueste Meldung dort: Seit 1988 haben beinahe 20.000 Menschen den Versuch, nach Europa zu gelangen, mit dem Leben bezahlt. Sie sind auf dem Meer verschollen, auf der Überfahrt verstorben oder haben die Durchquerung der Sahara nicht überlebt.

Doch heute wolle er über Jugend, über Träume und Rebellion reden, über Mythen und Bilder, sagte del Grande. In Tunis hätten Jugendliche nach dem Sturz Ben Alis den Slogan an eine Wand gemalt: „Ich will nicht in einem Boot nach Italien fahren“. Sie wollten lieber Demokratie im eigenen Land. Dennoch stieg schlagartig die Zahl der Bootsflüchtlinge. Sie hätten ihm in Lampedusa eine andere Logik dargelegt: „In der Revolution haben wir vieles gelernt und den Mut gewonnen, in einem kleinen Boot über das Meer zu fahren.“

Er schilderte die Bedeutung des arabischen Wortes „Harraga“ (Verbrennen – und zwar der Papiere), das zu kulturellen Chiffre für Auswanderung geworden ist. Es gibt Rai-Musik, YouTube-Videos, einen deutschen Dokumentarfilm und einen Roman dieses Titels von dem Algerier Boualem Sansal, auch ein Fotoprojekt aus Tanger. Harraga werde als Abenteuer begriffen, aber auch als Schande – selbst in Nordafrika gebe es verschiedene Perspektiven.

Einsam im Europaparlament

Ska Keller, Grünen-Abgeordnete im Europaparlament, beschrieb noch einmal, wie der arabische Frühling jene in Europa aufgeschreckt habe, die sich vor Fremden im Allgemeinen fürchten und den Ansturm von Flüchtlingen erwarteten. Der blieb zwar aus, aber die EU nahm diese Ängste zum Anlass, neue Mittel zur Grenzsicherung zu konzipieren. Die Folge: „Das Recht auf Asyl wird völlig untergraben, das Recht auf Verlassen eines Landes einschließlich des eigenen gibt es dann nicht mehr“, sagte sie. Das passe nicht zu einer Europäischen Union, die sonst großen Wert auf Menschenrechte lege. Leider stünden die Grünen im Europaparlament mit dieser Haltung ziemlich allein.

Der Volkswirtschaftler und Arabist Urs Frühauf arbeitete für den Norwegian Refugee Council am Horn von Afrika und aktuell für das UNHCR in Damaskus. Er wurde gefragt, ob der Aufbau von Grenzsicherungen eigentlich Migranten abschrecken könne. Jeder wisse von den Gefahren und Kosten einer solchen Reise, sagte Frühauf. Falls sich Hürden auftun, verschieben sich in der Regel nur die Routen. Die Flucht werde teurer, wovon nur die Schmuggler profitierten. An der Palette von Motivationen ändere sich ja nichts: In Ostafrika seien dies fehlende Arbeit, fehlende medizinische Versorgung, aber auch die Vermeidung von Militärdienst, von der Verwicklung in einen kriegerischen Konflikt oder die Flucht vor Dürre und anderen klimatischen Veränderungen. Er sah aber die nordafrikanischen Länder nicht in einer ausreichend starken Position, dass sie an der Abwehrhaltung der europäischen Regierungen Entscheidendes ändern könnten – sofern sie es denn wollten. Von europäischer Seite wurde die Chance auf eine Veränderung der Beziehungen zu Nordafrika nach den Umbrüchen nicht ergriffen, fand auch Ska Keller. Dabei habe Migration immer etwas Bereicherndes, sagte sie, was man in Deutschland eigentlich wissen sollte. „Die deutsche Wirtschaft wäre nicht da, wo sie ist, wenn es nicht Migration gegeben hätte. Leute, die neue Ideen bringen, neue Vorstellungen, Risikobereitschaft und Abenteuerlust, die einfach etwas anfangen.“

Vor der Filmvorführung fesselte noch die Aufführung des Theaterstücks „Asylmonologe“ des Theaters für Menschenrechte und begeisterten die MusikerSuleymane Touré und Nasser Kilada das Publikum.