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Yassin Adnan: Von der Unfähigkeit die arabisch-afrikanische Nachbarschaft mit Leben zu füllen

Der marokkanische Autor Yassin Adnan.

7. Oktober 2009
Von Yassin Adnan


Von Yassin Adnan

In der Kultursendung "Macharif", die ich für das erste Programm des marokkanischen Fernsehens konzipiert habe und moderiere, bin ich bestrebt, den verschiedenen Bestandteilen der marokkanischen Kultur Rechnung zu tragen. Die Sendung beschäftigt sich im Wesentlichen mit Literatur und Philosophie. Die Natur der marokkanischen Kultur hat jedoch mein Interesse für die Frankophonen geweckt. Und auch andere Gruppen ziehen von Zeit zu Zeit meine Aufmerksamkeit auf sich: zum Beispiel die Kultur der Imazighen, die im arabischen Dialekt schreibenden Autoren und diejenigen, die auf Spanisch schreiben. Darüber hinaus jüdische Autoren, ferner die muslimische Philosophie oder auch die andalusische Komponente der marokkanischen Kultur.
Im Laufe der einzelnen Sendungen und durch die Vielzahl von Identitäten, auf die ich dabei stieß, habe ich bemerkt, dass es noch einen anderen identitätsstiftenden Bestandteil von Gewicht, aber ohne Interessenvertretung gibt. Niemand kümmert sich darum und niemand hat mir dazu geraten, mich damit zu beschäftigen.

Warum stellen wir uns nicht auch als Afrikaner dar?
Alles hat mit einer kleinen Frage seinen Anfang genommen: Wie verhält es sich mit dem afrikanischen Teil unserer Kultur? Bedeutet unsere Existenz auf diesem Kontinent nur einen geographischen Irrtum? Oder ist unsere africanité nur eine kulturelle Zugehörigkeit? Genügt die territoriale Zugehörigkeit zum afrikanischen Kontinent, um sich als Afrikaner zu sehen? Warum beschäftigen sich unsere Künstler und unsere Schriftsteller denn nicht mit diesem wesentlichen Bestandteil unserer marokkanischen Identität? Warum bildet der arabische Kontext den Rahmen unserer marokkanischen Literatur? Oder vielleicht betrachten wir sie ja auch noch auf Besonderheiten unserer Berberkulturen hin oder mit Hinblick auf die französischsprachigen Schriftsteller von einer inneren frankophonen Dynamik her? Hingegen haben wir uns nie bei folgender Frage aufgehalten: Warum stellen wir uns nicht auch als Afrikaner dar? Oder auch, was fehlt der literarischen Produktion unserer marokkanischen Autoren, um auch als afrikanische Literatur gelten zu können?

Mit diesem kleinen Fragenkatalog habe ich mich auf die abenteuerliche Suche gemacht, einen marokkanischen Intellektuellen aufzutreiben. Dabei habe ich festgestellt, dass es keinen einzigen Spezialisten gibt, der imstande wäre, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Alle haben ihre Ausreden gebracht: „Was soll ich dir dazu sagen, mein Freund? Erfordert dieses Thema einen Anthropologen? Nein, dieses Thema ist schwierig. Ich gratuliere dir zu dieser Idee. Du brauchst einen Historiker und zugleich Spezialisten der saadischen Dynastie, der dich über die Epoche aufklärt, in der Marokko über den Sudan herrschte.“

Africanité und Negritude
Ich war schon soweit, die ganze Frage der africanité fallen zu lassen, als das Buch des marokkanischen Kritikers Ben Issa Bouhmala mit dem Titel „Schwarzafrikanische Tendenzen in der modernen Dichtung, ausgehend von den Arbeiten des sudanesischen Dichters Mohammed El Faytouri“  erschien. Ich sagte mir: Hier liegt vielleicht die Lösung.

Ben Issa nahm also an meiner Sendung teil. Er war begeistert über sein Buch sprechen zu können, das eigentlich eine Habilitationsschrift war. Anfangs richtete ich meine Sendung auf El Faytouri und seine herausragenden sprachlichen Versuche in der sudanesischen Dichtung aus, bevor ich meinen Gast zur eigentlichen, zur zentralen Fragestellung hinführte: Wenn Faytouri der einzige Dichter arabischer Sprache ist, der eine afrikanische Dichtung geschaffen hat, warum tun es ihm die maghrebinischen Autoren nicht nach? Das Zauberwort, das Ben Issa immerfort wiederholte, ist der Begriff der négritude und die damit verbundene Ideologie. Welche Erklärung soll man dafür anführen, dass diese Strömung nicht in die französischsprachige Literatur Eingang gefunden hat, vor allem nicht in die Bücher derjenigen Marokkaner, die in Frankreich leben und mit ihren schwarzafrikanischen Schriftstellerkollegen in Berührung gekommen sind?

Wenden wir uns wieder unserer arabischen Dichtung zu: Warum ist die zeitgenössische sudanesische Dichtung die einzige in der arabischen Poesie, der es gelungen ist sowohl die arabische als auch an die schwarzafrikanische Tradition zu vereinen, die doch zwei gänzlich verschiedene Weltauffassungen beinhalten? Warum besitzt die marokkanische Literatur nicht die gleiche Dualität? Dabei sind wir doch in einer ähnlichen Lage wie der Sudan: Kein rein arabisches Land, sondern eines mit einem schwarzafrikanischen Element? Außer den Imazighen, den Ureinwohnern der Region, gibt es unter uns einen erheblichen Anteil von schwarzafrikanischen Mitbürgern.

Von der Unfähigkeit die arabisch-afrikanische Nachbarschaft mit Leben zu füllen
Ich möchte mich nicht auf die Erörterung der speziellen Frage des Unterschieds zwischen négritude und arabité einlassen, ebenso wenig auf die Frage, woher es kommt, dass das Zugehörigkeitsgefühl bei einem schwarzen Dichter stärker ausgeprägt ist als bei einem arabischen. Ich möchte unser Thema noch durch zusätzliche Fragen erweitern: Wenn wir hierbei einräumen, dass es keinerlei Überschneidung zwischen négritude und arabité gibt, bleiben wir trotz allem in dem Zustand eines unlösbaren Nebeneinanders zwischen diesen beiden Zugehörigkeiten stecken. Warum bleibt dieses Nebeneinander ein Fehlschlag? Warum gab es trotz der geographischen Entfernung Wechselwirkungen zwischen den Schwarzen Afrikas und den Schwarzen Amerikas, während wir unfähig sind, die arabisch-afrikanische Nachbarschaft mit Leben zu füllen? Wir dürfen nicht allein den geographischen Gegebenheiten die Antwort überlassen. Die antiken Geographen behaupten, dass Wüsten die Völker voneinander trennen, wohingegen die Meere sie einander annähern. Ist also das Problem durch die Wüste verursacht, die uns trennt?

Nur Gnawa-Musik macht eine Ausnahme
Ich glaube, das Problem stellt sich vor allem auf dem Gebiet der Philosophie und der Literatur. Denn es gibt andere künstlerische und schöpferische Bereiche, die diese Diskussion nicht erfordern. Nehmen wir als Beispiel die berühmte Gnawa-Musik. Dabei handelt es sich um alte marokkanische Musik, in der sich afrikanische Rhythmen, schwarzafrikanische Literatur und arabisch-islamische Sufi-Texte mischen. Warum also hat die Gnawa-Musik zuwege gebracht, womit die Literatur gescheitert ist? Diese Musik liefert einen eindeutigen Beweis für die africanité der Marokkaner, ohne dass dies in Widerspruch zu anderen identitätsstiftenden Elementen stünde.

Es gibt noch andere Fragen, die mir nicht aus dem Sinn gehen. Und wie Sie bemerken, habe ich keine Antworten darauf. Ich möchte aber Ihre Verwunderung und Ihr Erstaunen noch vergrößern. Einmal saß ich mich im Zug Marrakesch-Casablanca, als ein etwa 70 Jahre alter Mann mich anhielt, um sich erst zu vergewissern, dass ich tatsächlich der Moderator von "Macharif" war. Er sagte danach mir: "Erlauben Sie mir in ganz besonderer Weise meine Bewunderung für die Sendung auszusprechen, in der Sie über die africanité der Marokkaner sprachen. Glauben Sie mir, mein Sohn, Sie haben mir zum ersten Mal in meinem Leben klargemacht, dass ich Afrikaner bin". Seltsam, nicht wahr?

» französische Version (PDF, 2 Seiten, 17 kB)

» arabische Version  (PDF, 2 Seiten, 102 kB)

Yassin Adnan

ist vor allem für seine wöchentliche Kultursendung "Macharif" im marokkanischen Fernsehsender TVM bekannt, die 2007 und 2008 als beste Kultursendung ausgezeichnet wurde. Darüber hinaus ist er für den marokkanischen Rundfunk, als Korrespondent für die libanesische Tageszeitung "al-Akhbar", das Magazin "Dubaï Al-Thaqafiya" sowie als Redaktionsmitglied der libanesischen Kulturzeitschrift "Zawaya" tätig.