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Kay Sexwale: Offener Brief an die noch lebenden Angeklagten des Rivonia-Prozesses

Lesedauer: 6 Minuten

Lieber Ahmed Kathrada, Andrew Mlangeni, Dennis Goldberg und Nelson Mandela, 

ich grüße Euch im Namen des fortdauernden wirtschaftlichen Freiheitskampfs unseres Volkes. Euer Mut im Kampf für die Befreiung unseres Landes findet die verdiente Wertschätzung.

Mir wurden die ANC-Parolen bereits mit der Babynahrung eingeflößt, aber ich glaube, es ist an der Zeit, Südafrika ganz bewusst über den ANC zu stellen.

Für viele ist die Regierungspartei eine Religion, der sie – ohne zu fragen oder daran zu zweifeln – folgen.

Eure Opfer, Kameraden, brachtet ihr doch sicherlich nicht für einen Einparteienstaat mit einer einzigen Gewerkschaft, oder?

Die Zeit ist reif für eine jüngere, patriotische und selbstlose Führung, wie die Eure 1964.

Die mitdenkende Öffentlichkeit beklagt unseren holprigen Übergang von der Befreiungsbewegung zur politischen Partei. Zur Erklärung wird darauf verwiesen, dass eine Befreiungsbewegung zentral gesteuert und verdeckt arbeiten muss, während eine moderne Regierungspartei ihren Mitgliedern und der Gesellschaft Mitspracherecht einräumt und dadurch transparent wird.

Die täglichen Medienberichte zu der regelrechten Seuche an Korruptionsvorfällen in der Regierung, die der ANC anscheinend stillschweigend duldet, haben zu einem tiefgreifenden Verlust an öffentlichem Vertrauen geführt.

In der öffentlichen Wahrnehmung geht es bei der Debatte um die Führung in Mangaung letzten Endes darum, wer weiterhin die grassierenden Plünderungen der staatlichen Ressourcen zulässt, sich auf die gefährlich schiefe Bahn des Abrutschens in ein Stammessystem begibt, oder wer in der Lage sein könnte, etwas daran zu ändern.

Ehrlich gesagt stehen die Namen der Top-Anwärter, die in Umlauf sind, alle gleichermaßen für die Fäulnis und Zersetzung in der Bewegung.

Die Massen, die normalerweise vor den Wahlen von den politischen Parteiführern hofiert werden, verleihen ihrer Unzufriedenheit auf der Straße lautstark Ausdruck.

Dieses Jahr haben sogar Sofa-Kritiker der Mittelklasse ihre Designer-Turnschuhe angezogen und gegen die E-Mautgebühr [2]  demonstriert, deren Einführung ebenfalls von Korruptionsvorwürfen begleitet wird und die eine zusätzliche Belastung für unsere ohnehin von lächerlich hohen Steuern bereits ausgedünnte Brieftasche bedeutet.

Im März setzte Polizeiminister Nathi Mthethwa das Parlament davon in Kenntnis, dass Versammlungen für Lohnforderungen in den Jahren 2007 bis 2010 der häufigste Grund für Polizeieinsätze waren, und dass Unruhen, die ein polizeiliches Eingreifen erforderten, meist mit Angelegenheiten öffentlicher Dienstleistungen in Zusammenhang standen.

Nach achtzehn Jahren Demokratie lässt sich die Schuld für viele soziale Missstände zwar immer noch der Apartheid zuschreiben, doch wir müssen auch unsere Führer dafür zur Rechenschaft ziehen.
 
Das schäbige und schockierende Nichtausliefern der Schulbücher in Limpopo war schon schlimm genug. Aber das Schlimmste, was die südafrikanische Seele in diesem verhängnisvollen 100. Jahr des ANC erschütterte, war das schändliche Marikana-Massaker (https://www.boell.de/weltweit/afrika/afrika-marikana-streik-minenarbeiter-suedafrika-15722.html), das an das Sharpeville-Gemetzel erinnert.

Es hob Aspekte sämtlicher Missstände hervor, die die schwarze Gesellschaft unter der ANC-geführten Regierung plagen: Polizeiliche Willkür und Gewalt, Lohnstreiks, unternehmerische Gier, fehlende Umverteilung der natürlichen mineralischen Rohstoffe, mangelnde Umsetzung der wirtschaftlichen Beteiligung Schwarzer, Gewaltverbrechen, Versagen bei den Versorgungsleistungen – darunter die menschenunwürdigen Slumsiedlungen – die Arbeitslosenproblematik und vieles mehr.

Der Mann, der sich in diesem heillosen Durcheinander nach vorn drängte und die Zügel an sich riss, war Julius Malema (https://www.boell.de/weltweit/afrika/afrika-malemas-magie-15311.html), ein wenn auch inzwischen verstoßenes  Kind der Bewegung. Im Alleingang machte er innerhalb weniger Tage das bisschen Vertrauen zunichte, das mir in die alternde ANC-Führung noch geblieben war.

Ich wurde von mutigen Männern und Frauen aufgezogen, Leuten wie Euch, den Verurteilten von Rivonia, denen meinesgleichen jetzt erzählen müssen, dass es Zeit ist loszulassen.

Der ANC war noch nie so selbstzerstörerisch wie heute.

COSATU, der mit dem ANC verbundene Gewerkschaftsdachverband, hat die Wirtschaft mit ihrer Verhandlungsstrategie in den freien Fall getrieben. Das Scheitern der COSATU-Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik, die darauf abzielte, den rassistischen Status quo aufrecht zu erhalten [3] , beschert uns gerade einen Streik nach dem anderen. Ich warte darauf, dass sie endlich aufhören die Schuld auf die „rechtsextreme dritte Kraft“ zu schieben und ihren Teil der Verantwortung übernehmen.

Von dem jüngsten Irrsinn will ich lieber gar nicht anfangen: den mehr als 200 Millionen Rand teuren Nkandla-Renovierungen [4], dem 5-Milliarden-Rand-Rettungspaket für die South African Airways (SAA) und der unerbittlichen Haltung der Regierung in der E-Maut-Angelegenheit,

2009 hielt ich mich länger als sonst in der Wahlkabine auf und quälte mich damit, ein Kreuz neben das Foto des Mannes zu machen, von dem ich instinktiv wusste, dass er nichts Gutes verheißen konnte.

Meine Liebe für den ANC gewann die Oberhand über meine Vorbehalte.

Bei den letztjährigen Kommunalwahlen stellte ich mich quer, und stimmte zwar in meinem Wahlbezirk für den ANC, aber für eine andere Partei in der Stadt.

Ich bin sicher, Johannesburgs Bürgermeister Parks Tau ist ein fähiger Mann, aber mit diesem Stimmzettel begann meine Rebellion gegen einen vom Präsidenten Jacob Zuma angeführten ANC.

2014 überhaupt nicht zur Wahl zu gehen, wie viele drohen, hieße das Erbe meines Onkels Lesetja Sexwale[5] und seinen vielen gefallenen Kameraden, die im Kampf für mein Wahlrecht ihr Leben ließen, mit Füßen zu treten.

Es wäre respektlos gegenüber dem Kampf  von Frauen und Männern wie ihm und Euch, die ihre Jugend dafür geopfert haben.

Und persönlich würde es einen Verrat an der kleinen Kay bedeuten, die 1982 bei einer der grenzüberschreitenden Militäraktionen, mit denen das Apartheidregime Umkhonto-we-Sizwe-Frontkämpfer [6] jagte, darunter auch mein Vater und Chris Hani, in Lesotho [7] schwer verletzt worden war.

Ich weiß nicht, für wen ich stimmen werde. Alles was ich weiß ist, dass ich nie mehr meine Zustimmung dafür geben werde, dass Zuma ein Amt erlangt.

Ich bin mir sicher, dass weder Onkel Lesetja noch Onkel Chris meine Entscheidung als Verrat an den Opfern, die sie gebracht haben, ansehen würde. Und ich vertraue darauf, dass auch ihr es nicht tut.

Ich stimme für Südafrika.


Kay Sexwale ist Medien-und Kommunikationsstrategin mit speziellem Interesse an aktuellen Themen und Post-Apartheid-Erfahrungen.

Ihr Artikel ist am 14.10 2012 in der Sonntagzeitung „City Press“ (www.citypress.co.za) erschienen. Einer der Angesprochenen, Dennis Goldberg, hat ihr, ebenfalls in „City Press“, am 24.11.2012 geantwortet. Von Andrew Mlangenis Reaktion berichtete Moipone Malefane in der „Sunday World“ (online am 26.11.2012)  


Fussnoten

[1] Der Rivonia-Prozess ist nach einem Vorort von Johannesburg benannt. Dort wurde am 11. Juli 1963 die Führungsspitze des bewaffneten Flügels (Umkonto we Sizwe) des ANC festgenommen. Nelson Mandela war schon vorher verhaftet worden. Die meisten  Angeklagten wurden im Juni 1964 wegen Sabotage, Umsturzversuches und kommunistischer Aktivitäten zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie wurden erst 1990, im Zuge der Abschaffung der Apartheid, rehabilitiert.

[2] Für ausgebaute und neue Straßen in der Provinz Gauteng sollten 2012 elektronisch Gebühren (e-tolling), eingeführt werden; dagegen hat sich eine breite Koalition von Bürgern und Interessengruppen gebildet. 

[3] COSATU wird von Kritikern vorgehalten, die Arbeitsplatzinhaber zu Lasten der Arbeitslosen zu begünstigen und seinen Funktionären Privilegien zu verschaffen.

[4] In Nkandla in KwaZulu-Natal (Ost) liegt Jacob Zumas privates Anwesen. Im Herbst 2012 wurde bekannt, dass 238 Millionen Rand (21,4 Mio. Euro) für den Ausbau ausgegeben wurden, von denen Zuma selbst nur 5 Prozent getragen haben soll.

[5] Joseph Lesetja Sexwale ist im August 1981 bei einem Feuergefecht zwischen seiner Guerillaeinheit und der südafrikanischen Polizei erschossen worden.

[6] Umkhonto we Sizwe (Abkürzung MK; IsiZulu und isiXhosa für „Der Speer der Nation“) war der militärische Arm der des African National Congress (ANC), der gegen die Apartheid in Südafrika kämpfte.

[7] Die weiße Minderheitsregierung Südafrikas überschritt wiederholt die Grenze zu Lesotho um dort lebende ANC-Anhänger zu verfolgen. Am 9. Dezember 1982 wurden bei einem Angriff Südafrikas über 40 Menschen getötet, viele weitere verletzt.