Ich lebe jetzt seit vierundzwanzig Jahren außerhalb von Togo. Jedes Jahr kehre ich für ein oder zwei Monate dorthin zurück, aber ich weiß nicht genau, wie das Leben in diesem Land heute für die jungen Menschen aussieht. Für mich ist der 27. April 1960 ein ebenso unvergessliches Datum wie mein eigener Geburtstag. Mit ihm verbindet sich der Name eines großen Mannes, des einzigen, den wir bis zu diesem Tag in Togo hatten: Sylvanus Olympio, der das Land in die Unabhängigkeit führte. Olympio wurde drei Jahre später von einem Mann ermordet, der uns anschließend achtunddreißig endlose Jahre „regierte“. Er ersetzte als Nationalfeiertag den 27. April durch das Datum seines sinnlosen Eintretens in unsere Geschichte. Es fällt mir schwer, mir dieses Individuum, das im Februar 2005 endlich starb, ins Gedächtnis zu rufen. Ich erfuhr die Nachricht seines Todes, als ich auf dem Flughafen in Bamako in Mali gerade aus dem Flugzeug stieg, und ich erinnere mich, dass mich der Mann an der Hotelrezeption in dieser Nacht überschwänglich beglückwünschte.
Sylvanus Olympio hatte am Morgen des 27. April 1960 die Unabhängigkeit ausgerufen. Er war achtundfünfzig Jahre alt. Die Diskussionen der Historiker und Intellektuellen sind hier nicht sonderlich von Belang. Als Olympio am 13. Januar 1963 in aller Hergottsfrühe getötet wurde, verlor Togo mit einem Schlag die Orientierung. Daran kann kein Zweifel bestehen. Die Unabhängigkeit, die ein Mann, der in England in moderner Wirtschaft und Politik ausgebildet worden war, unter dem Einsatz großer Geistesanstrengungen erzwungen hatte, war plötzlich verloren. Ich beklage mich nicht, wenn ich dies schreibe; ich klage auch nicht an; den Grund dafür werde ich versuchen zu erklären.
Was auf einer Afrikakarte als Togo ausgewiesen ist, ist eine Schöpfung von Bismarcks Deutschland. Der kaiserliche Gesandte Gustav Nachtigal unterzeichnete am 5. Juli 1884 einen Vertrag, der das Protektorat über das Küstengebiet festschrieb. Das so genannte Togo entstand im Laufe der deutschen Siege über die „togolesischen“ Völker im Landesinneren. Jedenfalls begann alles am 5. Juli 1884. Vor diesem Datum waren unsere Vorfahren, regiert von einheimischen Fürsten, Häuptlingen oder welchen Stammesvertretern auch immer, unabhängig und souverän. Seit dem 5. Juli 1884 standen sie unter Vormundschaft, bis 1914 unter deutscher, dann unter französischer.
Wenn Sie Steine kolonisieren, sind diese tausend Jahre später immer noch Steine. Die Menschen allerdings entwickeln sich, verändern sich, passen sich an. Nach sechsundsiebzig Jahren kolonialer Unterwerfung erwachten nun die Geister und machten sich auf die Suche nach Freiheit. Neue Generationen kämpften gegen die 1884 begonnene Fremdherrschaft. Die Unabhängigkeit wurde 1960 von den Kindern und Enkeln derer zurückerobert, die 1884 von den Deutschen überrascht worden waren. Beachten Sie, was ich gerade sage: 1960 wurde die Souveränität zurückerlangt, die 1884 verlorengegangen war. Gewiss geschah dies in der neuen und modernen Gestalt eines Staates nach westlichem Muster, einer erweiterten und, sagen wir es nur, völlig heterogenen Gemeinschaft; dennoch wurden wir mit Sylvanus Olympio wieder unseren Vorfahren ähnlich, die keine europäischen Herren hatten.
Der 27. April ist also ein großes Datum. Im Schulunterricht wurde mir der Eindruck vermittelt, als handele es sich dabei um eine greifbare Sache aus der Natur, wie beispielsweise ein Fluss, der fließt, der außerhalb von mir existiert. Man hätte mir sagen müssen, dass 1960 im Grunde 1884 vor der Ankunft des imperialen Konsuls Gustav Nachtigal an unserer Küste ist und dass das, was wir im 19. Jahrhundert gegenüber den Deutschen nicht zu verteidigen wussten oder konnten, ein zweites Mal verlorengehen konnte. Das geschah 1963. Es gibt keine Unabhängigkeit ohne die Fähigkeit, sie zu hüten. In unserer unvollkommenen Welt sind nicht auf der einen Seite unschuldige Völker und auf der anderen bösartige Nationen; vielmehr gibt es diejenigen, die organisiert sind, und diejenigen, die, aus den verschiedensten Gründen, Schwierigkeiten haben, es zu sein. Trotz des Mordes an Sylvanus Olympio und der darauf folgenden Unterwerfung unseres Schicksals unter die Herrschaft der Vasallen des ehemaligen Kolonisators ist der 27. April 1960 ein besonderes Datum, denn es bezeichnet für uns den Anbruch eines modernen Zeitalters sowie den Beginn unserer Verantwortung in der Geschichte nach der Finsternis der Vergangenheit.
Der Autor Théo Ananissoh wurde 1962 in der Zentralafrikanischen Republik als Sohn togolesischer Eltern geboren. Er besitzt die togolesische Staatsanghörigkeit. Er studierte moderne Literatur und vergleichende Literaturwissenschaften an der Université de Paris 3, Sorbonne Nouvelle und lehrte in Frankreich und Deutschland. Seit 1994 lebt er in Deutschland. Ananissoh hat drei Romane bei Gallimard in der Buchreihe „Continents noirs“ veröffentlicht sowie einen Bericht über die Jugend in Tunis:#
- Lisahohé, Roman, Gallimard, Paris 2005.
- Un reptile par habitant, Roman, Gallimard, Paris 2007.
- Ténèbres à midi, Roman, Gallimard, Paris 2010.
- 1 moins un, Bericht (in: Vingt ans pour plus tard), Elyzad, Tunis 2009.