Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Zur Anatomie der Krise

Lesedauer: 10 Minuten

27. August 2009

Mit Prof. Franz Radermacher und Prof. Brigitte Young
Moderation: Prof. Claudia von Braunmühl

Bericht von Hilal Sezgin

Die Sitzung am Samstagvormittag – mit den Inputgebern Prof. Franz Radermacher und Prof. Brigitte Young sowie Prof. Claudia von Braunmühl in der Funktion der Moderatorin – gab auch denjenigen, die sich auf wirtschaftswissenschaftlichem Parkett nicht allzu sicher fühlen, einen hervorragenden Einblick in die mutmaßlichen Ursachen der Finanzkrise. Über diese Grundlagen hinaus bot sie die Möglichkeit, zwei Experten im Meinungsstreit zu beobachten, was die Hauptursachen der Krise sowie die empfohlenen nächsten Schritte angeht.

Geld als „iterierte Wurst“ – Der Input von Prof. Franz Radermacher

Zunächst gab Prof. Franz Radermacher, Vorstand des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung Ulm, Mitglied des Club of Rome und Mitinitiator des Global Marshallplans, eine Einführung in diejenigen Mechanismen des Finanzmarktes, die die Krise überhaupt auslösen konnten. Entgegen dem, was aus den Medien in den vergangenen Monaten oft zu hören war, handelt es sich laut Radermacher keineswegs um ein durch unverantwortlich handelnde Einzelindividuen ausgelöstes Phänomen (darin stimmte ihm später auch Prof. Young ausdrücklich zu). Vielmehr sähen wir hier die auf die Spitze getriebenen Konsequenzen eines finanzwirtschaftlichen Systems, das an sich über Jahre hinweg gut funktioniert und durchaus seine Berechtigung gehabt habe.

Im Folgenden eine kurze Wiedergabe von Radermachers Erläuterungen zur Entwicklung des Finanzwesens in den letzten zwei Jahrzehnten: Geld, erinnerte Radermacher, existiert keineswegs vorrangig in Form von Scheinen und Münzen, die von den Notenbanken ausgegeben werden; der bei weitem größte Teil existierenden Geldes besteht „nur“ in Form von Bankengeld. Es wird im Wesentlichen nicht von den Notenbanken erzeugt, sondern von den Banken, nämlich in dem Moment, wo sie Kredite vergeben; das Geldvolumen schrumpft wieder, sobald der Kredit zurückgezahlt ist. Nun können Kredite nicht in beliebiger Höhe vergeben werden, sondern es besteht eine Hinterlegungspflicht. Für die Menge Geldes, über die eine Bank an Eigenkapital bei der Gewährung von Krediten verfügen muss, hat der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht 1988 in einem „Basel 1“ genannten Paket von Regelungen den Satz von ungefähr 8,5% festgelegt: Das hieß umgekehrt, dass eine Bank etwa das 13fache ihres Eigenkapitals an Geld erzeugen konnte.

In der Reform von 1999, die unter der Bezeichnung „Basel II“ bekannt ist, wurde dieses Verhältnis geändert, indem man nun die Gewährung von Krediten nicht mehr primär an die Menge hinterlegten Eigenkapitals, sondern an die Vertrauenswürdigkeit der Kreditnehmer knüpfte. Je höher die Sicherheit war, dass ein Kredit zurück gezahlt würde, desto weniger Eigenkapital musste für sie hinterlegt werden, und desto geringer waren die vom Kreditnehmer zu zahlenden Zinsen. Dies führte dazu, dass vor allem Banken und ihre Töchter hohe Kredite zu niedrigen Zinsen erhielten, wobei die Kreditmenge nicht mehr das 13fache, sondern ungefähr das 40fache des hinterlegten Eigenkapitals betrug. Die Gründe für dieses System relativ großzügiger Gelderzeugung sind, so Radermacher, nachvollziehbar: Hoch verschuldete Staaten brauchten Geld, und das Wachstum in China und Indien wollte finanziert werden. Das beschriebene System hat in den letzten zwei Jahrzehnten also ein stattliches Wachstum ermöglicht, nur musste man dafür eben bestimmte Sicherheiten wie den Faktor 13 aufgeben.

Allerdings hielt das Finanzwesen hier nicht inne, sondern schuf weitere Möglichkeiten der von der Realwirtschaft unabhängigen Wertschöpfung: Zum einen das System der Verbriefung, in dem Kredite erzeugt und dann verkauft werden konnten, wodurch das Eigenkapital wieder frei wurde; die Sicherheit bzw. das Risiko, ob der Kredit zurückgezahlt wird, liegt damit bei dem, der den Kredit aufgekauft hat. Diese Kredite werden nun je nach Höhe des jeweiligen Risikos eingestuft, „tranchiert“, und entsprechend verzinst. Auf diese Weise lässt sich ein Kredit gleichsam in einzelne Portionen zerlegen, von denen einige als AAA zertifiziert sind, während in der Equity Trance das Risiko (und die Zinsen) hoch sind. Zum zweiten schuf man das System des credit default swap, das wie eine Versicherung geführt wird, als Gegenleistung für die vom Kunden zu zahlenden Gebühren aber keine wirklichen Garantien gibt.

Radermacher führte hier das Bild der „iterierten Wurst“ ein, die nur zu einem minimalen Teil noch aus dem Fleisch besteht, mit dem man es in Verbindung bringt, sondern aus der Wurst, die von einer Wurst gemacht wurde – analog zu der geringen Menge tatsächlich vorhandenen Kapitals, die der „garantierten“ Summe von 60 000 Milliarden vor der Krise gegenüberstand. 120 Milliarden Dollar Gebühren haben die Kunden für diese vermeintlich garantierten Papiere gezahlt. Es war ein System der völligen Intransparenz des Finanzwesens entstanden, das, so Radermacher, vor allem die Nationen USA und UK forcierten und noch auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 gegen den Protest der anderen Länder durchsetzen konnten. Auf diese Weise konnten der Anschein von Geldmengen erzeugt werden, die so nicht bestanden.

Eigenheime und Hypotheken - Der Input von Prof. Brigitte Young

Auch Prof. Brigitte Young – Politökonomin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Mitglied der Warwick Kommission „On the Future of Trade“ und des EU-Forschungsnetzwerks GARNET - betonte, dass es nicht, wie derzeit oft behauptet, die „Gier“ Einzelner gewesen sei, die die Finanzkrise hervorgerufen habe. Man habe zwar auch das Versagen einzelner Manager beobachten können, doch die tatsächlichen Ursachen lägen im Zusammenwirken einer innenpolitischen Konstellation (vornehmlich der USA) und eines internationalen Kontexts. Dass die heutige Situation mit der der dreißiger Jahre zu vergleichen sei, wie Prof. Werner Abelshauser (Bielefeld) am Vortag ausgeführt hatte, hielt Young für wenig plausibel.

Während Young die innenpolitische Lage der USA skizzierte, machte sie zunächst auf einen bisher wenig beachteten Teilaspekt der Finanzkrise aufmerksam, nämlich den privaten Immobilienmarkt in den USA. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren war in den USA ein Stagnieren der Löhne und eine gleichzeitige Reduzierung der staatlich finanzierten Sozialleistungen festzustellen; letztere mussten von nun an privat finanziert werden. Dafür wurde in der Regierungszeit von Ronald Reagan bis zu der von George W. Bush das Subprime-Modell propagiert, mit dem die breite Bevölkerung über entsprechende Kredite zu EigenheimbesitzerInnen werden sollten: Immobiliengesellschaften  als eine Art Sozialhilfe für die Massen. Dieses Modell wurde mithilfe eines Grundrechtsdiskurses populär gemacht, demzufolge jede/r noch so mittellose AmerikanerIn die Möglichkeit privaten Immobilienbesitzes habe; flankiert wurde dies durch eine entsprechende Auslegung der Antidiskriminierungspolitik.

Die durchaus rationalen Prämissen dieser offensiven Home-Ownership-Politik war die Annahme stetig steigender Immobilienpreise, weswegen man aus der unterstellten Vermögensmasse der Immobilie immer weitere Summen entnehmen und für konsumptive Zwecke verwenden konnte. Die Gelder wurden vor allem für die Finanzierung der Rente, des Studiums, für Gesundheitskosten, Auto, Startupkapitale für Kleingewerbe sowie für den Ausgleich von Kreditkartenschulden verwandt. Die 2003 bis 2007 aus diesen Häusern entnommene Summe betrug über eine Billion Dollar.  Home Ownership nahm zu, während gleichzeitig das Eigentum schwand, weil fortlaufend davon gezehrt wurde. Vergleiche zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen zeigen, dass die Schulden die Löhne nicht nur drastisch überstiegen, sondern das Verhältnis auch desto unvorteilhafter wurde, je prekärer die durchschnittliche Situation der jeweiligen Bevölkerungsgruppe war (am augenfälligsten bei der Gruppe alleinerziehender afro-amerikanischer Mütter). Dennoch ist das Homeownership-Modell nach Young nicht nur negativ zu bewerten; in der Tat hat es Menschen zum Aufstieg in die Mittelklasse verholfen, denen es auf anderem Weg nicht möglich geworden wäre. Auf dem Weg über diese Hypotheken wurden tatsächlich Werte kreiert.

Soweit die innenpolitische Lage, der sich eine internationale Problematik beigesellte. Während Deutschland wie China und Japan zu den Überschussländern zählt, gehören Spanien, Großbritannien und eben die USA zu den Defizitländern, die also Kapital importieren. Und das in nicht geringem Umfang: 2007 importierten die USA 44 Prozent des Weltgesamtüberschusses; diese Geschäfte wurden vor allem über Verbriefungen, wie kurz zuvor von Rademacher ausgeführt, getätigt.

Die größten Gläubiger der USA sind derzeit China, Japan und Luxemburg; jede zehnte Hypothek in den USA wurde von ausländischen Banken gekauft. Dabei dienten vor allem die beiden staatlich geförderten Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac als „Schleuse“ zwischen den verbrieften Hypotheken und internationalen Finanzmärkten. Wiederum meinte man, durch Tranchieren das Risiko streuen und minimieren zu können; mit AAA gerateten Briefen fühlten sich die ausländischen Geldgeber sicher. Nicht dabei einkalkuliert war aber die starke Verflechtung der Märkte untereinander. Durch eine solche Korrelation -  wenn beispielsweise gleichzeitig in Kalifornien und in New York Märkte einbrechen würden - würde die Risikostreuung zunichte gemacht; und genau das ist schließlich auch geschehen. 

Wie weiter? - Die Diskussion

In der anschließenden Diskussion der beiden Vortragenden kristallisierte sich eine grundlegende  Meinungsverschiedenheit heraus, was die Hauptverursacher der Krise und die Bewertung der deutschen Finanzpolitik angeht. Youngs Auffassung nach fährt Deutschland eine sehr nationalistische Krisenpolitik, in der sich Merkel und Steinbrück zudem auf Offshore-Wirtschaft und Hedgefonds konzentrierten, während tatsächlich doch die Verbriefungsmärkte zusammengebrochen seien.
Die unterschiedlichen Stile Deutschlands und der USA verdankten sich verschiedenen (Finanz)Kulturen, und diese hätten wiederum auch ihr Gutes. Die Deutschen, so Young, sparten zu viel und müssten stärker investieren (insbesondere in Bildung und Wissenschaft), die USA hätten das umgekehrte Problem. In Deutschland müsse man insbesondere den notwendigen Schwachpunkt einer exportzentrierten Wirtschaft bedenken: Wenn sich die USA, andere europäische Länder und auch China künftig zurück hielten, wer solle dann all das kaufen, was Deutschland produziert?
Anders als Young sah Radermacher hingegen in den Offshore-Steueroasen tatsächlich eins der Hauptprobleme der Krise; wie man mit Steueroasen – zudem solchen, die Länder wie die USA und Großbritannien selbst geschaffen hätten – umgehen könne, war für ihn die zentrale, nicht etwa eine zweitrangige Frage. Die Transaktionen, die derzeit auf diesem Weg getätigt würden, müssten endlich auf vernünftige Weise in die Besteuerungssysteme einbezogen werden. Allein dadurch – durch das Besteuern dieser am stärksten wertschöpfenden Prozesse - könne das Verschuldungsproblem gelöst werden. Ein großes Erschwernis sah Radermacher darin, dass die USA und Großbritannien wenig gewillt seien, am bisherigen System etwas zu ändern, und die Umbaubestrebungen der anderen europäischen Länder blockierten.

Auch Thea Dückert MdB bezog Stellung in dieser Kontroverse und gab ihren Bedenken Ausdruck, dass der jetzige Bankenrettungsfonds der Bundesrepublik so nicht funktionieren könne. Man habe in Deutschland zwar immerhin verbal anerkannt, dass es notwendig sei, die Banken zu retten, weil sonst auch die Realwirtschaft nicht funktionieren könne. Doch werde die Bankenrettung hierzulande sehr halbherzig, in den USA und Großbritannien hingegen viel entschiedener angegangen.

Willfried Mayer (Heinrich-Böll-Stiftung) machte darauf aufmerksam, dass der von Radermacher beschriebene Mechanismus gleichsam beliebiger Wertschöpfung in einer bestimmten historischen Phase vielleicht zwingend war. Den Aufbau Ost hätte man möglicherweise auf keine andere Weise finanzieren können; bevor man im Nachhinein dieses System als komplette Fehlentwicklung abtue, müsse man zeigen können, wie die Finanzierung dieses Aufbaus auf andere Weise hätte geleistet werden können. Insofern sei es etwas überheblich, wenn jetzt allerorten über das Finanz- und Bankenwesen der letzten zwei Jahrzehnte geschimpft werde, dessen Agieren immerhin genau die Leistungen erbrachte, von denen einige Länder abhängig waren.

Dieter Rulff („vorgänge“) machte auf das Paradox aufmerksam, dass zu Beginn der Krise oft gesagt wurde, wir erlebten nun die Krise des Neoliberalismus. Ein großer Teil der Krise sei aber offenbar gar nicht durch den Neoliberalismus hervorgerufen worden, sondern durch eine eher keynesianische Politik, wie zum Beispiel die von Young beschriebene Häuserkaufpolitik.
Hier widersprach Young und meinte, das  die derzeitige Diskussion unter dem Label  „Keynesianismus“ mit Keynes Wirtschaftstheorie zu tun hat. Keynes theoretische Einsichten sind viel komplexer als dies nur auf die Nachfragesteuerung zu reduzieren. Generell gab Young ihrer Enttäuschung Ausdruck, dass die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion innerhalb Deutschlands nach wie vor allem auf die Neoklassik reduziert sei. Im angelsächsischen Raum sei das anders, dort würde eine größere Breite von Theorieansätzen diskutiert. An deutschen Universitäten, bedauerte Young, fänden solche Diskussionen nicht statt, und über die Verbreitung durch die Medien werde das theoretische Monopol der Neoklassiker weiter zementiert.