Auch in diesem Jahr befassten sich Mitglieder und Gäste der Grünen Akademie im Rahmen der Sommertagung am 22./23.Juni 2012 mit der Finanzkrise. Neu war die Perspektive auf die Kapitalismuskritik selbst: Im letzten Jahr kam sie nicht mehr nur und wie zu erwarten von links, sondern auch aus dem konservativ-bürgerlichen Lager und von prominenten Fürsprechern der herrschenden volkswirtschaftlichen Lehre. Zuerst machte Frank Schirrmacher (FAZ) Schlagzeilen mit seiner Äußerung, er "beginne zu glauben, dass die Linke recht hatte". Und im Tempel der globalen Kapitalisten, in Davos, sprach der Präsident des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab davon, dass „das kapitalistische System in seiner jetzigen Form nicht mehr in die heutige Welt“ passe. Kritisch äußerte sich auch Prof. Straubhaar, Chef des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts HWWI.
Die Ursachen für die Konjunktur des Unwohlseins gegenüber „dem Kapitalismus“ liegen darin, dass mittlerweile auch in den reichen Ländern das Vertrauen erschüttert ist, dass freie Märkte für stabilen Wohlstand und Gerechtigkeit sorgen. Zweifel richten sich darauf, wie Märkte und globales Kapital eigentlich seitens „der Politik“ gesteuert, flankiert, reguliert … werden. Wie setzt Politik eigene Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen gegenüber einer supranational agierenden, als enthemmt und skrupellos wahrgenommenen Profitmaximierungslogik durch? Und: Was wären eigentlich die relevanten und erfolgversprechenden Ansatzpunkte politischer und wirtschaftlicher Eingrenzung und Steuerung? Worauf kann sich angesichts nationalstaatlicher Interessenbindungen, kontroverser Lehrmeinungen und mangelnder supranationaler Politikagenturen die Hoffnung auf Steuerung richten?
Diese Fragen waren Gegenstand der Vorträge von Prof. Joseph Vogl, Dr. Willfried Maier, Rainer Emschermann (Beitrag als PDF) und Prof. Thomas Rixen (Beitrag als PDF) und der Diskussionen.
Joseph Vogl: Souveränitätseffekte
„Das gegenwärtige ökonomische Regime produziert unkontrollierte und unkontrollierbare Souveränitätseffekte, die das Geschick unserer Gesellschaft unmittelbar bestimmen“, stellt Joseph Vogl in seinem Vortrag fest. Im Verlauf der Finanzkrise seit 2008 sei es zu Verwerfungen politischer Entscheidungsprozessen gekommen, die Vogl auch als „Sklerotisierung von Politik“ bezeichnet. Was als private US-Schuldenkrise begann und zu einem globalen Liquiditätsdrama anwuchs, mündete schließlich in einer Staatsschuldenkrise, die sich auch als eine Krise des Regierens darstellt. In seinem Vortrag skizziert Jospeh Vogl drei Thesen, um die Veränderungen und Abhängigkeiten in der Machtbeziehung von Staat und Wirtschaft aufzuzeigen.
Die gegenwärtige Krisenpolitik beschreibt Vogl als Maßnahmenpolitik: Der politischen Bedrängnis folgen ungewöhnliche Maßnahmen, die, laut Vogl, in rechtsfreien Räumen operieren. Geltende Normen wie etwa das Haushaltsgesetz werden suspendiert, so dass die Maßnahmen letztlich zu endgültigen Ergebnissen führen. Paradoxerweise sind die Maßnahmen zwar dem öffentlichen Interesse geschuldet, die Entscheidungen dazu werden allerdings im Geheimen durch Konsortien beschlossen und unterliegen dabei dem ökonomischen Zeitdiktat, um die Krisensituation mit ihrem Eskalationspotenzial einzuhegen. Die Maßnahmenpolitik begünstigt also eine Informalisierung von Politik, die gerade durch den Ausnahmezustand - der politischen Bedrängnis - legitimiert ist und dem Erhalt der Ordnung dienen soll. Vogl schlussfolgert, dass der finanzökonomische Notstand ein Regierungshandeln provoziert(e), das sich mit seiner Logik, Effekten und Informalitäten im Umkreis eines coup d’état bewege, wie ihn zuerst Gabriel Naudet 1639 definierte. Vogl möchte diesen Begriff als terminus technicus verstanden wissen.
Staat und Wirtschaft sind in Vogls Argumentation keine Antipoden. Er plädiert für eine stereoskopische Perspektive, in der beide Systeme in ihren Funktionsweisen aufeinander bezogen sind und gemeinsam eine bipolare Regierungsmaschine bilden. Die Auflösung des Bretton-Woods-Systems, die Liberalisierung der Finanzmärkte, die Ausdehnung von internationalen Organisationen wie dem IMF, der WB oder der OECD bis hin zur Einführung des Monetarismus zu Beginn der 1980er Jahre führten allerdings zu einer Neuorganisation politischer Machtverhältnisse, die sich zu Gunsten des ökonomischen Regimes entwickelten. Über nationalstaatliche Grenzen hinweg konnten erfolgreich wirtschaftspolitische Reformen implementiert werden, unabhängig ihrer zu Grunde liegenden politischen Ordnungen. Exemplarisch dafür stehe der Putsch in Chile 1973. Die durchgesetzten wirtschaftspolitischen Maßnahmen (Privatisierung, Deregulierung und Zerschlagung von Gewerkschaften) verweisen auf ein autoritär-marktliberales System. Auch der Begriff des Humankapitals und Stichworte wie New Public Management verweisen auf eine Kapitalisierung der gesellschaftlichen Sphären. Das gegenwärtige ökonomische Regime war und ist also immer auch auf die politische Intervention zur Durchsetzung ihres Marktideals angewiesen- ein Zusammenspiel aus Politik und Wirtschaft.
Vogls dritte These beschreibt die Finanzialisierung von staatlichen Strukturen. An der veränderten Rolle von Notenbanken lasse sich diese Entwicklung am besten vergegenwärtigen. Mit der Liberalisierung der Finanzmärkte und dem Derivatehandel wurden Finanzmärkte in die Lage der privaten Liquiditätsbeschaffung versetzt. Aufgelöst worden ist damit nicht nur das Gleichgewichtsverhältnis von Geld und Geldmenge, sondern damit einher ging auch die Verschiebung des staatlichen Monopols zur Geldschöpfung, welches allein den Notenbanken zukam. Zugleich ermöglichten Finanzmärkte dem Staat, sich nun selbst auf den Finanzmärkten Geld zu verschaffen, kurz: sich zu verschulden. Mit der Übernahme der privaten Schulden als Staatsschulden seit der Finanzkrise kommt es also zu einem gegenläufigen Prozess, wie Vogl meint. Die Verstaatlichung privater Schulden korrespondiert mit der Privatisierung von Staatsschulden, wodurch die Finanzmärkte selbst in die Administration öffentlicher Schulden integriert worden sind.
Die Informalisierung von Politik, die Veränderungen in der Machtbeziehung von Staat und Wirtschaft und die Finanzialisierung staatlicher Strukturen führten laut Vogl zu einer Souveränitätsverschiebung, bei der das politische System an die Instabilitäten der Finanzmärkte gebunden worden ist. Die politischen Handlungskompetenzen sind also sukzessive in die Finanzmärkte verschoben worden. Diese Abhängigkeiten müssten durch politische Interventionen reduziert werden, um neue Handlungs-Perspektiven eröffnen zu können, wie Vogl resümiert.
Willfried Maier: Kapitalismuskritik und Gesellschaft
Die gegenwärtige kapitalismuskritische Literatur unterscheide sich deutlich von der der 1970er Jahre, konstatiert Willfried Maier. Zum einen wird das kapitalistische System selbst nicht (mehr) in Frage gestellt, wie noch vor 30 Jahren. Reformen und Regulierungen werden gefordert, um die negativen Effekte des Finanzkapitalismus für Gesellschaften einzugrenzen. Auffällig ist aber auch der fehlende Akteur. Selten werden in der Literatur gesellschaftliche Akteure wie Parteien oder Gewerkschaften benannt, um Regulierungen im Sinn gesellschaftlicher Interessen durchzusetzen. Ebenso unbeantwortet in der Literatur bleibt die Frage, wie die seit 2008 offenkundige Finanzblase abgebaut werden könne, was Maier allerdings als dringlich ansieht. Denn an den Beispielen Griechenlands, Irlands oder Islands offenbart sich das Zusammenspiel aus Finanzkapitalismus und Realökonomie und deren Konsequenzen für die Gesellschaft respektive der gesellschaftlichen Kohäsion. Staatliches Handeln stehe unter massivem Handlungsdruck: die verheerenden Auswirkungen der Verschuldung müssen einerseits sozial verträglich(er) gestaltet werden, andererseits bleibt unter den Sparauflagen Griechenlands bspw. unklar, wie staatliche Souveränität – auch im produktiven Sinn - zurückerlangt werden kann.
Für Bündnis 90/ Die Grünen verbindet sich mit der Finanzkrise auch die Frage nach der Finanzierung des Green New Deal. Ein Wachstum des BIP bleibt für die Zukunftsinvestitionen zur ökologischen Wende unverzichtbar. Daran schließt sich aber auch die Frage nach der politischen Entscheidungssouveränität an. Bisher gehen die Gelder nicht in den für den Green New Deal erforderlichen gesellschaftlichen Umbau, konstatiert Willfried Maier.
Rainer Emschermann: Marktversagen versus Politikversagen
Die Frage nach dem Anreizsystem für Banken steht in Rainer Emschermanns Vortrag im Vordergrund. Dabei geht er davon aus, dass sich Banken in einem moral hazard befinden würden. Am Beispiel Griechenlands lasse sich das auch gut nachvollziehen. Der vermeintliche Wirtschaftsaufschwung Griechenlands sei nicht nachhaltig im Sinn einer steigenden Produktivität gewesen. Zwar expandierten die privaten Haushalte, die Staatsbilanzen fielen dennoch schlecht aus und die Steuersätze blieben niedrig. Auch wichtige Reformen für die Zukunftsfähigkeit der Volkswirtschaft seien ausgeblieben. Aber die niedrigen Zinsen für öffentliche Anleihen und das paradoxe Wissen um die no-bail-out-Klausel des EU Vertrages einerseits und die Vermutung des to-big-to-fail andererseits, waren laut Emschermann dennoch Anreiz genug für Investoren, Griechenland weiterhin Geld zu leihen, ganz unabhängig von ihrer Bonität. Das moral hazard des deregulierten Systems müsse nach Emschermann gezielt eingeschränkt werden: Eine effektive Bankenaufsicht, die Reformierung der EZB, eine differenzierte Geldpolitik, sowie die Steuerung von Risiken und Krediten lassen sich als Möglichkeiten bewerten. Flankiert werden müssen diese allerdings durch politische Reformen, um die Leistungsfähigkeit und den Wohlstand Griechenlands und/ oder anderer Staaten wiederherzustellen.
Thomas Rixen: Was sind politische Dynamiken, die der Kapitalismuskritik unterliegen?
Märkte sind politisch geschaffene Instrumente, die dem Ziel des allgemeinen Wohlstands dienen sollen. Allerdings ist das Leistungsversprechen nicht mehr realisierbar- die Mittelschicht werde kleiner, einen Gehaltsanstieg können lediglich die höheren Einkommenslagen für sich verzeichnen; für niedrige Einkommenslagen gilt dies nicht. Gleichzeitig lasse sich feststellen, dass das Steuersystem weit weniger umverteilend wirkt als noch in den 1970er Jahren. Die Besteuerung fällt einseitiger aus und zwar zu Gunsten von Unternehmen und Spitzeneinkommen. Allein die globalisierte Arbeitsteilung oder der internationale Wettbewerb um Technologie und wissensbasierten Wachstum kann dies nicht erklären.
Gefragt wird nach der politischen Verantwortung, dem Motiv, weshalb Politik diese Entwicklungen mittrage, obwohl sie keinesfalls dem Staat zu Gute kommen. Den Grund hierfür sieht Thomas Rixen in einem komplementären Prozess aus gut organisierten Partikularinteressen einerseits und dem internationalen Standortwettbewerb andererseits, die bspw. eine Nachregulierung des Bankensystems verunmöglichen. Mobiles Kapital und paper profits sollen möglichst am Standort gehalten werden, wodurch die Handlungsfähigkeit des Staates zur Umverteilung via Besteuerung ohnehin beschränkt ausfällt. Zudem organisieren kleinere Gruppen ihr Interesse hocheffizient (organized combat), so dass sich ökonomische policies immer auch als Tausch von Expertise und Geld gegen Einfluss verstehen lassen können. Der Politik kommt dabei oftmals die Rolle zu, zwischen den diversen Interessengruppierungen zu moderieren. Der Standortwettbewerb, dem Staaten international ausgesetzt sind verbunden mit dem organized combat um das agenda setting führt also zu einem wechselseitigen Prozess. Entgegen der neoliberalen Annahme, kommt es auf den Märkten also zu keiner natürlichen Ungleichheit, wie Rixen feststellt, sondern die Märkte selbst werden manipuliert und verfügen über monopolistische Strukturen, die zu Ineffizienzen führen.
Stefan Meretz: Kritik einer schrankenlosen Finanzialisierung
Die Finanzprodukte stehen in Stefan Meretz´ Kritik im Zentrum: Sie sind „Waren zweiter Ordnung“. Denn anders als Waren der „ersten Ordnung“ liegt ihnen kein Produktivitätsprozess zugrunde, vielmehr entstehen sie losgelöst von der Realökonomie. Problematisch sei ihr Krisenpotenzial aus zweierlei Gründen. Die in-Wert-Setzung dieser Produkte erfolgt in der Realökonomie, sodass die in den Finanzprodukten akkumulierten Risiken realökonomisch kompensiert werden müssen. Die Bankenrettung und die damit verbundenen Staatschuldenkrise lassen diesen Zusammenhang deutlich erkennen. Problematisch sind aber auch die Finanzprodukte selbst, denn sie spekulieren oftmals mit dem Ressourcenverbrauch der Zukunft und setzen eben diesen bereits jetzt in-Wert. Diesen spekulativen Operationen setzt Meretz die Commons (Gemeingüter) entgegen. Da sie gemeinschaftlich produziert werden und der Gemeinschaft nutzen sollen, kommt es bereits vor der Produktion zu Auseinandersetzung um Qualität und Anspruch an das Produkt. Ein Vorteil, denn mögliches Konfliktpotenzial wie etwa Umweltschäden, gesellschaftlicher Nutzen etc. werden ex ante kommuniziert und dadurch reduziert. Laut Meretz unterliegen Güter der Commons einer Inklusionslogik, da sie den diversen Bedürfnissen der Gemeinschaft gerecht werden müssen und sie nicht allein nach ihrer Profitabilität bewertet werden.
Diskussionspunkte
In der Diskussion um die Commons stand die Frage im Zentrum, ob Commons als zu vergesellschaftendes Modell geeignet sind oder einzig im lokalen Rahmen funktionsfähig bleiben.
Wie mit der Staatsverschuldung umgegangen werden könnte einerseits und wie andererseits politisches Handeln wieder souveräner und losgelöster vom ökonomischen Paradigma erfolgen könnte, bildete einen weiteren Diskussionspunkt. Könnte eine „gezielte Inflation“ beitragen, die Finanzblase abzubauen? Problematisch dürfte auf jeden Fall bleiben, dass Inflation zu Lasten sozial Schwacher ginge. Wie gelingt und was riskiert ein Schuldenschnitt? Ist das Vorhaben, durch Steuergelder Staatsschulden abzubauen, eine solidarische oder eine uferlose Option? Eine temporäre Sondersteuer für Vermögende und sehr hohe Einkommen kann Entlastung für Haushalte und Gemeinbewußtsein bringen. Einig war man sich, dass politische Strukturen, Verfahren und Institutionen gestärkt werden müssen, um die Entscheidungsprozesse wieder stärker in das demokratische Aushandlungsverfahren zu integrieren.
Das Verhältnis von Staat und (Finanz-) Kapital bildete hier einen Unterpunkt. Inwieweit ist Kapital auf eine territoriale Ordnung angewiesen? Wie das Demonstrationsverbot im Mai in Frankfurt a.M. zeigte, sind die Vertreter des (Finanz-) Kapitals auf ein „gemeinsames Handeln und Paktieren“ mit Vertretern der Politik angewiesen. Zentral sei also die Frage des Lobbyings von Partikularinteressen auf bundesdeutscher, EU und internationaler Ebene. Der politisch-ökonomische Zusammenhang müsse ohnehin auch stärker auf Akteurs-Ebene betrachtet werden. Bspw. sei oftmals unbekannt, dass zu den etwa 150 großen Akteuren auf den internationalen Finanzmärkten auch namenhafte Rating-Agenturen gehören, die ihrerseits ganze Staaten durch ihr Bewertungssystem unter Druck setzen (können).
Als kritisch wurde auch die geforderte Solidarität zwischen Staaten auf EU-Ebene bewertet. Denn sie müsse sich dazu verhalten, dass darunter auch Staaten seien, die in ihrem Inneren höchst unsolidarisch gestaltet sind - darunter etwa Griechenland selbst, in dem die Reichen wenig zum Steueraufkommen beitragen (und insb. Reeder verfassungsrechtlich von Steuern befreit sind). Hierüber gebe es bspw. keinen öffentlichen Diskurs.
Auch die Krisen-Kommunikation von Politikern wurde als problematisch bewertet, insofern sie oftmals ein „zurück-zum-Status-quo“ suggeriert, also einen Zustand, der zur Finanzkrise führte. Fraglich blieb, ob das Krisenpotenzial und dessen Verlauf seit 2008 als ein dauerhaftes Phänomen begriffen werden müsse.
Sylke Berlin arbeitet als freie Autorin.