Hintergrund
Die Heinrich-Böll-Stiftung ist der Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen und eines pluralistischen Parteiensystems verpflichtet. In Afghanistan stellen sich aber die schwache Staatstruktur und deren mangelnde Präsenz in den Provinzen als eines der Haupthindernisse für den demokratischen Prozess dar. Die Gesellschaft ist nach 23 Jahren Krieg extrem fragmentiert, die staatlichen Strukturen außerhalb von Kabul bislang nur in Ansätzen entwickelt. In vielen Regionen hat die Staatsmacht kaum Bedeutung. Stattdessen haben hier Parallelstrukturen wie Stammesverbände, Milizen, religiöse Gruppierungen das Gewaltmonopol und bestimmen das Werte- und Rechtssystem. Das Gefälle zwischen Kabul (plus einiger anderer Zentren wie Herat und Mazar i Sharif) und den ländlichen und traditionellen Gebieten in Lebens-, Bildungs- und Menschenrechtsstandards ist extrem.
In diesem Kontext gibt es weder physische noch rechtliche Sicherheit für die Entwicklung von zivilgesellschaftlichen Gruppen und freien politischen Gruppierungen und haben diese kein Gegenüber und keinen Orientierungsrahmen, um Interessen von Bevölkerungsgruppen, Frauen- und Menschrechte oder Reformen durchzusetzen. Tatsächlich ballen sich die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Gruppierungen und NGOs in Kabul. Auch der Wirkungsbereich der existierenden politischen Gruppierungen ist lokal begrenzt, und sie sind oft selbst Ausdruck von Clan- oder Familieninteressen.
Interessant war, dass auf der Konferenz zivilgesellschaftlicher Gruppen in Berlin im März 2004 eine der Hauptforderungen der zivilgesellschaftlichen VertreterInnen an die internationale Gemeinschaft gerade die Förderung des Staatsaufbaus war, neben der Beschleunigung des DDR-Prozesses (Disarmament, Demobilisation, Reintegration).
Besonders ausgeprägt ist die Parallelität der Machtstrukturen und Rechtssysteme in den paschtunischen Gebieten im Südosten Afghanistans. Hier gilt das Werte- und Rechtssystem der paschtunischen Stämme, das sog. Pashtunwali und haben Stammesführer und ihre Räte das Gewaltmonopol inne. Gleichzeitig sind die paschtunischen Gebiete Grenzgebiet zu Pakistan, frühere Hochburg der Taliban und heutiges Aufmarschgebiet der Antiterroreinheiten der US-Armee, die hier nach wie vor operieren. Aufgrund der prekären Sicherheitslage aber auch der Berührungsängste mit den traditionellen Strukturen ist bisher nur wenig internationale Hilfe in die Region gelangt und sie droht, von der infrastrukturellen Entwicklung und dem politischen Prozess abgeschnitten zu bleiben.
Es besteht somit die Gefahr, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die nach dem Sturz der Taliban keine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erfährt, in eine erneute Solidarisierung mit Warlords oder fundamentalistischen Kräften mündet.
Während die internationale Gemeinschaft zu Beginn ihrer Aktivitäten das Problem kaum wahrzunehmen schien, ist nun seit 2003 die Besorgnis deutlich, dass ein Abfallen insbesondere der paschtunischen Gebiete ein zentrales Risiko für die Stabilität und Zukunft Afghanistans bedeuten. Boris Wilke von der Stiftung Wissenschaft und Politik schreibt in der Studie „Staatsbildung in Afghanistan“ vom August 2004: „Diese Entwicklung ist deshalb so besorgniserregend, weil das Zurückbleiben des paschtunischen Südostens Anfang der 90er Jahre den wachsenden Einfluss der Taliban erst ermöglichte. Der Wiederaufbau ist somit exakt dort blockiert, wo der Aufstieg der Taliban begann“.
Das Projekt
Vor oben ausgeführtem Hintergrund hat die Heinrich-Böll-Stiftung ihre Position an der Nahtstelle zwischen Zentralregierung, Zivilgesellschaft und traditionellen Strukturen definiert und die Förderung des Dialogs zwischen der Bevölkerung und den Stammesführern in den paschtunischen Provinzen und der Zentralregierung zu einem Arbeitsschwerpunkt entwickelt.
Pilotprojekt in diesem Zusammenhang ist die Förderung eines Local Governance Projektes der Swiss Peace Foundation in den paschtunischen Provinzen Paktia, Paktika und Khost, an dessen Entwicklung seit Sommer 2003 die Heinrich-Böll-Stiftung auch konzeptionell beteiligt ist. Das Projekt mit dem Namen The Liaison Office (TLO) zielt auf die Einbindung der traditionellen Stammesstrukturen in den politischen Prozess, ihren Dialog mit der Zentralregierung und internationalen Akteuren. Die damit verbundene Stabilisierung der Sicherheitssituation soll den Weg öffnen für verstärkte internationale Hilfe, eine Verbesserung der Infrastruktur, der Gesundheitsversorgung des Zugangs zu Bildung und damit langfristig auch eine Verbesserung der Menschen- und Frauenrechte in der Region. Im Rahmen des Projekts werden Verbindungsbüros zwischen Stämmen, Regierung und internationalen Strukturen aufgebaut (in Kabul und den Provinzen) und Infrastruktur für Vernetzung und Dialog zur Verfügung gestellt.
Das Projekt entstand nach zahlreichen Vorgesprächen mit Stammesführern, die sich ein Ende der militärischen Operationen, die Eindämmung des Einflusses lokaler Kriegsherren und die Stärkung der Zentralregierung in ihren Regionen wünschen und sich davon eine Verbesserung ihrer Lebenssituation versprechen.
Ein lokales Mitarbeiter-Team von SwissPeace, dessen Mitglieder teils selbst aus den paschtunischen Gebieten stammen und über hervorragende Lokalkenntnis verfügen, begann systematische Dialogtreffen mit den Stammesführern. Ihnen wurden Kommunikationsmittel und Logistik zur Verfügung gestellt, sie wurden in ihren Forderungen gegenüber der Zentralregierung unterstützt und mit internationalen Gebern und Organisationen zusammengebracht. In Gardez, der Provinzhauptstadt von Paktia, wurde mit Förderung der Heinrich-Böll-Stiftung ein Liaison Office eingerichtet. Es dient als Dialogforum zwischen Stammesführern der Region, Regierungsvertretern und zivilgesellschaftlichen Gruppen und internationalen vor Ort tätigen Strukturen (Vereinte Nationen, die amerikanisch und britisch geführten Wiederaufbauteams der Provinz) und auch als Clearingstelle für internationale Geber und Organisationen, die in der Region Projekte durchführen wollen. Im Rahmen des Projektes wurden so genannte Konfliktkarten erstellt, die Einflussgebiete von Stämmen, frühere und aktuelle Konfliktlinien und spezifische Bedingungen in den jeweiligen Lokalitäten verdeutlichen. Gemeinsam mit den Stammesführern wurden Prioritätenlisten von Infrastrukturprojekten erarbeitet und an die Zentralregierung und internationale Geber übermittelt. Ein Team von Ingenieuren erstellte Durchführungs- und Kostenpläne für die priorisierten Projekte.
Mit Förderung der Heinrich-Böll-Stiftung wurde zudem in Kabul ein Liaison Büro eingerichtet, das Stammesführern und zivilgesellschaftlichen Gruppen aus den Regionen Paktia, Paktika und Khost als Anlaufpunkt in der Hauptstadt und Brücke zwischen Zentralregierung und den lokalen Strukturen dient.
Bisherige Erfolge des Projektes sind verbesserter Zugang zu den Gebieten Paktia, Paktitka und Khost, Sicherheitsabkommen zwischen Stämmen und Regierung, und eine verstärkte Aufmerksamkeit internationaler Akteure für diese Gebiete. Zudem hat sich unter den Stammesführern rund um das Projekt ein intensiver Austausch über ihre Erwartungen an den politischen Prozess entwickelt und teilweise auch kontroverse Diskussionen um die Notwendigkeit der Öffnung ihrer Strukturen und Reformen. So sind inzwischen einige der Stammesführer Wegbereiter für die ersten Mädchenschulen der Region und die Durchführung von Wahltrainings auch für Frauen.
Nach anfänglicher Skepsis wird das Projekt nun von Regierung, internationalen Akteuren und Stämmen als Modellprojekt für die Einbindung und Öffnung traditioneller Strukturen für den demokratischen Prozess begrüßt und eine Ausweitung in andere Provinzen gewünscht.
Im weiteren geht es nun um die tatsächliche Realisierung von Infrastrukturprojekten in der Region. Die Stammesführer selbst stehen unter hohem Erwartungsdruck aus ihrer Bevölkerung, dass sich das Engagement für den Dialog nun auch „lohnt“ und sich die Lebenssituation verbessert. Hier sind internationale Geber gefragt und kann das TLO-Projekt lediglich als Mediator zwischen ihnen und den lokalen Strukturen funktionieren.
Gleichzeitig sollen im Projekt Maßnahmen entwickelt werden, die die Stammesstrukturen jenseits der Belohnung ermutigen, sich für den demokratischen Prozess, Bildung, Menschen- und Frauenrechte zu öffnen. Dies kann über Workshops, Multiplikator_innen etc. laufen und ist ein langfristiger Prozess, aber zentral für das Projekt, wenn vermieden werden soll, dass es zum „Makler von Entwicklung“ wird.
Die Heinrich-Böll-Stiftung plant die weitere Förderung des Liaison Office in Paktia sowie des Büros in Kabul und eine Intensivierung der konzeptionellen Beratung und Begleitung des Programms, dessen Ziele sich zusammenfassend so skizzieren lassen:
- Traditionelle Stammesführer aus den Regionen Paktia, Paktika und Khost führen einen kontinuierlichen Dialog mit der Zentralregierung. Vertreter der Zentralregierung beziehen die Stammesführer der Region in die Umsetzung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Programme ein.
- Traditionelle Stammesstrukturen und Zentralregierung arbeiten gemeinsam für Sicherheit und Stabilität in ihren Provinzen.
- Konflikte zwischen verschiedenen Stämmen und zwischen Stämmen und Zentralregierung oder internationalen Akteuren (UN, US-Truppen, PRTs) können über die entstandenen Dialogstrukturen gewaltlos beigelegt werden.
- Traditionelle Stammesstrukturen öffnen sich für den demokratischen Prozess, motivieren und mobilisieren die Bevölkerung in ihren Provinzen für eine Partizipation am demokratischen Prozess und machen erste Schritte zu Frauenbildung und Sicherung von Frauenrechten.
- Internationale Geber, Hilfsorganisationen und die Zentralregierung investieren in die Infrastruktur in den Provinzen Paktia, Paktika und Khost und beziehen traditionelle Stammesstrukturen in den Entscheidungs- und Durchführungsprozess ein.
- Es gibt erste Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerung und ihrem Zugang zu Bildung und staatlichen Institutionen.
- Frauen haben Zugang zu Grundbildung, Gesundheitsversorgung und staatlichen Institutionen und machen erste Schritte zur Beteiligung am demokratischen Prozess.
- Ansätze zur Evaluierung dieses und ähnlicher Projekte (PDF-Datei, 9 Seiten, 59 KB)
- Weitere Aktivitäten der Heinrich-Böll-Stiftung in Afghanistan