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Schwerpunkte der Arbeit in Afghanistan: Traditionelle Gesellschaft und Frauenrechte

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Hintergrund

In der Ende 2003 verabschiedeten Verfassung ist die grundlegende Gleichstellung von Frauen und Männern verankert. Im weiteren wird es für afghanische Frauen von wesentlicher Bedeutung sein, wie die Reformen im Straf- und Zivilrecht aussehen, wie Scheidungs-, Sorge-, Versorgungs- und Erbrecht geregelt werden, welche Schutzmechanismen vor Zwangsverheiratung, Frauentausch, Gewalt in der Familie gesetzlich verankert werden, wie Frauentötungen aus Ehrgründen geahndet werden. Damit zusammen hängend ist von großer Bedeutung, wie zukünftig der Umgang der staatlichen Gerichtsbarkeit mit dem traditionellen Recht aussehen wird. Nach wie vor ist es gängige Praxis, dass Zivilgerichte Konfliktfälle an die Familien zurückgeben, wenn diese sich „untereinander einigen“. Die Einigung sieht aber häufig den Tausch einer Frau gegen den Familienfrieden vor oder die Verbannung oder Tötung einer Frau, die sich einer Ehrverletzung schuldig gemacht hat. Dies wird von den Gerichten zurzeit nicht weiter verfolgt.

Für die tatsächliche Veränderung der Situation von Frauen auch in den Provinzen und ländlichen Gebieten muss darüber hinaus gewährleistet sein, dass Frauen über ihre Rechte informiert sind und Zugang zu Rechtsberatung und Rechtsbeistand haben. In den ländlichen, traditionellen, patriarchal und stammesrechtlich geprägten Regionen braucht es hierzu ein langfristiges Umdenken unter Frauen und Männern, um Akzeptanz für die Gleichstellung von Frauen vor dem Recht zu schaffen und die Umsetzung von diesbezüglichen Rechtsreformen zu gewährleisten sowie Gewalt gegen Frauen zu enttabuisieren.

Nach der verfassungsgebenden Loya Jirga richtet sich nun die Aufmerksamkeit zahlreicher Frauengruppen in Afghanistan auf den familien- und zivilrechtlichen Bereich und den Schutz von Frauen vor Gewalt in der Familie. Noch Anfang letzten Jahres waren diese Themenbereiche stark tabuisiert und wurden selbst unter aktiven Frauen in Afghanistan nur sehr behutsam thematisiert.

Das Projekt

Seit Sommer 2003 fördert die Heinrich-Böll-Stiftung die „Women and Children Legal Research Foundation“ (WCLRF), eine Gruppe von Richterinnen, Anwältinnen und Aktivistinnen (mit auch einigen männlichen Mitarbeitern). Ziel des Projektes war zunächst die wissenschaftliche Dokumentation und Publikation von traditionellen Rechtspraktiken und hier insbesondere des sogenannten „Bad“, der Zwangsverheiratung von Mädchen als Entschädigung bei Familien- und Stammeskonflikten. Die Studien sollen als Argumentationshilfe zur Sanktionierung traditioneller Rechtspraktiken bei den staatlichen Gerichten und den anstehenden Reformen im Zivil- und Strafrecht dienen.

Aufgrund von 22 Fallstudien zu „Bad“ in Kabul und Umgebung wurde zur verfassungsgebenden Loya Jirga im Dezember 2003 eine Studie zu den psychischen und sozialen Folgen von Bad veröffentlicht, die die Bannung dieser Praktik durch Gesetzgeber, Gerichte und die Öffentlichkeit fordert. Durch die Studie erlangte das bislang tabuisierte Thema zum ersten Mal in die öffentliche Diskussion und wurde von Regierungsmitgliedern und Menschen- und Frauenrechtsgruppen aufgegriffen. Über das Aufzeigen von Fällen in Kabul wurde zudem das herrschende und relativierende Klischee, es handele sich um ein Problem der paschtunischen Gebiete widerlegt.

Im Weiteren sollen die wissenschaftliche Arbeitsweise und Dokumentation von Fällen in allen Provinzen Afghanistans und die Lobbyarbeit bei Gerichten und Regierungsstrukturen fortgeführt werden. Ein wichtiges Teilziel ist, dass die bestehenden Zivil- und Familiengerichte Konfliktfälle nicht mehr zurück delegieren an die Familien und Stämme. Häufig verbergen sich hinter der Aktennotiz „einvernehmliche Lösung“ Ehrenmorde oder Zwangsverheiratungen.

Zudem will das Team in Zukunft stärker Frauen über ihre Rechte und Schutzmöglichkeiten informieren, Bildungs- und Aufklärungsarbeit unter Frauen und Männern leisten und für die Achtung von Frauenrechten und den Schutz von Frauen vor traditionellen Praktiken werben. Als unmittelbare Programmziele kann man die folgenden nennen:

  1. Richterinnen, Anwältinnen, Frauenrechtlerinnen haben wissenschaftliches fundiertes Material als Argumentationshilfe für die Sanktionierung von Zwangsverheiratung und anderen traditionellen Praktiken bei den anstehenden Zivil- und Strafrechtsreformen.

  2. Familiengerichte und Zivilgerichte erkennen so genannte „einvernehmliche Lösungen auf Familienebene“ nicht mehr an und prüfen und verfolgen Zwangsverheiratung, Bad u.a.

  3. Die Themen Bad und Zwangsverheiratung sowie andere traditionelle Rechtspraktiken sind enttabuisiert und werden gesellschaftlich diskutiert. Die Enttabuisierung ermöglicht betroffenen Frauen, über ihre Situation zu sprechen und Rechtsbeistand und Unterstützung zu suchen.

  4. In die Reformvorschläge für Zivil- und Strafrecht gehen Schutzmechanismen für Frauen vor traditionellen Rechtspraktiken ein.