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„Zwei Ziele mit einem Steinwurf treffen“

Rangin Dadfar Spanta, 8. Juni 2006. Foto: Gary Hilliard

15. Mai 2007
Von Marion R. Müller
Von Marion R. Mueller, Heinrich-Böll-Stiftung Kabul

Knapp ein Jahr nach seiner Ernennung zum Außenminister musste sich Dr. Rangin Dadfar Spanta am Samstag, den 12. Mai 2007 einem Misstrauensantrag des afghanischen Parlaments stellen, der zu seiner vorläufigen Entlassung aus dem Ministeramt führte. Damit folgte er innerhalb weniger Tage Mohammad Akbar Akbar, Minister für Flüchtlingsfragen und Repatriierung, der schon am 10. Mai zum Rücktritt aufgefordert worden war. Auch wenn die Entlassung beider Minister offiziell mit der Krise um die Repatriierung afghanischer Flüchtlinge aus dem Iran begründet wurde, wirft dieser Vorfall doch einige Fragen zur Funktion des afghanischen Parlaments und seiner Zusammenarbeit mit der afghanischen Regierung auf. Tatsächlich ist es das erste Mal, dass das Parlament seine Funktion als Kontrollinstanz der Regierungsaktivitäten wahrnimmt.

Tumulte im Parlament

Am Donnerstag, den 10. Mai 2007 setzte das Parlament eine Anhörung beider Minister an. Thema: Die Krise um die rund 50.000 afghanischen Flüchtlinge, die von der iranischen Regierung im letzen Monat ausgewiesen worden waren. Die ParlamentarierInnen zeigten sich mit dem Ergebnis der Anhörung unzufrieden und bemühten daher ein Abstimmungsverfahren, an dessen Ende die Entlassung der beiden Minister aus ihren Ämtern stehen sollte. Während Minister Akbar die Abstimmung klar verlor, wurde die Abstimmung über Außenminister Spanta für ungültig erklärt, da eine Stimme für seine Entlassung fehlte und zwei Stimmzettel für ungültig erklärt wurden – für eine rechtskräftige Entscheidung wäre eine Mehrheit von 125 der insgesamt 249 Stimmen erforderlich gewesen.

Unterschiedlichen Quellen aus dem Parlament zufolge kam es bei der folgenden Sitzung des Unterhauses am 12. Mai 2007 zu gewalttätigen Tumulten, bei denen sich einige Abgeordnete sogar gegenseitig mit Flaschen bewarfen. Um die Rangeleien zu beenden, wurde eine Wiederholung der Abstimmung angesetzt. Mit 143 Stimmen kam es schließlich zu einem klaren Votum gegen den Außenminister. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass er sich nicht ausreichend für eine Lösung des Problems der Flüchtlingsrückkehr eingesetzt habe.

Druck aus Teheran

Zu einer tiefer gehenden Analyse der Hintergründe um die doch recht ungewöhnliche Entlassung gleich zweier Kabinettsmitglieder in einer Woche durch das Parlament gehört ein genauerer Blick auf die bedeutende Rolle der iranischen Regierung in der Region. In seiner Rede vor den ParlamentarierInnen am 10. Mai wies Außenminister Spanta darauf hin, dass Teheran massiven Druck auf die afghanische Regierung ausübe. Dabei geht es offensichtlich nicht nur um die Repatriierung von Flüchtlingen: Teheran reagiert in der Flüchtlingsfrage auf den internationalen Druck in Zusammenhang mit seinem Atomprogramm und die Bemühungen der in Afghanistan stark präsenten internationalen Kräfte, ein Sicherheitsabkommen mit der Kabuler Regierung abzuschließen.

Ein weiterer Grund für das iranische Vorgehen sind verschiedene afghanische Staudammprojekte zur Energieversorgung, die vermutlich Auswirkungen auf die Wasserversorgung im Iran haben werden. Allerdings beschränkten sich die Abgeordneten in der Aussprache fast ausschließlich auf das Problem der Flüchtlingsrepatriierung und beschuldigten in diesem Zusammenhang den Minister, seiner Verantwortung für die afghanischen BürgerInnen im Ausland nicht gerecht worden zu sein. Der Minister hätte nicht alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft, um eine zeitweilige Aussetzung der Repatriierung zu erwirken, bis die afghanische Regierung angemessene Vorkehrungen für eine Rückkehr hätte treffen können. Mittlerweile ist allerdings eine Grundversorgung sichergestellt.

Technokraten, Warlords, Taliban

Diese Parlamentskrise wirft vor allem ein Schlaglicht auf die täglich wachsenden Divergenzen und Rivalitäten in der afghanischen Politik und den gesellschaftlichen Alltag in diesem Land: Immer sichtbarer werden die Verwerfungen, die entlang der ethnischen, regionalen sowie nicht zuletzt entlang der historischen Konfliktlinien verlaufen und die der fünfjährige Prozess des Wiederaufbaus und der Demokratisierung nicht befrieden konnte.

Die wenigen im Westen ausgebildeten Technokraten der Regierung Karsai sehen sich daher mit einem Parlament und einem Kabinett konfrontiert, in dem die Führer der einzelnen Gruppierungen – ehemalige Warlords, Taliban-Kommandeure, ehemalige kommunistische Offizielle oder andere traditionell gesinnte Fraktionen – in grundsätzlicher Opposition zu Reformen und Modernisierungsprozessen stehen. Ganz im Gegenteil argumentieren sie mit Tradition und Religion und definieren, wer die „guten“ und wer die „schlechten“ BürgerInnen in ihrem Land sind.

Von einer Person wie Außenminister Spanta – der weder über historisch gewachsene „ideologische“ oder politische Bindungen noch durch besondere Unterstützung von ehemaligen Kriegskommandeuren in die afghanische Politik kam – wurde erwartet, dass er ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Fraktionen schaffen und zwischen ihnen vermitteln würde. Nur wenige afghanische Politiker sind bereit, solche Kompromisse nicht einzugehen – Kompromisse, die, ihrer Meinung nach, die Menschenrechte und gleichberechtigte Beteiligung aller BürgerInnen und damit den Demokratisierungsprozess insgesamt gefährden. PolitikerInnen wie Rangin Spanta müssen daher im heutigen Afghanistan einen harten Kampf um ihre Positionen und Macht führen.

Undiplomaisches Vorgehen?

Viele afghanische PolitikerInnen bewerten Spantas Unabhängigkeit und seine Positionen als übermäßig stolzes, ja sogar arrogantes und für afghanische Verhältnisse undiplomatisches Vorgehen im politischen Geschäft. Gleichzeitig deuten die Meinungsverschiedenheiten über die von Karsai verfolgte Einbeziehung der Taliban in Regierungsangelegenheiten und die ablehnende Haltung Spantas in Bezug auf das Amnestiegesetz für Kriegsverbrecher auf ein immer größer werdendes Zerwürfnis zwischen Außenminister und Präsidenten.

Eine klare Reformorientierung und seine selbstbewusste Art, sich nicht dem Druck von Parlament und Kabinett zu beugen, machen Spanta bei vielen ParlamentarierInnen unbeliebt.

Am Abend des 12. Mai erließ Präsident Karsai ein Dekret, das eine angemessene, auf den Prinzipien der afghanischen Verfassung beruhende Begründung für die Entlassung des Ministers verlangt. Gleichzeitig fordert der Präsident das Oberste Gericht zu einer verfassungsrechtlichen Klärung dieses Falles auf. Bis zur Entscheidung des Gerichts solle der Minister laut Dekret im Amt verbleiben.

Viele BeobachterInnen aus dem Parlament und der Zivilgesellschaft deuten diesen Schritt des Präsidenten auf den ersten Blick als Unterstützung für den Minister. Andererseits, hätte der Präsident tatsächlich Spanta im Amt belassen wollen, hätte er deutlichere Schritte unternehmen können. Diese Feststellung passt auch zu den Gerüchten der letzten Wochen, wonach der Präsident eine Neubildung des Kabinetts, insbesondere unter Einbeziehung des Außenministerpostens, vornehmen will. „Zwei Ziele mit einem Steinwurf treffen“ sei, so ein Parlamentsangehöriger, wohl die Strategie Karsais bei dessen Versuch, den Fall der Entlassung des Außenministers aus dem Kabinett zu lösen.

Machtprobe

Am Montag, den 14 Mai kursierten jedoch wiederum Gerüchte in Kabul, Karsai habe in einer Kabinettsitzung die Entlassung Spantas eindeutig abgelehnt, da die Begründung für die Amtsenthebung nicht ausreichten und nicht in Einklang mit der Verfassung stünden. Die Antwort des Obersten Gerichts ist allerdings noch nicht eingetroffen. Der Kommentar Karsais wird ersten Stellungnahmen zufolge vom Parlament als „Konfrontationskurs gegen das Parlament“ aufgefasst. Andere Abgeordnete befürchten eine nahende Verfassungskrise falls Karsai Spanta weiter unterstützt.

Der demonstrative Auszug einer großen Zahl von Abgeordneten aus dem Plenarsaal am 13. Mai und ihre Drohung eines Boykotts der Parlamentssitzungen bis zur endgültigen Entlassung Spantas könnten allerdings nun sowohl Präsident Karsai vor eine unerwartete Machtprobe stellen wie auch eine neue, ungeahnte Herausforderung für den Demokratisierungsprozess in Afghanistan insgesamt darstellen.

Dossier

Afghanistan - Ziviler Aufbau und militärische Friedenssicherung

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist seit Anfang 2002 in Afghanistan aktiv und fördert die zivile und demokratische Entwicklung des Landes. Afghanistan ist auch ein Prüfstein dafür, ob der Prozess des „state building“ und des friedlichen Wiederaufbaus in einem zerrütteten Land gelingt.