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Von den Reformen zur Systemreform: Was entscheidet über die Zukunft Chinas?

Lesedauer: 5 Minuten
Liu Junning, 1961 in der ostchinesischen Provinz Anhui geboren, ist Politikwissenschaftler und Mitgründer des Cathay Institute for Public Affairs.

28. Oktober 2009
Von Liu Junning
Übersetzt von Barbara Hoster

Die Geschichte der Volksrepublik China begann im Jahre 1949. Seitdem hat China drei Phasen durchlaufen: die Jahre von 1949 bis 1976, von 1976 bis 1978 und von 1978 bis 2007. In den fast dreißig Jahren der letzten Phase lautet das Schlüsselwort „Reformen“.

Im Jahre 1978 wurde in China der Reformkurs eingeschlagen. Hätte man damals nicht begonnen, China zu reformieren, dann wäre der Staatsapparat zusammengebrochen. Mit dem folgenden Bild möchten wir die von China gewählte Art der Reform veranschaulichen: Wenn ein Gebäude Schäden aufweist, aber seine Konstruktion noch solide ist, kann man das Problem durch Umbau oder Stabilisierung lösen.

Wenn aber seine Fundamente nicht mehr tragfähig sind, muss man das Gebäude abreißen und neu errichten. Dieser Gedanke kommt einem auch bei der Beurteilung des Fundaments des chinesischen Systems. 1978 lautete das Urteil von Deng Xiaoping: Die Gesellschaftsstruktur Chinas ist mit Problemen behaftet, aber diese Probleme sind nicht existenzgefährdend. Die Situation kann durch stabilisierende Maßnahmen geändert werden, d. h. der Sozialismus kann sich durch Reformen selbst verbessern. Daraufhin schlug China den Weg gradueller Reformen ein. Das Gebäude des Sozialismus sollte durch schrittweise Reformen, durch Stabilisierung und Umbau wieder solider und standfester werden. So begann in China das Zeitalter der Reformen.

Diese graduellen Reformen haben ihre Besonderheit: Sie erstrecken sich nur auf die Oberfläche des Systems, nicht auf seine Substanz. Man führt nur Wirtschaftsreformen, aber keine politischen Reformen durch. Man führt einige Neuerungen ein, ohne jedoch den alten Kern zu berühren. Es handelt sich also um eine stufenweise Reform.

Es sind Reformen von oben nach unten. Jede Reformmaßnahme muss vom Zentralkomitee der Partei genehmigt werden und wird als zentrale Entscheidung auf allen Ebenen durchgeführt.

Es sind Stop-and-go-Reformen, die keine klaren Standards haben. Man weiß vorher nicht genau, welche Maßnahmen durchführbar sind und welche nicht.

Nach fast dreißig Reformjahren hat China unbestreitbare Erfolge erzielt, aber nicht an die Grundlagen des alten Systems gerührt und nicht dessen fundamentale Probleme gelöst. Es sind außerdem einige neue Krisen und Probleme entstanden und drängend geworden. Die Reformen im Rahmen des gegenwärtigen Systems sind nun an ihre Grenzen gestoßen. Im nächsten Reformschritt muss man die Grundstruktur angehen. Offensichtlich hat sich die Partei noch nicht zu diesem Schritt entschlossen, aber das bedeutet keinesfalls, dass der derzeitige Zustand beibehalten werden kann. Wie wird das Schlüsselwort in China nach dem Ende der Reformen lauten? Wenn es in den letzten dreißig Jahren „Reformen“ hieß, so wird es in Zukunft „Systemreform“ heißen. Die „Systemreform“ hat folgende Dimensionen:

Erstens, die Umstellung von Plan auf Markt, von Staatsunternehmen auf Privatbetriebe. Obwohl China eine Marktwirtschaft hat, kann man aus den Berichten über die Ölversorgung in Südchina bzw. Guangdong ersehen, dass der Ölpreis in einem hohen Maß von der Regierung kontrolliert wird. Bei den meisten börsennotierten Unternehmen Chinas ist der Staat Mehrheitseigner. Die chinesische Wirtschaft hat sich quasi nur den Deckmantel einer Marktwirtschaft umgelegt.

Zweitens, die Umstellung von Diktatur auf Demokratie. Die chinesische Verfassung legt eindeutig fest, dass das grundlegende System Chinas die demokratische Diktatur ist. Den Begriff „demokratische Diktatur“ kann man in seine Bestandteile zerlegen – was wir sehen, ist eher eine Diktatur als eine Demokratie. Wenn in der Verfassung außerdem steht, man müsse an einer bestimmten Diktatur festhalten, egal an welcher, dann ist in meinen Augen die Transformation des chinesischen Systems nicht gelungen. China kann nicht unter einer Diktatur leben.

Drittens, China muss in seinem Wesen von einem Staat des Volkes zu einem Staat der Bürger werden. Der Begriff „Volk“ ist in vielen Ländern ein ganz allgemeiner Begriff, ohne besondere Bedeutung. In China ist er jedoch stark politisiert, äußerst abstrakt und bezogen auf ein Kollektiv. So ist die Bezeichnung „Volksrepublik China“ ein Widerspruch in sich, denn mit „Volk“ ist nur ein Teil der Menschen gemeint. Wenn also ein Staat nur einem Teil der Menschen gehört, dann kann er nicht republikanisch sein.

Meiner Meinung nach muss China in den nächsten dreißig Jahren zumindest in den oben genannten Bereichen eine Systemreform durchführen.

Waren die Reformen der letzten dreißig Jahre durch materielle Überlegungen motiviert, so muss die Systemreform aus ideellen Überzeugungen erfolgen. Nicht Wissenschaft und Institutionen bestimmen die Zukunft Chinas, sondern ideelle Überzeugungen. Der Hintergrund der gegenwärtigen Systemkrise ist eine Glaubenskrise. Der Glaube hat etwas Einzigartiges: Er verhilft den Gläubigen zu einer höheren moralischen Ebene, er macht den Unterschied zwischen den Menschen, den Unternehmen und den Staaten aus.

Es wird angenommen, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Politik machten die Unterschiede zwischen den Staaten aus. Das sind jedoch nur oberflächliche Erscheinungen.

In Wirklichkeit sind die Unterschiede im System die Hauptursache für die Unterschiede zwischen den Staaten. Die chinesische Regierungspartei ist davon überzeugt, dass die Überlegenheit Chinas in der Überlegenheit des sozialistischen Systems begründet ist und sich China durch eben dieses System vorteilhaft von den anderen Staaten unterscheidet. Das zeigt, dass die KP ebenfalls der Ansicht ist, dass die Systemunterschiede die Verschiedenheit der Staaten bedingen. Der wahre Unterschied liegt jedoch in den ideellen Überzeugungen, die dem jeweiligen System zugrunde liegen. Die Essenz eines Systems – das sind die ideellen Überzeugungen.

Das System, das wir meinen, ist kein anderes als das freiheitliche System einer konstitutionellen Demokratie! Die ideellen Überzeugungen sind keine anderen als die universellen Werte Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte!

Wie China debattiert