Obama hat General Stanley McChrystal, dem NATO- und US-Oberkommandierenden in Afghanistan, in etwa die Truppen zugesagt, die seiner Aussage zufolge nötig sind, um die Taliban aus den wichtigsten Bevölkerungszentren zu vertreiben. Dafür bleiben ihm jedoch nur 18 Monate. Obgleich Obama sagte, „wir werden den Übergang verantwortungsvoll gestalten und die Bedingungen vor Ort berücksichtigen“, kündigte er an, dass der Abzug der US-Truppen im Juli 2011 beginnen wird. Es handelt sich um eine gewaltige, wenn nicht unmögliche Aufgabe, in Anbetracht der Tatsache, dass die Taliban in den letzten Jahren auf dem Vormarsch waren und die afghanische Regierung und Armee schwach sind.
Die Hoffnungen der USA ruhen auf der Afghanischen Nationalarmee (ANA), aktuell 90.000 Mann stark. Acht Jahre nach Beginn der US-Intervention in Afghanistan ist jedoch keine einzige Brigade der ANA gefechtsbereit oder dazu in der Lage, eigenständig zu handeln. Das einzige Gebiet, das unter Kontrolle der ANA steht, ist Kabul – wo Tausende westliche Truppen zur Verstärkung bereitstehen. Der Unterschied zum Irak ist groß. Unter Saddam Hussein gab es eine stehende, gut ausgebildete Armee. In Afghanistan löste sich, was von der Armee übrig geblieben war, spätestens mit dem Abzug der Sowjets 1989 entweder selbst oder durch Desertion auf. Seither gibt es nur die Warlords, selbsternannte, lokale Machthaber und ihre Truppen.
Gegenwärtig sind 70 Prozent der ANA-Rekruten Analphabeten denen es an den Fähigkeiten dazu mangelt, auch nur die einfachsten Befehle auszuführen. Weder hat die Armee ein vollständig ausgebildetes Offizierskorps, noch logistische Unterstützung, noch Sanitätskräfte, die ohne US-Unterstützung funktionieren. Bei den 93.000 Polizeirekruten sieht es noch schlimmer aus. Die Erwartung, dass die Regierung Karzai effektiver wird – nach einer höchst zweifelhaften Wahl und stetigen Berichten über Korruption und Unfähigkeit – ist nichts als ein frommer Wunsch.
Fragt sich, wie die Taliban auf Obamas Ankündigung reagieren werden. Der Präsident hat vor dem Abzug der US-Truppen eine Offensive für den Frühling und Sommer 2010 angekündigt (die im Frühling 2011 theoretisch noch fortgesetzt werden könnte). Es kann gut sein, dass die Taliban versuchen, die Zeit bis zum Abzug auszusitzen und militärischen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen werden, um dann, nach Abzug der Amerikaner, nach der Macht zu greifen. Zu bedenken ist auch, dass Kämpfer der Taliban Armee, Polizei und Verwaltung infiltriert haben – und dass sich in den kommenden Monaten dieses Problem noch verschärfen könnte, sobald die USA die Afghanen dazu auffordern, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen. In der Zwischenzeit haben die Taliban ihren Einfluss in den vormalig friedlichen Norden und Westen des Landes hin ausgedehnt.
Viele in der Region werden auf Obamas Versprechen, sich über das Jahr 2011 hinaus in Pakistan und Afghanistan zu engagieren, mit Schulterzucken reagieren. Die USA haben in der Vergangenheit ähnliche Versprechungen gemacht – und nicht gehalten. Selbst für einige Liberale in Pakistan und Afghanistan war Obamas Rede nicht mehr, als die Erklärung, hinzuschmeißen – womit wie ihm wahrscheinlich Unrecht tun. Zyniker sprechen bereits davon, dass Obama die Mehrheit der US-Truppen abziehen will, bevor er sich 2012 zur Wiederwahl stellt.
Größeren Anlass zur Sorge bereitet die Tatsache, dass sich Obamas Rede sehr im Allgemeinen bewegte. So erläuterte er nicht, welche strategischen Aufgaben die zusätzlichen US-Truppen übernehmen werden. Ganz unerwähnt blieb der regionale Ansatz, den er in seiner Rede zu Afghanistan und Pakistan im März 2009 skizziert hatte und der Afghanistans Nachbarn in einem Abkommen zusammenbringen sollte, mit dem Ziel, das Land zu stabilisieren. Auch wie der „zivile Kraftakt“ (civilian surge), von dem er sprach, funktionieren soll, blieb offen. In seiner Rede ging er nicht ein auf die Reform der US-Hilfs- und Entwicklungsleistungen. In beiden Bereichen gibt es Verschwendung, Korruption und Misswirtschaft im großen Stil. Im vergangenen Frühjahr hatten Obama und sein Team versprochen, hier Ordnung zu schaffen.
Obamas Forderung, den so genannten gemäßigten Taliban gegenüber einen Kurs der Versöhnung einzuschlagen, ist nachvollziehbar. Um dergleichen in die Praxis umzusetzen, bedarf es jedoch guter Planung und einer politischen Strategie. Die vom britischen Premier Gordon Brown lautstark geforderten Prüfmarken, die der Westen Karzai setzen solle, erwähnte Obama mit keinem Wort.
Deutliche Worte richtete Obama an Pakistan, als er sagte, „ein Auffangbecken für hochrangige Terroristen, deren Aufenthalt und deren Absichten bekannt sind, kann nicht geduldet werden.“ Diese ernste Warnung an die Regierung Pakistans wird in europäischen Hauptstädten Widerhall finden. Dass Pakistan weiterhin die Unruhe stiftende Präsenz afghanischer Taliban auf seinem Territorium leugnet, ist ohne Frage weder glaubwürdig noch hinnehmbar.
Ein Hauptgrund dafür, dass die afghanischen Taliban an Macht gewonnen haben, ist die Haltung des pakistanischen Militärs. Seit 2002 gewährt es ihnen entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze weitgehend ungestört Asyl. Wird Pakistans berüchtigter Geheimdienst ISI versuchen, auch die kommenden 18 Monate auszusitzen - in der Hoffnung, die afghanischen Taliban in Kabul wieder an die Macht zu bringen (während man gleichzeitig die pakistanischen Taliban bekämpft)? Ist es in Pakistans Interesse, die afghanischen Taliban fallen zu lassen – nun, da die Amerikaner in 18 Monaten mit ihrem Abzug beginnen, was zu einem Bürgerkrieg in Afghanistan und großer Unruhe und Gewalt in Pakistans Grenzregion führen könnte? Hat das pakistanische Militär ein wirkliches Interesse daran, den Amerikanern auszuhelfen, nach acht Jahren Krieg und zunehmender Gewalt in Pakistan selbst? Auch die Amerikaner haben darauf momentan keine Antworten.
Obama versucht, das strategische Kalkül des pakistanischen Militärs zu beeinflussen, indem er Islamabad dringend benötigte Entwicklungshilfe und langfristige Sicherheitsgarantien verspricht. Andererseits droht er Pakistan auch. Der New York Times zufolge erwägt er, Raketenangriffe von Drohnen auf weitere Gebiete tief im Landesinneren von Pakistan auszudehnen und selbst Kommandoeinsätze von US-Einheiten auf pakistanischem Gebiet – mit oder ohne Erlaubnis – durchführen zu lassen.
Wollen die USA jedoch wirklich die Einstellung der pakistanischen Militärs ändern, müssen sie dazu bereit sein, Druck auf Indien auszuüben, damit der zum Erliegen gekommene Dialog zwischen Neu Delhi und Islambad wieder in Gang kommt und sich das Verhältnis der beiden Nachbarn entspannt. Pakistan rechtfertigt seine Afghanistan-Politik mit Verweis auf die Bedrohung durch Indien – nicht allein in Kaschmir, sondern auch in Afghanistan, wo Indien mehr und mehr präsent ist. Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass Obama auf diesen Aspekt eingeht. Viel hängt davon ab, ob es Obama gelungen ist, dem indischen Premier Manmohan Singh bei dessen Staatsbesuch in Washington im November 2009 Zugeständnisse abzuringen.
Vor weniger als einem Jahr, bei Obamas Amtsantritt, waren weniger als 32.000 US-Truppen in Afghanistan stationiert. Nächstes Frühjahr könnten es 100.000 sein. Diese Truppen werden den Auftrag haben, Al-Kaida auszuschalten, den Einfluss der Taliban zurückzudrängen, die ANA und die Polizei grundlegend zu reformieren, Sicherheit für zivilen Aufbau und die Entwicklung von Infrastruktur zu schaffen und dann abzuziehen. Das Ziel ist sehr hoch gesteckt, und ich bin alles andere als überzeugt, dass es erreicht werden kann.
Dieser Text erschien zuerst auf Englisch im Blog der „The New York Review of Books“ am 2. Dezember 2009
Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.