Indien fürchtet, dass die neue US-Strategie in Afghanistan ganz Süd-Asien destabilisiert
Von Britta Petersen, Neu-DelhiDer frühere indische Botschafter in Berlin, T.C.A. Rangachari, gehört eigentlich nicht zu den Leuten, die sich auf Empfängen hektisch in den Vordergrund drängen. Doch an diesem Abend in Delhi war er überaus erpicht darauf, den gerade zum deutschen Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan ernannten Bernd Mützelburg zu sprechen. Seine Botschaft nach Berlin: "Es gibt keine moderaten Taliban!"
Während im Westen angesichts der drohenden Niederlage in Afghanistan nicht wenigen Experten und Politikern eine Regierungsbeteiligung von Teilen der radikal-islamischen Milizen als einzige Möglichkeit erscheint, das Land zu stabilisieren, fürchtet die größte Regionalmacht Indien genau diesen Rückfall in den status quo ante. „Ein politischer Deal mit den Taliban würde ihre extremistische religiöse Ideologie legitimieren und ihre geographische Basis in unserer Nachbarschaft ausweiten“, so Kanwal Sibal, ehemaliger Staatssekretär im Außenministerium in Neu-Delhi. Dabei sei es für Indien nicht zentral, ob die Taliban „anti-westlich“ seien, sondern dass sie Süd-Asien destabilisierten.
Seit dem Machtwechsel in Washington und der Neuausrichtung der US-Politik unter Präsident Barack Obama, ist Neu-Delhi daher extrem beunruhigt. Hatte dessen Vorgänger George W. Bush Neu-Delhi durch den so genannten „Indo-US-Nuklear Deal“ dabei geholfen, in den Status einer weltweit anerkannten Atommacht aufzusteigen, blicken die USA im Zeichen der Finanzkrise nicht nur wieder stärker nach China. Auch dessen Verbündeter Pakistan – Indiens Erzrivale –, der mit Hilfe der USA in den 90-er Jahren die Taliban zu einer politischen Kraft aufgebaut hatte, hat nach Auffassung Neu-Delhis wieder bessere Karten in Washington.
Verärgert wies die indische Regierung daher den Vorschlag Obamas zurück, den beiden südasiatischen Rivalen bei der Lösung des Kaschmir-Konflikts behilflich zu sein. – Ein Thema bei dem Indien sich seit eh und je ausländische Einmischung verbittet. Auch die Bemerkung des US-Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke, wonach Indien „keine gemeinsame Grenze mit Afghanistan“ habe, stieß indischen Diplomaten sauer auf. Zum einen betrachtet Indien ganz Kaschmir (und damit auch den pakistanischen Teil) als indisches Staatsgebiet. Zum anderen sieht Neu-Delhi darin den Versuch seine legitimen Interessen in Afghanistan zu beschneiden.
"Es ist illusionär zu glauben, dass Indien sich aus Afghanistan heraushalten soll", sagt der frühere Staatssekretär im Außenministerium, Rajiv Sikri. "Warum sollte Europa dort größere Interessen haben als Indien?" Für die boomende Wirtschaft Indiens ist Afghanistan das Tor zum energiereichen Zentralasien. Stabilität am Hindukusch ist daher auch aus ökonomischen Gründen für Indien wünschenswert.
Obamas "Exitstrategie" aus Afghanistan, die in Indien bestenfalls als „konfus“ (Kanwal Sibal) betrachtet wird, findet daher in Neu-Delhi keine Freunde. "Pakistan wird (im Falle eines US-Abzugs) natürlich annehmen, dass es die Inder rauswerfen und wieder den Oberherren in Afghanistan spielen kann", ätzt Vikram Sood, früherer Chef des indischen Auslands-Geheimdienstes Research & Analysis Wing (RAW). Washington versuche "jetzt in 18 Monaten etwas zu erreichen, was in acht Jahren nicht geschafft wurde". Indien müsse deshalb auf eine „weitere Destabilisierung der Region“ vorbereitet sein sobald die Koalitionstruppen abziehen.
Die Befürchtung ist berechtigt. Denn an den Bedingungen des "great game" um Macht und Einfluss in Zentralasien hat sich in den vergangenen Jahren nichts geändert. "Pakistan hat die anti-sowjetischen Mudschaheddin und die Taliban unterstützt, damit im Falle eines Konfliktes mit Indien, Afghanistan auf seiner Seite steht und es dessen Land und Luftraum nutzen kann", so die Experten Barnett Rubin und Abubakar Siddique in einem Bericht für das "US Institute for Peace" (USIP).
Dieses Konzept der "strategischen Tiefe" bestimmt auch heute noch das Denken der pakistanischen Armee. Doch der Traum von einem befreundeten Regime in Kabul ging für Islamabad mit dem Einmarsch der USA in Afghanistan Ende 2001 und der Wahl Hamid Karzais zum Präsidenten jäh zu Ende. Pakistan, so der indische Verteidigungsanalyst C. Raja Mohan, wurde damals von Washington gezwungen "seine eigene Schöpfung, das Taliban-Regime, zu strangulieren".
Stattdessen schlug die Stunde Indiens. Seit 2001 hat das Land umgerechnet 1,2 Mrd. US-Dollar für den Wiederaufbau Afghanistans zur Verfügung gestellt und ist somit das sechstgrößte Geberland. Darüber hinaus verfügt Indien am Hindukusch über eine erhebliche "soft power" die Außen-Staatssekretär Shashi Tharoor als "Indiens größten Aktivposten" bezeichnet. Nicht nur haben viele Mitglieder der neuen afghanischen Elite, unter anderem Präsident Karzai, in Indien studiert. Die aufstrebende Jugend des Landes liebt Bollywood-Filme über alles und nimmt sich den indischen Lebensstil weitaus lieber zum Vorbild als die düstere Koran-Interpretation der Taliban.
Wie die Regierung von Premierminister Manmohan Singh immer wieder betont, ist Indien vor allem an einem stabilen Afghanistan interessiert. Doch dabei tendiert es dazu, die pakistanische Befürchtung von Indien quasi eingekreist zu werden, nicht ernst zu nehmen. Während Neu-Delhi seine Hilfsgelder in den vergangenen Jahren tatsächlich vor allem in sinnvolle Infrastrukturmaßnahmen wie den Bau von Krankenhäusern und Straßen gesteckt hat, wirft Islamabad dem Rivalen vor, neben der Botschaft in Kabul auch in vier anderen afghanischen Städten Konsulate aufgebaut zu haben – von denen aus angeblich spioniert wird.
Auch sind die indischen Hilfsprojekte nach Islamabads Auffassung keineswegs unschuldig. So habe Indien mit dem Bau der Zaranj-Delaram Schnellstraße in Westafghanistan eine direkte Route für den Gütertransport von Indien in den Iran aufgebaut – und gefährdet damit Pakistans Position als wichtigster Handelspartner Afghanistans. Ein in der afghanischen Provinz Kunar von Indien geplanter Staudamm schneidet nach Auffassung der pakistanischen Militärexpertin Ayesha Siddiqa die Wasserversorgung in den angrenzenden Regionen Pakistans ab. Zusätzlich wurde "Pakistans Angst vor einer Einkreisung durch den Bau der neuen indischen Luftwaffenbasis in Farkhor, Tadschikistan, verschlimmert", so Raja Karthikey Gundu und Teresita C. Schaffer von der US-Denkfabrik "Center for Strategic and International Studies" (CSIS).
Als im Juli 2008 bei einem Attentat auf die indische Botschaft in Kabul zwei indische Diplomaten und 56 afghanische Zivilisten ums Leben kamen, fiel der Verdacht in Neu-Delhi deshalb sofort auf Pakistan. "Wir haben keinen Zweifel daran, dass der ISI hinter dem Angriff steckt" so der nationale Sicherheitsberater M.K. Narayan. Und obwohl Islamabad leugnet mit dem Anschlag in Verbindung zu stehen, ersetzte Armeechef General Ashfaq Kayani den damaligen Chef des Geheimdienstes - um den ISI aus der Schusslinie zu bringen. Doch das änderte wenig. Am 26. November 2008 wurde Indien erneut zum Opfer eines verheerenden Anschlags als Terroristen mehrere öffentliche Gebäude in Mumbai - darunter das Taj-Mahal-Hotel - überfielen und dabei 173 Menschen töteten.
Nach indischen Ermittlungen geht der Angriff auf das Konto der in Pakistan ansässigen Terrororganisation Lashkar-e-Taiba (LeT). Und hier schließt sich der Kreis. Denn LeT ist eine jener Terrororganisationen, die Pakistan nach indischer Auffassung auf seinem Staatsgebiet toleriert, weil sie im umstrittenen Kaschmir gegen Indien kämpft. Ebenso unterstütze die pakistanische Armee nach wie vor die afghanischen Taliban - während sie auf eigenem Staatsgebiet, in Swat und Süd–Wasiristan, gegen die Kräfte kämpft.
"Während alle anderen Nachbarländer Stabilität in Afghanistan wollen – wenn auch nicht unbedingt unter US-Führung – hat Pakistan ein Interesse an der von den Taliban initiierten Instabilität", sagt Kanwal Sibal. "Die Taliban sind Pakistans Eintrittskarte für strategischen Einfluss in Afghanistan."
Militärische Hardliner in Indien fordern daher im Angesicht eines drohenden US-Abzugs aus Afghanistan, dass Indien sich selbst dort militärisch engagiert. Der frühere Stabschef der indischen Armee und Parlamentsabgeordnete General Shankar Roychowdhury spricht von einem "notwendigen Krieg" in Afghanistan. Die Rede ist gar davon, eine Division an den Hindukusch zu schicken. Ein Schritt vor dem Indien nicht nur auf Drängen der USA sondern auch aus finanziellen Gründen bisher zurückgeschreckt ist.
"Ein militärisches Engagement Indiens in Afghanistan würde den Kriegsschauplatz von Kaschmir und dem indischen Staatsgebiet abziehen. Angriffe auf die Basislager der Militanten wären eine große Unterstützung für die indischen Anti-Terroreinsätze, besonders in Kaschmir", so Sushant K. Singh, Herausgeber des Magazins "Pragati. The Indian National Interest Review".
Aber die Hardliner haben keine Mehrheit. Stattdessen hat die Regierung in Neu-Delhi den USA offenbar vorgeschlagen, mehr Soldaten der afghanischen Nationalarmee in Indien auszubilden. Doch ob Washington annimmt ist noch offen. Denn der Erfolg von Obamas Exitstrategie aus Afghanistan hängt auch davon ab, dass Pakistan weiter an der Seite der USA gegen Osama Bin Ladens Terrororganisation Al-Kaida kämpft. - Ein flatterhafter Verbündeter, den zu verärgern sich Washington nicht leisten kann.
Commodore Uday Bashkar vom Maritime Institute in Neu-Delhi, einem Thinktank der indischen Marine, hält deshalb die Vorstellungen der Falken für „Wunschdenken“. Realistischer sind langfristig Ansätze zu einer stärkeren regionalen Kooperation. Wie die "Pakistan Policy Working Group", in der zahlreiche ehemalige Mitarbeiter des US State Department sitzen vorschlägt, müsse Washington seine Diplomatie in Südasien ausweiten, Pakistans Befürchtungen vor Indien reduzieren und überlegen, wie die US-Beziehungen zu Indien verbessert werden könnten ohne Islamabad zu beunruhigen. Indien, so die US-Experten, sollte ein Interesse daran haben, sein Engagement in Afghanistan so transparent wie möglich zu gestalten.
Britta Petersen lebt seit Ende 2005 als Autorin und freie Journalistin in Neu-Delhi. Sie berichtet vor allem über Politik und Wirtschaft aus Indien, Pakistan und Afghanistan.