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Indien: "Wir müssen vor Ort Präsenz zeigen"

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Zugang zum Pangsau Pass, der sich in 1.136m Höhe über das Patkai-Gebirge an der Grenze zwischen Indien und Myanmar erstreckt. Foto: ArtisteInconnu/Flickr, Bildrechte: Creative Commons BY-NC-SA 2.0

24. April 2012

Prof. Sanjoy Hazarika ist Leiter des Centre for North-East Studies and Policy Research (C-NES) am der Jamia Millia Islamia Universität in Neu-Delhi, welches seit 2009 mit der Heinrich-Bölls-Stiftung in Fragen zum Konflikt in Nordost-Indien zusammenarbeitet. Der Autor und Journalist gehört zu den wichtigsten Beobachtern der Region und war als solcher bereits in diversen Expertengruppen, u.a. für die Plaungskommission der indischen Regierung und für internationaler Organisationen tätig. Im Interview erläutert er die indische Perspektive auf den Demokratisierungsprozess in Myanmar/Burma.


Heinrich-Böll-Stiftung: Myanmar hat in den vergangenen Monaten überraschend Reformen durchgeführt, die darauf hindeuten, dass im Land ein Prozess der Demokratisierung einsetzt. Welche Bedeutung haben diese politischen Entwicklungen für das westliche Nachbarland Indien?

Sanjoy Hazarika: Für Indien sind, denke ich, eine Reihe von Faktoren von Bedeutung. Erstens heißt das, dass man nach 50 Jahren einen demokratischen Nachbarstaat bekommt – oder bekommen könnte. Zweitens gibt es dadurch mehr Möglichkeiten, im gleichen Maß wie andere Staaten dort politischen Einfluss auszuüben – soll heißen, nicht mehr nur China spielt dort eine Rolle. Drittens denke ich, dass Investitionen und ein Augenmerk auf grundsätzliche Fragen, die Bereiche sind, in denen speziell Indien eine Rolle spielen kann, beispielsweise durch gezielte Projektfinanzierung und durch zwischenmenschliche Kontakte. Bislang haben wir uns mit Myanmar vor allem im Hinblick auf Sicherheitsfragen beschäftigt. Aufständische aus dem Nordosten Indiens haben Stützpunkte im Land, leben dort, und die Birmanen haben bislang wenig dagegen unternommen. Um dieses Problem zu lösen, hat Indien unter anderem Waffen nach Myanmar geliefert, aber die Birmanen haben es sehr geschickt verstanden, Indien und China gegeneinander auszuspielen. In all diesen Bereichen eröffnen sich Indien jetzt ganz neue Möglichkeiten, und diese Möglichkeiten sollten, vor allem was den Nordosten des Landes betrifft, unbedingt genutzt werden.

Denken Sie demnach, dass Indien seine „Look East“-Politik überdenken sollte?


Die „Look East“-Politik hat in Indien politische Priorität. Ihr Sinn ist es, Handel und Vernetzung zu stärken. Der Welthandel findet in erster Linie auf den Meeren statt, per Schiff. Auf den Straßen und per Bahn fließen international nur wenige Güter. Indien, denke ich, hat zu lange gezögert, den Nordosten des Lands nach Myanmar hin zu öffnen, da in den Köpfen Sicherheitsfragen an erster Stelle standen und wir uns dadurch selbst ein Bein gestellt haben. Der Warenverkehr ist entsprechend nur langsam gewachsen. Mittlerweile ist der Nordosten Indiens wesentlich sicherer geworden. Er kann deshalb als Ausgangspunkt dienen für größere Zusammenarbeit in den Bereichen Bildungswesen, Gesundheitsfürsorge und Basisdienste – Bereiche, in denen Indien recht erfolgreich ist. Der Nordosten Indiens hat von der „Look East“-Politik bislang nicht profitiert, weshalb er dringend in diese Gesamtpolitik mit einbezogen werden muss, damit dieser Teil des Landes endlich auch deren Früchte erntet.

Welche Rolle spielt China bei Indiens Entscheidung, in Myanmar aktiv zu werden?

Ich denke, Indiens Entscheidung hat mit China nicht viel zu tun. Indien war lange in Sorge wegen des chinesischen Einflusses, denn im Norden und Osten Myanmars leben sehr viele Chinesen; in den vergangenen ungefähr 20 Jahren hat das eine Rolle gespielt. Indien hat aber auch stets versucht, ausgeglichen vorzugehen. Zeitweise wurde die Demokratiebewegung stark unterstützt. Dann, als man merkte, dass diese versandete, betrieb man Realpolitik und verhandelte mit der Junta. Aktuell bewegt sich Indien in dieser Frage – nur fürchte ich nicht rasch genug, denn Myanmar ist nun auf einmal der neueste Hype für Investoren und andere, und Indien muss sich da ganz hinten anstellen. Indien sollte hier vielleicht nicht aggressiver, aber auf jeden Fall entschiedener und mit klareren Zielen vorgehen. Wichtig sind auch die historischen Gemeinsamkeiten: Myanmar hat gegen Indien nie Krieg geführt, wohl aber gegen China und auch gegen die Briten. Sowohl Indien als auch Myanmar waren britischen Kolonien. Kulturell gibt es viele Gemeinsamkeiten, und in Nordost-Indien leben viele Menschen, die burmanischer Abstammungen sind. Die Shan sind ein im Osten Myanmars ansässiger Stamm, der 600 Jahre lang den Süden des Landes regierte. Diese historischen, kulturellen und politischen Verbindungen sollte Indien nutzen. Aung San Suu Kyi hat in Neu-Delhi studiert, ihre Mutter war Botschafterin dort. Es gibt also zahlreiche Verbindungen.
Mit der Annahme, der Übergang zur Demokratie werde rasch ablaufen, sollten wir sehr vorsichtig sein. Das ist eher unwahrscheinlich. Die Junta, das heißt das Militär, hält 70 Prozent der Sitze im Parlament. Die Kandidaten der Union Solidarity and Development Party (USPD) werden von der Junta nominiert und die Abgeordneten sind entsprechend ehemalige Generäle, Majore und Oberste. Der Übergang wird also alles andere als leicht sein. Indien muss sehr behutsam und sehr geschickt vorgehen, um hier zu helfen. Aung San Suu Kyi, die Heldin der Demokratiebewegung – das ist etwas ganz anderes.

Was folgt daraus für sie für Indiens künftige Politik gegenüber Myanmar? Welchen Kurs verfolgt man derzeit in Neu-Delhi?

In Neu-Delhi glaubt man, etwas tun zu müssen – nur denke ich, dass wir nicht genau wissen, was. Es gibt widerstreitende Stimmen, und bislang wurde nicht erkannt, wie sehr die Lage drängt. Wir müssen vor Ort Präsenz zeigen, denn die Menschen fragen: „Was macht Indien?“ Diese Frage ist berechtigt. Um eine Antwort müssen sich nicht nur die Fachleute in Sachen Außenpolitik bemühen, gefragt sind auch Akademiker – sie können an den Unis Seminare hierzu durchführen, gefragt sind Journalisten – sie können mehr und offener berichten, gefragt ist mehr kultureller Austausch – er kann dazu beitragen, Indiens sanfte Diplomatie voranzubringen.

Herr Hazarika, ich bedanke mich für das Gespräch. 

Ein Mitschnitt des englischsprachigen Interviews findet sich auf der Hauptseite des Dossiers.

Dossier

Myanmar/Burma einen Schritt weiter auf dem Weg zur Demokratie?

Die Nachwahlen in Myanmar/Burma am 1. April 2012 haben viel internationales Interesse auf sich gezogen. Die Öffnungspolitik der Regierung Thein Seins und die neue politische Situation bieten ungeahnte Optionen für das stark isolierte Land. Das Dossier gibt eine Momentaufnahme von Eindrücken aus deutscher Sicht und der Region wieder. Es fängt Stimmen aus China, Thailand, Indien und Myanmar/Burma ein.