Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

"Korruption in Afghanistan als großes Hindernis für Entwicklung"

Lesedauer: 12 Minuten
Man muss fast überall Schmiergeld bezahlen. Sei es für die Aushändigung eines Personalausweises, eines Führerscheins oder irgendein anderes Dokument. Foto: munir, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

 

12. Juli 2011
Caroline Bertram
Heinrich-Böll-Stiftung: Integrity Watch Afghanistan hat eine landesweite Studie herausgegeben, laut der das afghanische Volk die Korruption als drittgrößtes Hindernis für die Entwicklung des Landes auffasst. Wie beeinflusst die Korruption unmittelbar das Leben der afghanischen Bevölkerung? Gibt es in der Öffentlichkeit eine Toleranz gegenüber der Korruption?

Yama Torabi: Korruption in Afghanistan beeinflusst das Leben der Menschen in vielfältiger Hinsicht. Am deutlichsten spürbar ist sie wahrscheinlich im öffentlichen Sektor. Für fast jede Kleinigkeit, die ein Bürger als Dienstleistung vom Staat erwarten könnte, muss man mit Schmiergeld bezahlen; sei es für die Aushändigung eines Personalausweises, eines Führerscheins oder irgendein anderes Dokument. Dies verursacht viele Probleme für den durchschnittlichen Bürger, da somit zahlreiche Dienstleistungen unzugänglich werden. Die offiziellen Zahlen sind schockierend: Ungefähr eine Milliarde US Dollar geht jährlich im Strudel der Korruption unter. In einem Land mit einem Bruttosozialprodukt von vierzehn bis sechzehn Milliarden US Dollar ist das eine Menge.

In der Immobilienbranche, ein weiterer äußerst korrupter Sektor in Afghanistan, ist die Korruption allerdings für die meisten Leute nicht sichtbar. Großgrundbesitz gilt als eine sehr politische Angelegenheit, die zwischen den Eliten aus Politik und Wirtschaft ausgefochten wird und wo es um große Geschäfte geht. Allerdings ist auch der Durchschnitts-Afghane von dieser Form der Korruption beeinträchtigt; sie verschlimmert die Situation der Armen im Land, die notgedrungen abhängig von anderen werden und keine Möglichkeit finden, selbst ein Stück Land zu erwirtschaften.

Ein weiteres Thema, das uns sehr beschäftigt, ist der Preis von Öl und Benzin. In Afghanistan kostet ein Liter Benzin ungefähr einen US Dollar – dieser Preis unterscheidet sich nicht großartig vom Literpreis in Europa. Der signifikante Unterschied liegt jedoch darin, dass in Europa bereits 60-80 Prozent Steuern im Benzinpreis berücksichtigt werden, in Afghanistan jedoch nicht. Da fragt man sich, wo denn das ganze Geld abbleibt und in wessen Taschen es versickert? Den Preis dafür zahlt auf jeden Fall der Durchschnittsbürger, der keine andere Wahl hat, als mit Öl zu heizen, mit Diesel den Stromgenerator zu betreiben oder ein Fahrzeug zu fahren, nur um ein paar Beispiele zu nennen. Aufgrund der Ölmonopole in Afghanistan gibt es auf der einen Seite diejenigen, die Riesengeschäfte mit dem Öl machen und auf der anderen die, die lediglich teuer dafür bezahlen.

Das Thema Korruption hat einen sehr ambivalenten Charakter, wie es im Falle vieler Gewissensfragen einer Gesellschaft ist. Wir nehmen einerseits ganz klar Stellung gegen Korruption ein und verachten sie aufs Gröbste, aber gleichzeitig tolerieren wir sie und passen uns ihr an. Es kommt also ganz darauf an, in welchem Kontext man sich befindet. Stellen Sie sich einmal vor, Sie brauchen für Ihre Pläne, als Taxifahrer zu arbeiten unbedingt einen Führerschein, weil es auf dem Markt derzeit keine anderen Berufsaussichten gibt. Der Brauch ist nun mal, dass man für diese Dienstleistung Schmiergeld zahlen muss. Sie haben also gar keine andere Wahl, als die Korruption zu unterstützen, um das zu bekommen, was Sie möchten oder gar brauchen. Sie werden in diesem Handeln auch noch bestärkt, da Sie niemand dafür zur Rechenschaft ziehen wird – denn schließlich können Sie es moralisch und aus rein praktischen Gründen rechtfertigen. Sogar der Islam erlaubt kleine „Abkürzungen“ im Leben, wenn es ums Überleben geht.

Welche Form von Korruption ist Ihrer persönlichen Einschätzung nach die gefährlichste und am hinderlichsten für die Entwicklung Afghanistans?

Natürliche Ressourcen stellen einen Sektor dar, der zunehmend wichtiger wird und somit auch gefährdeter ist, der Korruption zum Opfer zu fallen. Besonders erwähnenswert ist der Kohle- und Bergbausektor, in dem es in Zukunft zu katastrophalen Konsequenzen kommen kann, wenn wir jetzt nicht anfangen, verantwortungsbewusst zu handeln. Das heutige Ausmaß an Ausbeutung von Kohlevorkommen und Bergwerken wird einen deutlichen Einfluss auf die Umwelt haben und die Lebensumstände zukünftig deutlich verschlechtern. Dieses Thema ist schon viel zu lange von der Regierung ignoriert worden und Umweltbewusstsein ist noch ein völlig neues Konzept in Afghanistan. Natürlich gab es in der Vergangenheit viel dringlichere Probleme im Land, zum Beispiel der Krieg, dessen Beendigung ein akuteres Anliegen ist als der nachhaltige Schutz der Umwelt.

Was wir jedoch nicht vergessen dürfen ist, dass der Krieg zunehmend von Umweltfragen und Rohstoffinteressen getrieben wird. In Zukunft werden genau diese Aspekte eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Landes spielen. Wenn wir jetzt nicht aufpassen, was mit unseren natürlichen Rohstoffen geschieht, wird das eines Tages zu großer Unzufriedenheit im Volk führen. Die Bevölkerung wird danach fragen, wie mit den Ressourcen gewirtschaftet wird und wie sich das auf ihre Lebensqualität auswirkt. Außerdem sehe ich das Problem aufkommen, dass im Machtkampf der Eliten über natürliche Ressourcen lediglich weitere Konflikte entfacht werden.

Was wird derzeit dafür getan, den potentiellen Konflikt über natürliche Ressourcen zu verhindern?

In der Verwaltung der Rohstoffe in Afghanistan spielen mehrere Institutionen eine Rolle. Es gibt zwei Einrichtungen, die durchaus Erfolge abzeichnen konnten: Die Nationale Umweltagentur (NAE) und das Bergwerkministerium. Leider ist die NAE politisch immer noch sehr schwach. Das Bergwerkministerium hingegen hat wichtige Reformprozesse durchgeführt, die sich jetzt positiv auf die Transparenz bei den Arbeitsprozessen auswirken und das Bewusstsein für Umweltrisiken als Folge des Bergabbaus stärken. Trotz der Fortschritte ist jedoch die politische Instabilität der größte Anlass zur Sorge. Generell gibt es ein stark ausgeprägtes Misstrauen gegenüber den öffentlichen Institutionen. Das Vertrauen wird daher häufiger in engagierte Einzelpersonen gelegt. Aber auf lange Sicht sind es ja die Institutionen, die bestehen bleiben, nicht individuelle Machthaber.

Wie trägt die internationale Gemeinschaft Ihrer Meinung nach zum Korruptionsproblem bei?

Das ist eine wichtige Frage. Was uns ein besonderer Klotz am Bein ist, ist der Mangel an Kontrolle über die Gelder der internationalen Gemeinschaft. Abgesehen von den Geldern der zivilen staatlichen Entwicklungsagenturen, kommt der Großteil der finanziellen Mittel für Wiederaufbauprojekte in den PRTs (Provincial Reconstruction Teams) von den internationalen Militäreinheiten. Aus unserer Erfahrung werden ebendiese Gelder eher unkontrolliert ausgegeben und die Korruptionsfälle bleiben unbestraft.

Es gab in der Vergangenheit mehrere Fälle von Korruption auf lokaler Ebene, wo das Militär versucht hat, sich den sozialen Frieden in den PRTs zu erkaufen, indem sie lokale Machthaber mit ein wenig Bestechungsgeld versorgt haben. Wenn Geld unkontrolliert in den Umlauf kommt, kann es schnell zu Spannungen zwischen den Gemeinschaften führen, da manche sehr profitieren und andere gar nichts bekommen. Die internationalen Streitkräfte sind immer noch der Ansicht, dass Korruption ein der afghanischen Kultur innewohnender Aspekt sei, als ob die Afghanen ein Haufen Fatalisten wären und es keine Alternative zur Korruption gäbe.
Ich denke, dass diese Ansicht wirklich sehr destruktiv ist, da es jegliche Mühen im Kampf gegen die Korruption sabotiert. Karzai hat Recht, wenn er wiederholt auf die Verschwendung von Geld und die Korruption bei der Handhabung der internationalen Mittel hinweist, insbesondere bei denen der ISAF. Die ISAF hat stark dazu beigetragen, dass Gelder in den Händen der falschen Leute versickern, wie zum Beispiel Warlords, Regierungsbeamte oder sogar die Taliban. Es ist paradox, dass die Taliban zum Großteil von den internationalen Streitkräften finanziert werden.

Welche Lösungsansätze gibt es zur Eindämmung von Korruption? Welche Strategie verfolgt die Regierung und wie beurteilen Sie ihre Leistungsfähigkeit?

Der erste richtige Versuch der afghanischen Regierung, offiziell gegen Korruption vorzugehen, war die Gründung der Unabhängigen Agentur gegen Korruption im Jahr 2004. Diese Organisation überlebte für ein paar Jahre, jedoch war ihr Handlungsspielraum äußerst begrenzt und sie war mit vielen politischen Vorurteilen behaftet. Nachdem an die Öffentlichkeit gelangte, dass der Direktor der Agentur ein ehemaliger Drogenhändler und in den USA zur Haft verurteilt gewesen war, wurde nicht nur er von der afghanischen Regierung gefeuert, sonder gleich die gesamte Organisation aufgelöst.

Nach der Konferenz in Paris 2008 stand die afghanische Regierung unter erheblichen internationalen Druck, erneut einen Ausschuss mit unabhängigem Mandat zur Überprüfung von staatlichen Transaktionen zu gründen. Das Resultat ist das High Office of Oversight (HOO) welches ein höheres Mandat zur Überprüfung der Ausgaben des Staatshaushaltes besitzt, aber leider ist ihr Arbeitsprofil noch ziemlich rückständig. Bisher hat das HOO hauptsächlich versucht, Präventivmaßnahmen gegen die Korruption vorzunehmen, wie zum Beispiel durch die Einführung von Abrechnungsrichtlinien oder Verbesserung des Zugangs zu öffentlichen Dienstleistungen, aber leider sind die Ergebnisse hier noch ziemlich schwach.

Im April 2011 hat die afghanische Regierung endlich ein gemeinschaftliches afghanisch-internationales Komitee auf die Beine gestellt, welches alle drei Monate den staatlichen Mittelabfluss eingehend überprüfen soll. Ehrlich gesagt habe ich nicht besonders viel Hoffnung und Erwartung, dass diese Agenturen oder Komitees irgendetwas vorantreiben werden, denn die maßgebliche Zutat – der politische Wille – fehlt an allen Enden. Politischer Wille hängt nicht nur von Karzai allein ab, sondern benötigt die Unterstützung der gesamten politischen Eliten und einen Motor, der diesen Willen generiert – jedoch, und da muss man der Realität ins Auge blicken, gibt es im Moment noch kein Anzeichen für solche Dynamiken.

Wie werden die staatlichen Maßnahmen gegen Korruption von der Bevölkerung aufgefasst?

Zurzeit gibt es seitens der Bevölkerung absolut kein Anzeichen von Vertrauen in die Regierung. Dementsprechend skeptisch sind die Menschen natürlich. Dies spiegelt die generelle Einstellung des Volkes gegenüber dem Staat wider.

Was muss geschehen, damit Korruption bekämpft werden kann?

Das größte Problem, das wir im weltweiten Kampf gegen die Korruption haben, ist die Auffassung, dass Korruption ein technisches Problem ist. Jedoch geht es hier nicht um ein technisches Problem, sondern um ein politisches und soziales Problem und deswegen müssen wir an anderer Stelle nach Lösungen suchen. Wenn man die Regierung reformieren möchte, reicht es nicht aus, eine technische Agentur zu beauftragen und von ihr zu erwarten, dass sie die notwenigen Veränderungen vornimmt. Reformen können nur umgesetzt werden, wenn die Regierung dazu bereit ist, politische Kompromisse einzugehen, aber dieses Verständnis ist in Afghanistan noch nicht angekommen.

Welche Rolle spielt Ihre Organisation Integrity Watch Afghanistan bei der Eindämmung von Korruption?

Integrity Watch Afghanistan (IWA) ist eine vergleichsweise kleine Organisation und wir können daher nur mit kleinen Schritten im Kampf gegen Korruption beitragen. Dies versuchen wir jedoch mit konkreten Maßnahmen zu tun. Eine unserer Aufgaben ist natürlich, auf das Problem der Korruption in der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen und für Veränderungen in der Politik zu werben.

Insbesondere beschäftigen wir uns jedoch mit Lösungsansätzen für einen verbesserten Zugang zu staatlichen Dienstleistungen und ihrer Effizienz. Wir versuchen einen Weg zu finden, wie der korrekte Abfluss von Mitteln für Infrastrukturprojekte garantiert werden kann. Infrastrukturelle Defizite sind weiterhin ein nagendes Problem in Afghanistan, obwohl ihnen bereits zwei Drittel der internationalen Gelder zugeschrieben sind – zumindest in offiziellen Zahlen. In Wirklichkeit verschwinden viele Unternehmen mit dem Geld, ohne die Projekte zu Ende zu bringen. Dies verursacht Sicherheitsrisiken für die Bevölkerung und verlorene Gelder – genau das versuchen wir zu verändern, indem wir lokale Gemeinden dabei unterstützen, den Verlauf der Projekte mit zu verfolgen. Wenn ihnen Probleme im Projekt auffallen, finden sie entweder eigene Lösungen oder werden von IWA und unseren Partnern unterstützt. Unsere Partner sind unter anderem staatliche Einrichtungen, die freien Medien und Geberorganisationen. In Kooperation versuchen wir, die Prozesse wieder auf die richtige Bahn zu bringen.

Indem wir mit den lokalen Gemeinden zusammen arbeiten und sie stärken, denke ich, dass wir einen wichtigen Beitrag zu den Entwicklungen leisten können. Mit der Regierung zusammen zu arbeiten gestaltet sich zwar eher schwieriger, aber in Kooperation mit der Gesellschaft können wir wirklich etwas erreichen, denn bei den Menschen gibt es für Themen wie Transparenz und verantwortliches Handeln eine ausgeprägte Aufnahmebereitschaft. Zum Beispiel haben wir beim Thema Kohleabbau in Kooperation mit der Initiative zur Förderung von Transparenz in der Rohstoffindustrie (Extractive Industries Transparency Initiative) gearbeitet und jetzt haben wir den Staat so weit, dass er Einblicke in die Prozesse gewähren will, zum Beispiel durch Ausschreibung und Evaluierung. Dies ist auf jeden Fall ein Bereich, in dem Fortschritte möglich sind, aber es gibt immer noch viel zu tun und die größten Herausforderungen kommen erst noch auf uns zu.

Was ist Ihre persönliche Einschätzung zu Afghanistans Zukunft, insbesondere nach 2014?

Meiner Meinung nach wurde bis jetzt eine der wichtigsten Fragen über Afghanistans Zukunft weitestgehend ignoriert: Während wir weiterhin über mögliche Militärstrategien diskutieren, gibt es leider keinen Konsens über eine politische Strategie für das Land. Im offiziellen Diskurs heißt es, Afghanistan sei jetzt ein souveräner Staat mit einer gewählten Regierung usw. Gleichzeitig werden die Wahlen aufgrund von möglichem Wahlbetrug angeprangert, also steht die Legitimität des Staates in Frage – das bedeutet, dass die Bedingungen für die Legitimität des Staates, über sein Volk zu regieren, nicht gegeben sind.

Der militärische Abzug aus Afghanistan wird schwerwiegende Konsequenzen für die Wirtschaftslage haben. Ich vermute, dass das Land in eine ernste Wirtschaftskrise rutschen wird sobald der Großteil der militärischen Streitkräfte das Land verlassen haben, denn das internationale Militärbudget macht fast das gesamte Bruttosozialprodukt des Landes aus. Die Wirtschaft ist schwach und unterentwickelt und das wird eine Ausweitung des Schwarzmarktes zur Konsequenz haben. Wir leben schließlich in einer Kriegswirtschaft, in der man mit Illegalität mehr erreichen kann als auf dem rechtmäßigen Weg.

Yama Torabi ist Direktor der afghanischen NGO Integrity Watch Afghanistan.
Das Interview führte Caroline Bertram

Der Text ist auch auf englisch verfügbar

 
 
 

Dossier

Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement

Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.
 

 

 
 
Dieser Text steht unter einer Creative Commons-Lizenz.