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Die Jugend Afghanistans fordert ein Ende der Korruption

Junge Erwachsene in Afghanistan, 2010. Foto: Heinrich-Böll-Stiftung.

7. Juni 2011
Lauryn Oates
Von Lauryn Oates
 
Was die Militärmission in Afghanistan von Anbeginn an auszeichnete und weiterhin auszeichnet, ist wie zurückhaltend die USA und ihre Verbündeten an den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens herangegangen sind. Die Amerikaner und weitere führende NATO-Mitglieder, die Truppen in Afghanistan stationiert haben, waren nie so sehr daran interessiert, das Land zu verlassen wie jetzt. Die miserable Sicherheitslage macht jedoch einen Truppenabzug jetzt so ungünstig ist wie nie.

Es ist ein trauriger Widerspruch, dass ein Land, in das, im Rahmen einer der ehrgeizigsten und aufwändigsten multinationalen Interventionen, die die Geschichte je gesehen hat, im großen Stil Mittel aus aller Welt fließen, und dieses Land gleichzeitig zusammen mit Burma der zweitkorrupteste Staat der Welt ist (nur Somalia ist, Transparency International zufolge, noch korrupter). Serge Michailof, der ehemalige Vorsitzende der französischen Entwicklungsagentur, charakterisierte das Kabinett Afghanistans unlängst so: „In den meisten Fällen stehen Minister, die für die Aufgabe kaum qualifiziert sind, ahnungslos Institutionen vor, deren Aufgaben unklar, und deren Strukturen mangelhaft sind, in denen geordnete Arbeitsabläufe nicht existieren und in denen das Leitungspersonal aus rein ethnischen und politischen Gründen ernannt worden ist.“
 
Dass die Regierung Afghanistans weder ihrer Rechenschaftspflicht nachkommt, noch ihren Führungsaufgaben und den Menschen im Lande selbst grundlegende Dienstleistungen nicht bieten kann, liegt nicht an einem Mangel an Mitteln. Der Grund ist vielmehr, dass nur eine verantwortungsbewusste Regierungsführung Frieden und Wohlstand in ein von Konflikten zerrissenes Land bringen kann. Diese grundlegende Wahrheit wird nicht nur ignoriert, auch die Geldgeber tun nichts, daran etwas zu ändern. Wenn die internationalen Geldgeber, die den Wiederaufbau Afghanistans finanzieren, den Ausdruck „verantwortungsbewusste Regierungsführung“ im Munde führen, folgen darauf nur äußerst selten Maßnahmen, die von der afghanischen Regierung versprochenen Reformen auch tatsächlich entschieden einzufordern.

Wieder und wieder hat die Regierung von Hamid Karzai gezeigt, dass sie kein Interesse hat, Korruption ernsthaft zu bekämpfen, Minister zu ernennen, die Reformen einleiten und ihre Arbeit machen und Qualität und Zuverlässigkeit von Dienstleistungen zu verbessern, die den meisten Afghanen mittlerweile zur Verfügung stehen sollten – Strom, sauberes Wasser, gute Schulen und Rechtstaatlichkeit. Karzai hat rasch gelernt, dass er kurzfristig kaum mit Folgen zu rechnen hat, wenn er versprochene Reformen nicht umsetzt. Aber auch wenn die internationale Gemeinschaft - der Geldgeber - bereit ist, die verantwortungslose Regierungsführung Karzais hinzunehmen, wollen sich viele Afghanen mit den gebrochenen Versprechen und dem Schneckentempo, in dem demokratische Reformen und gesellschaftliche Entwicklungen vorangehen, nicht länger abfinden.

Im Verborgenen rumort es unter der Jugend Afghanistans. Sie haben gesehen, welche Fortschritte die Bürgerbewegungen im Nahen Osten gemacht haben. Die Rolle, die die Neuen Medien dabei gespielt haben, die Enttäuschten zusammen zu bringen, ist den zunehmend technisch versierten jungen Leuten in Afghanistan nicht entgangen.

Ständig entstehen neue Gruppen auf Facebook, die Reformen und ein Ende der Korruption einfordern und Karzais Rücktritt verlangen. Gleichzeitig stellen Afghanen klar, dass sie die Ideologie der Taliban ablehnen. Als Karzai die Taliban „unsere afghanischen Brüder“ nannte, hat er damit die bereits desillusionierten Afghanen noch weiter enttäuscht, die von den offiziellen Annäherungsversuchen an eine Gruppe, die ihre Mitbürger ermordet hat, entsetzt sind. Eine neue Gruppe, die Anti-Taliban-Bewegung Afghanistans, hatte 7500 Mitglieder. Allerdings wurde die Website zwischenzeitlich gehackt, alle Mitgliedseinträge gelöscht. Der für die Gruppe zuständige Administrator glaubt, der Angriff sei im Auftrag der afghanischen Regierung erfolgt. Rasch wurde die Seite wieder ins Netz gebracht – und innerhalb von nur 24 Stunden hatten sich 6000 Mitglieder neu eingetragen.

Afghanistans vergleichsweise offenen Medien haben über die Ereignisse in Libyen, Ägypten, dem Iran, Tunesien und anderswo berichtet. Burhanuddin Rabbani, der Anführer der Islamistischen Partei Jamiat-e Islami Afghanistan (einer ehemaligen Fraktion der Mudschaheddin) bekannte kürzlich, dass ihm das Machtpotenzial der „Facebook- und Internet-Kids“ Angst mache, das dann zum Tragen komme, sollten „die religiösen Führer es versäumen, ihre Führungsrolle in der Gesellschaft wahrzunehmen“.

In der Tat könnten es die „Internet-Kids“ sein, die den Sturz eines Regimes auslösen, das sein Volk im Regen stehen lässt und das versucht, sich immer mehr an die Taliban anzunähern. Diese „Kids“ verkörpern den Gedanken eines bürgerlichen Gemeinwesens und nehmen sich das Recht, die Rechenschaftspflicht einzufordern, die man ihnen versprochen hatte. Omar Ahmad Parwani, einer der Gründer der Anti-Taliban Gruppe sagte mir, die Gruppe sei gegründet worden, um zu zeigen, wie unzufrieden die Jugend mit den Versuchen der Regierung sei, mit den Taliban zu verhandeln sowie um der Vorstellung entgegenzuwirken, die Afghanen hätten „eine demokratische Regierung gar nicht verdient“.

Weiter sagt er: „Wir wollen uns dagegen wehren, Opfer von Karzais unsinnigen Entscheidungen zu werden. Wir wollen uns wehren gegen ein auf Stammespolitik basierendes politisches System. Wir wollen uns dagegen wehren, Opferlämmer im Spiel der Großmächte zu sein. Wir wollen uns dagegen wehren, dass die USA die Versprechen nicht einhält, die sie dem afghanischen Volk gemacht hat. Wir wollen uns dagegen wehren, ein weiteres Mal unseren Nachbarländern ausgeliefert zu werden. Wir möchten nicht, dass die Welt achtlos die Entscheidung trifft, uns im Stich zu lassen. Wir wollen uns dagegen wehren, all das zu verlieren, was in den letzten zehn Jahren erreicht wurde. Wir wollen für unsere Zukunft kämpfen.“

Die größten Aussichten, das zu erreichen, beständen, sollte die Jugend des Landes nicht länger darauf warten, dass Karzai sich selbst reformiert oder dass die internationale Gemeinschaft eines Tages die Eskapaden des Regimes nicht länger hinnimmt.

Dazu müssten sie wahrscheinlich ihre Online-Kampagnen auf die Straße tragen. In Afghanistan haben sich gute Bürger herausgebildet, noch bevor es einen guten Staat gab. Vielleicht werden diese Bürger zu den wahren Baumeistern der Demokratie in ihrem Land.

 

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Lauryn Oates ist eine kanadische Entwicklungshelferin. In Afghanistan leitet sie Bildungsprojekte. Seit 1996 hat sie sich für Frauenrechte in Afghanistan engagiert.


Dieser Artikel erschien zuerst am 21. März 2011 in englischer Sprache im kanadischen Calgary Herald.
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