No Time to Lose - Die Förderung der Rechenschaftspflicht der nationalen afghanischen Sicherheitskräfte
ZusammenfassungDie Zahl der Übergriffe von afghanischer Armee und Polizei auf eigene Bürgerinnen und Bürger könnte stark zunehmen. Davor warnt der Bericht „No Time to Lose“, der von Oxfam verfasst und gemeinsam mit den Organisationen Campaign for Innocent Victims in Conflict (CIVIC), Peace Training and Research Organisation (PTRO) sowie Human Rights, Research and Advocacy Consortium (HRRAC) herausgegeben wurde.
Die Herausgeber des Berichts fordern die NATO-Staaten und die afghanische Regierung auf, umgehend bessere Mechanismen zur Kontrolle der afghanischen Sicherheitskräfte einzuführen. Andernfalls könnte der schon für dieses Jahr geplante beginnende Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan gravierende Folgen für die Sicherheit der Zivilbevölkerung haben.
Die Herausgeber des Berichts fordern die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung konkret auf,
- die Ausbildung der afghanischen Polizei zu verlängern und rechtsstaatliches Polizeihandeln in deren Mittelpunkt zu stellen,
- bei Militär und Polizei wirksame Beschwerde-, Entschädigungs- und Überprüfungsmechanismen einzurichten,
- Rekruten vor ihrer Einstellung besser zu überprüfen,
- den Frauenanteil in den afghanischen Sicherheitskräften zu erhöhen,
- die Ausstattung von Militär und Polizei zu verbessern,
- die Zusammenarbeit mit Milizen einzustellen, die die staatliche Polizei auf Gemeindeebene unterstützen, aber weitgehend unkontrolliert handeln.
Einführung
Im März 2011 verkündete der Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, dass ab Juli 2011 die Verantwortung für die Sicherheit in den ersten afghanischen Provinzen und Städten an die nationalen Sicherheitskräfte des Landes übergeben werde. Diese Ankündigung war der Beginn eines Übergangsprozesses, der voraussichtlich mit der vollständigen Übertragung der vollen Verantwortung an die Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) bis Ende 2014 abgeschlossen sein soll. Da sich aber die Sicherheitslage immer weiter verschlechtert, gibt es ernste Bedenken, was die Professionalität und die Rechenschaftspflicht der dann verbleibenden Sicherheitskräfte angeht.
2010 war für Zivilisten in Afghanistan das tödlichste Jahr seit 2001. Wie in den Vorjahren sind bewaffnete Oppositionsgruppen für die meisten zivilen Toten verantwortlich, aber auch die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte verursachen viele zivile Opfer. Derartige Zwischenfälle sind häufig das Resultat von Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen das Völkerrecht, sie ereignen sich jedoch auch im Verlauf von legalen Kampfhandlungen. Obgleich im vergangenen Jahrzehnt Milliarden von Dollar für die Reform des afghanischen Sicherheitssektors ausgegeben wurden, gibt es für den Fall von Pflichtverletzungen doch so gut wie keine Rechenschaftspflicht und so gut wie keine Regelungen, wie mit Schäden umzugehen sei, die während legaler Operationen verursacht wurden.
Einigen Verantwortlichen innerhalb der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) sowie im Afghanischen Innen- und Verteidigungsministerium wird mittlerweile zunehmend klar, dass Professionalität und Rechenschaftspflicht der ANSF dringend weiterentwickelt werden müssen. Aus dieser Einsicht wurden bislang jedoch nur unzureichend Konsequenzen für die Praxis gezogen. Auf internationaler Ebene grenzt der offensichtliche Mangel, sich der Schwere dieses Problems bewusst zu werden, an Selbstgefälligkeit. Der jüngste Bericht der US-Regierung über die in Afghanistan gemachten Fortschritte ging auf das Thema Rechenschaftspflicht so gut wie gar nicht ein und behandelte im Hinblick auf die Afghanische Armee (ANA) ausschließlich deren militärische Schlagkraft. (1) Im entsprechenden britischen Bericht vom Dezember 2010 ist zu lesen, dass sich „die Schlagkraft der ANSF ... verbessert hat und zwar durch Ausbildung, Partnerprogramme, Berater und Kampferfahrung“. (2) Aus dem folgenden Bericht vom Januar 2011 ist nur zu erfahren, dass „weiterhin Fortschritte gemacht werden“. (3) Ende 2010 antwortete ein führender britischer Militär auf die Frage, welche Rolle Großbritannien beim Aufbau professioneller, rechenschaftspflichtiger Sicherheitskräfte spiele, schlicht „wir können nicht kontrollieren, wie die Afghanen ihre Kämpfe führen“. (4)
Afghanen wünschen sich nichts mehr als Sicherheit und setzen große Hoffnungen in ihre eigenen Sicherheitskräfte. In dem Maße jedoch, in dem deutlich wird, dass Missbräuche nicht geahndet werden, dass es für „Kollateralschäden“ keine Entschuldigung, keine Entschädigung gibt, schwinden die Legitimität der afghanischen Regierung und diese Hoffnungen. Die Staaten, von denen die Unterstützung für die ANSF kommt, können sehr wohl Einfluss darauf nehmen, wie die Afghanen ihren Kampf führen. Dies auch zu tun, ist nicht bloß eine politische und moralische Pflicht, sondern auch eine rechtliche Notwendigkeit. Da sich die internationalen Truppen auf den Rückzug vorbereiten, wird die Zeit, dies zu tun, jedoch knapp.
In diesem Papier werden wesentliche Bedenken im Hinblick auf die ANSF skizziert, wobei der Schwerpunkt auf Menschen- und Völkerrechtsverletzungen liegt. Hinzu kommt eine knappe Analyse der rechtlichen Verpflichtungen, die den Staaten obliegen, die die ANSF unterstützen. Abschließend diskutieren (und kritisieren) die Herausgeber einige der jüngsten Anstrengungen, die Rechenschaftspflicht zu verbessern und machen Vorschläge dafür, wie die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan und internationale Geldgeber die Rechenschaftspflicht der ANSF verbessern und afghanische Zivilisten besser schützen können.
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Endnoten:
(1) US-Verteidigungsministerium: Report on Progress Toward Security and Stability in Afghanistan. (Report to Congress in accordance with sec 1230 of the National Defence Authorisation Act for Fiscal Year 2008, as amended, November 2010, S. 38.
(2) Britisches Außenministerium: December Progress Report on Afghanistan, Dezember 2010.
(3) Britisches Außenministerium: January Progress Report on Afghanistan, Januar
2011.
(4) Bei einem Treffen mit einem führenden britischen Militär, London, 2010.
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Dossier
Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement
Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.