Es war ein langer Tag gewesen, der ungewöhnliche und überraschende Perspektiven auf Afghanistan und das internationale Engagement in dem Land bot. Bei der Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung „10 Jahre nach Petersberg – Wo steht Afghanistan heute?“ erläuterten eine afghanische Parlamentsabgeordnete, die ehemalige Vizeministerin für Frauenfragen, der frühere Geheimdienstchef und einer der wichtigsten Journalisten des Landes ihre Sicht auf die aktuellen Probleme in ihrer Heimat. Es wurden Filmbeispiele präsentiert, die aufzeigten, wie populäre afghanische Fernsehshows eine neue Atmosphäre der Freiheit vermitteln und einen kritischen Blick auf die Gesellschaft und ihre Rollenbilder fördern können. Eine Runde machte eindringlich die ungeklärten regionalen Fragen in Afghanistans Nachbarschaft greifbar. Und es gab die rege Beteiligung vieler Afghan/innen, darunter eine engagierte Gruppe von Studierenden aus Erfurt, an den Debatten mit den Referent/innen.
In der abschließenden Runde am Abend richtete sich die Aufmerksamkeit auf den Abzug der internationalen Truppen, der bis 2014 angestrebt wird und der auch im Zentrum der Außenministerkonferenz auf dem Petersberg am 5. Dezember steht. Sie wurde von Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, moderiert. Welche Zukunftsperspektive für Afghanistan gibt es, wenn die Abzugsperspektive konkret wird? Sind die Beteuerungen, dass das zivile Engagement danach fortgesetzt wird, glaubwürdig?
Fahim Hakim, der stellvertretende Vorsitzende der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission, sprach von „enormen Fortschritten“, die Afghanistan nach Jahrzehnten des Kriegs gemacht habe, vor allem im Bereich der Bildung, bei der Kommunikation, den Medien und der Infrastruktur. Nach langer Zeit entstünden wieder demokratisch legitimierte Institutionen in seiner Heimat. Neben den Erfolgen habe es jedoch auch Fehlschläge gegeben: Korruption, eine von Drogengeld und Krieg geprägte Volkswirtschaft, Unsicherheit, Ungerechtigkeit und Straflosigkeit seien weiter verbreitet. Auch in der Gerichtsbarkeit sowie am Parteien- und Wahlsystem müssten die bestehenden Mängel beseitigt werden. Zu viele Parteien ringen miteinander, meinte er, so dass sie nur schwer eine konstruktive Rolle spielen können.
Die Afghanen würden gerne ein normales Leben in Frieden führen, ohne auf militärische Hilfe des Auslands angewiesen zu sein, sagte Hakim. Alle Akteure hätten noch Aufgaben zu erledigen, damit dies möglich werde. Noch mangele es in Afghanistan an den nötigen Fähigkeiten, an einer professionellen Herangehensweise und auch am politischen Willen. Eine Exit-Strategie werde nur erfolgreich sein, wenn bis dahin den Grund- und Menschenrechten Geltung verschafft werden würde. Man dürfe nicht zulassen, dass der politische Raum für die Zivilgesellschaft und Menschenrechtler eingeschränkt werde. Die Bevölkerung müsse ihrer Regierung vertrauen können, und diese müsse die staatlichen Aufgaben erfüllen.
Kein Abzug um des Abzugs willen
Mehrfach wurde an diesem Abend an die fatalen Folgen der Abkehr der westlichen Gemeinschaft von Afghanistan nach dem Abzug der Sowjets im Jahr 1989 erinnert. Das Machtvakuum führte zu dem jahrelangen Bürgerkrieg der Warlords, der schließlich 1996 durch die Machtübernahme der Taliban gestoppt wurde. Ein Abzug um des Abzugs willen wäre ein strategischer Fehler, urteilte Hakim, denn er würde die Taliban und ihre regionalen Unterstützer ermutigen, weiterhin Gewalt auszuüben. Niemand habe etwas gegen Verhandlungen mit den Aufständischen, aber es sei ein gewagtes Spiel, befand Hakim. Werte und Prinzipien sollten dabei im Vordergrund stehen, bei der Meinungsfreiheit könne es keinen Kompromiss geben.
Michael Steiner, der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, legte dar, was Deutschland unter dem Begriff „Abzug in Verantwortung“ versteht. Die Lage sei trotz der genannten Erfolge nicht rosig, und die Verantwortlichen hätten sie „in der Vergangenheit oft zu rosig gemalt“. Steiner beteuerte, dass von einer sogenannten „Exit-Strategie“ nicht die Rede sein dürfe. Davon zu sprechen hieße, dass Deutschland sich der Verantwortung entziehe. Doch Deutschland werde zu Ende bringen, wozu es sich 2001 verpflichtet hatte – und er hoffe, dass dies auch die gesamte internationale Gemeinschaft bei der Konferenz in Bonn versichern werde. Sie dürfe 2014 keine „Ruinen des Engagements“ hinterlassen. Aber Bonn sei vielleicht die letzte Chance zu verbindlichen Verpflichtungen, da sich die internationale Aufmerksamkeit immer stärker anderen Themen zuwende.
Nicht mehr kämpfen, aber weiter helfen
Steiner räumte ein, dass es 2001 Illusionen gab, doch nun sehe man die Dinge realistisch: das Ziel sei eine hinreichende Stabilität, aber auch die Gewährleistung fundamentaler Menschenrechte. Auch der Zeitplan bis Ende 2014 sei realistisch. In Bonn gehe es um drei strategische Fragen: Die Transition, die Ertüchtigung der Afghanen zur Souveränität, und die Verhinderung des ökonomischen Kollapses des Landes, wenn die 140 000 internationalen Soldaten abziehen, von deren Präsenz 90 Prozent des afghanischen Bruttosozialproduktes abhängen. Auch die Wiederaufbauteams (PRT) werde es nach 2014 nicht mehr geben. Aber die zivile Hilfe für Infrastruktur, Bildung und im Gesundheitswesen müsse auch in den kommenden zehn Jahren fortgesetzt werden. Genauso müsse das Training von Streitkräften und Polizei weitergehen. Schließlich müsse man das regionale Potenzial Afghanistans als Drehscheibe zwischen Nahost, Zentralasien und dem indischen Subkontinent wecken. Noch sei die Zusammenarbeit der Staaten dieser Region verbesserungswürdig.
Frithjof Schmidt, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, wies darauf hin, dass es ein unangenehmes, aber wichtiges Thema gebe, wenn die Staatengemeinschaft über die Zeit nach 2014 rede: Der weitere Aufbau und der Einsatz der 300 000 afghanischen Sicherheitskräfte werde 4 bis 6 Milliarden Dollar pro Jahr kosten, die Afghanistan selbst nicht aufbringen kann. Es bestehe die Gefahr, dass dies dann wieder auf Kosten einer nachhaltigen Entwicklung in dem Land geht. Bedenklich sei auch der Aufbau lokaler Milizen außerhalb der regulären Sicherheitskräfte.
Mit wem kann man verhandeln?
Eine militärische Lösung in der Auseinandersetzung mit den Aufständischen gebe es nicht, sagte Steiner, daher müsse es einen politischen Prozess hin zu Verhandlungen geben. Diese Verhandlungen müssten strukturiert und zielgerichtet, transparent und inklusiv sein. Es sei klar, dass die afghanische Verfassung und die darin festgeschriebenen Menschenrechte inklusive der der Frauen nicht zur Disposition gestellt werden dürfen. In einem afghanisch geführten Prozess, wie er ja gewollt sei, werde man aber nur beschränkt von außen darauf Einfluss nehmen können, schränkte er später ein.
Bisher sei nicht erkennbar, wie man über einzelne Gesprächskontakte, die es bisher gegeben habe, hinaus zu echten Verhandlungen komme. Es habe falsche Emissäre und Wichtigtuer gegeben, auf die manch ein Geheimdienst hereingefallen sei. Es gebe leider auch Einmischungen der Nachbarn. Und schließlich könne sich herausstellen, dass der Gegner tatsächlich nicht politikfähig ist. Es brauche ja viel Mut, den ersten Schritt zu tun. Hakim sagte, bislang habe sich noch kein ernsthafter Ansprechpartner auf der Seite der Aufständischen gefunden. Er meinte, wenn die Regierung durch gute Arbeit Ansehen in der Bevölkerung erwerbe, werde auch ihre Position in Verhandlungen stärker, da weniger angreifbar.
Fazel Rabi Haqbeen, der Büroleiter der Asia Foundation in Kabul, die regelmäßig die umfassendste Befragung der afghanischen Bevölkerung durchführt, unterstützt den Verhandlungsprozess, wie ihn der afghanische Hohe Friedensrat in Gang bringen wollte. Der Mord an dessen Vorsitzendem Burhanuddin Rabbani im September sei ein Rückschlag gewesen. Die Gewalt werde dem Land von außen aufgezwungen, sie entspreche nicht den traditionellen Werten Afghanistans. Und es sei wichtig, dass Verhandlungen transparent seien und auch die religiösen Führer dabei Gehör bekommen. Er plädierte dafür, den Fähigkeiten der Afghanen zu vertrauen, dass sie das Richtige tun.
Das Wort hat die Zivilgesellschaft
Seit Juni gab es einen Beratungsprozess eines breiten Spektrums der Zivilgesellschaft, an dem Hakim führend beteiligt war. Sie sollte eine gemeinsame Haltung und Empfehlungen an die Außenministerkonferenz formulieren und die 34 Delegierten nominieren, die ebenfalls nach Bonn reisen und dort am 2. und 3. Dezember zum Zivilgesellschaftlichen Forum Afghanistans zusammenkommen. Zwei Delegierte werden dann auch an der Außenministerkonferenz teilnehmen. Hakim dankte der Bundesregierung für ihre Unterstützung dieser Initiative. Steiner lobte die Hilfe bei diesem Prozess, die die Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit anderen politischen Stiftungen geleistet hat. Die beiden jungen afghanischen Sprecher der Delegation – ein Mann und eine Frau – hätten ihn beim Kontakttreffen in Astana am 15. November sehr beeindruckt. Auch Frithjof Schmidt nahm die Hoffnung mit, dass in Afghanistan wie zuvor in Nordafrika die junge Generation an den positiven Entwicklungen des Landes teilnehmen könne.