boell.de: Es sind nun fast 10 Jahre vergangen, seitdem die Taliban gestürzt wurden und die internationale Gemeinschaft ihr Engagement in Afghanistan aufgenommen hat. Heute hat Afghanistan eine gewählte Regierung und bereitet sich darauf vor, nach dem Abzug der internationalen Truppen 2014 für seine eigene innere Sicherheit und Entwicklung zu sorgen. Jedoch zeichnet sich die Berichterstattung in den Medien weniger optimistisch ab und den politischen und militärischen Entscheidungsträgern wird das Scheitern aufgrund Verfolgung inkohärenter Strategien im Land vorgeworfen. Wie beurteilen Sie die Entwicklungen, stimmen Sie mit der Kritik überein und wo sehen Sie Fortschritte?
Aziz Rafiee: In vielen Bereichen sind Fortschritte erzielt worden. Man kann das heutige Afghanistan nicht mit dem Afghanistan von 2002 vergleichen; der Umfang und die Qualität der Entwicklungen sind wirklich bemerkenswert. Das gestärkte Bewusstsein der Menschen und ihre Teilhabe an sowohl sozio-ökonomischen als auch politischen Prozessen, die steigende Anzahl von Personen mit Bildung und Hochschulabschluss, die neuen Schul- und Universitätscurricula, die ausgeweitete Infrastruktur für weitere Entwicklungen, das Wirtschaftswachstum, die Wiederbelebung des Agrarsektors, die Medien- und Redefreiheit; ich könnte die Liste guter Beispiele ohne Schwierigkeiten weiter fortsetzen.
Tausende Kilometer Straßen quer durchs Land sind repariert oder neu gebaut worden, es gibt heute mehr als 13 000 Schulen, mehr als 10 000 Kliniken und Krankenhäuser, mehr als 150 Radio- und 32 Fernsehsender, tausend verschiedene Zeitungen, Magazine oder andere Publikationen – dies sind quantitative Leistungen, mit denen sich Afghanistan vorher noch nie schmücken konnte. Innerhalb der nächsten drei Jahre erwarten wir die Rückkehr von 6 000 Hochschulabsolventen aus dem Ausland. Das sind fast mehr, als es Absolventen der Universität in Kabul gibt.
Natürlich hätten wir mehr Erfolge verzeichnen können, wenn es eine bessere Koordinierung der Entwicklungsprozesse gegeben hätte. Anders ausgedrückt: Ein gemeinsamer und kohärenter Entwicklungsplan für Afghanistan hat bisher gefehlt. Die meisten Pläne haben die Interessen der internationalen Gemeinschaft widergespiegelt, anstatt die lokalen und nationalen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Bereits das allererste Versprechen der internationalen Gemeinschaft an Afghanistan, ausreichende Ressourcen zur Verfügung zu stellen, wurde in den vergangenen 10 Jahren nicht eingehalten. Außerdem wurde nichts dafür getan, die afghanische Bevölkerung in die Lage zu versetzen, sich politisch zu beteiligen; dieser Aspekt benötigt deutlich mehr Beachtung.
boell.de: In den vergangenen 10 Jahren fanden mehrere internationale Konferenzen statt, die sich der Afghanistanproblematik und der Rolle der internationalen Gemeinschaft im Wiederaufbau gewidmet haben. Im Januar 2010 wurde in London eine „neue Strategie“ vorgeschlagen, die den Fokus mehr auf die Unterstützung und den Schutz der Zivilbevölkerung und einer intensiveren Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte richten sollte, anstatt sich auf den fortwährenden Kampf gegen die Taliban zu konzentrieren. Vor vier Jahren warnten Sie schon vor den Gefahren, die auftreten würden, wenn sich an der militärischen Strategie nichts ändern würde (Interview mit der HBS, 06.06.2007). Können Sie heute einen positiven Einfluss der in London verabschiedeten Strategie auf die zivile Situation feststellen?
Rafiee: Auch wenn es lange gebraucht hat, bis die internationale Gemeinschaft ihre Strategie verändert hat - ich glaube, dass es immer noch genügend Zeit gibt, sich auf Prioritäten zu konzentrieren. Wenn es um Fragen der militärischen Entwicklungen geht, ist Vorsicht geboten: Egal, wie sehr wir uns mit Verfahrensweisen und Taktiken beschäftigen, die Aufständischen und gewaltbereiten Gruppierungen sind uns immer einen Schritt voraus. Als Beispiel wäre hier die massive Ausweitung der Rekrutierung der afghanischen Armee zu nennen, die Möglichkeiten für die Aufständischen geschaffen hat, ihre Leute in die Truppen einzuschleusen. Das Ergebnis sind vermehrte Selbstmordattentate in den Reihen der afghanischen Armee, deren Uniform ursprünglich ein Symbol der Sicherheit darstellen sollte, aber nun dieses Kriterium nicht mehr erfüllen kann.
Außerdem interessieren sich die afghanischen Sicherheitskräfte fürs Geschäftemachen insbesondere in den Grenzregionen, um sich an westlichen Geldern zu bereichern und auch politische Vorteile herausschlagen zu können. Die äußerst kostspieligen sogenannten gemeinsamen Aktionen zwischen Pakistan und den USA können hier als Beispiele herangezogen werden.
Diese Faktoren tragen maßgeblich dazu bei, dass sich die Bevölkerung ernsthaft Sorgen über die Fähigkeit der staatlichen Armee und der Nationalpolizei macht, Frieden und Sicherheit nach dem Abzug der internationalen Truppen zu gewährleisten.
boell.de: Im kommenden Winter wird die zweite Petersberg/Bonn-Konferenz stattfinden. Welche Themen müssen Ihrer Meinung nach dieses Jahr unbedingt angesprochen werden? Und welche Ergebnisse erwarten Sie von dieser Konferenz? Hat die afghanische Regierung die ernsthafte Absicht, die Zivilgesellschaft besser in die Entwicklungsprozesse zu integrieren und wird ihre Stimme auf der Konferenz überhaupt gehört werden?
Rafiee: Die teilnehmenden Regierungen haben bereits angekündigt, dass es eine politische Konferenz unter dem Vorsitz der afghanischen Regierung wird. Zu diesem Zeitpunkt wird besonders wichtig sein, darüber zu reden, wie die Übergabe an die afghanische Regierung und die Rolle der internationalen Gemeinschaft nach 2014 konkret nach den Gesichtspunkten Frieden, Sicherheit und in Form von Versöhnungs- und Reintegrationsprogrammen gestaltet werden sollen.
Die Konferenz wird von der afghanischen Regierung inhaltlich vorbereitet, aber inwieweit das afghanische Volk oder die Zivilgesellschaft dabei repräsentiert werden soll, ist bislang unklar. Trotz begrenzter Mittel ist die Zivilgesellschaft entschlossen, vor, während und nach der Konferenz eine entscheidende Rolle in der Verteidigung der Interessen der Bevölkerung zu spielen.
boell.de: Glauben Sie, dass die Teilnahme von Vertretern der Taliban bei der Konferenz realisierbar, oder sogar notwendig ist? Welche Rolle spielt der Tod Osama Bin Ladens für die Verhandlungen mit den Taliban?
Rafiee: Die Teilnahme der Taliban wäre als politischer Akt wichtig. Dennoch weiß ich nicht, ob sie teilnehmen werden, was unter den gegebenen Umständen eher unwahrscheinlich ist, da die Taliban von ihren ursprünglichen Forderungen noch nicht abgerückt sind und noch keine Annäherung an die afghanische Regierung gemacht haben. Außerdem stehen die Taliban stark unter Beobachtung durch den regionalen Geheimdienst und ihnen würde kein wirklicher Handlungsspielraum gewährt werden.
boell.de: Wie würden Sie die Rolle der benachbarten Staaten (Pakistan, Iran, Indien etc.) im Hinblick auf die Entwicklungen in Afghanistan beschreiben?
Rafiee: Es ist ganz offensichtlich, dass die Nachbarstaaten großen Einfluss auf Afghanistan haben. Sie sorgen sich alle um die Zukunft, ihre eigene Position, den Zugang zu Ressourcen via Afghanistan oder ihren Anteil daran, um wirtschaftliche Vorteile, insbesondere aber um die regionale Sicherheit. Die strategische Wichtigkeit unserer Nachbarn und die Präsenz der internationalen Gemeinschaft haben wechselseitig einen unlösbaren Konflikt produziert. Es sollte eine regionale Lösung für dieses Problem gefunden werden und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Region gefördert werden, um das Problem am besten zu beheben.
boell.de: Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit Afghanistan sich ab 2014 eigenständig versorgen und für Sicherheit innerhalb seiner Grenzen sorgen kann als ein Land mit einer Zukunftsperspektive?
Rafiee: Als erstes müssen Kapazitäten geschaffen werden, oder konkreter: Die Afghanen müssen dazu in die Lage versetzt werden, die Leitung ihres eigenen Landes zu übernehmen. Dies kann nur passieren, wenn es eine wirksame Partnerschaft nicht nur mit der internationalen Gemeinschaft, sondern vor allem mit den regionalen Akteuren und Nachbarn Afghanistans gibt.
Die Afghanen haben bereits bewiesen, dass sie die Fähigkeit besitzen, mit Herausforderungen umzugehen und von ihnen zu lernen. Diese Fähigkeit muss besser mit den Entwicklungsprozessen und dem Aufbau demokratischer Strukturen koordiniert und harmonisiert werden. Zusätzlich und ganz besonders wichtig ist die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen im Land, um das Vertrauen zwischen dem Staat und der Bevölkerung herzustellen und verantwortungsvolle Regierungsführung zu gewährleisten.
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Das Interview führte Caroline Bertram, Heinrich-Böll-Stiftung
Dossier
Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement
Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.