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Für einen Verhandlungsfrieden in Afghanistan

Mit jedem Monat, der vergeht, wird deutlicher, Afghanistan braucht einen Friedensprozess. Obwohl es auch viele Verbesserungen gibt, nimmt zum zehnten Jahrestag des internationalen Eingreifens die Gewalt zu, und NATO und Taliban eskalieren den Konflikt. Dass entweder die Regierung oder die Aufständischen diesen Konflikt gewinnen können, ist wenig wahrscheinlich. Bis 2014 wollen die USA und ihre Alliierten die Verantwortung für die Sicherheit im Land an die afghanische Regierung übertragen, obgleich es Bedenken gibt, was die Tauglichkeit, die Einheit und die Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte und der paramilitärischen Einheiten angeht. Eine Reihe von Führungskrisen hat zwei Wahlen in Frage gestellt und die meisten Mechanismen institutioneller Politik blockiert. Die Übertragung der Sicherheitsaufgaben findet deswegen vor dem Hintergrund eines schwierigen politischen Übergangs und einer labilen Wirtschaft statt, Sicherheits- und Hilfsleistungen von außen werden zurückgefahren, und die Wirtschaft schrumpft.

Die bisherigen Anstrengungen

Versuche, eine Verhandlungslösung zu finden, sind nicht neu. Im Rahmen der sogenannten, inoffiziellen „Track II-Diplomatie“ fanden mit Unterstützung Saudi Arabiens 2008 und 2009 eine Reihe von Treffen statt, bei denen aber nur sehr wenig erreicht wurde. Die Verhaftung des stellvertretenden Talibanführers Mullah Baradar im Februar 2010 wurde allgemein als Versuch Pakistans interpretiert, Einfluss auf diesen beginnenden Prozess zu nehmen. Bei den Konferenzen in London und Kabul im Januar und Juli 2010 wurde „Aussöhnung“ zur Leitlinie der afghanischen Regierungspolitik, eine Linie, die eine Friedens-Dschirga im Juni 2010 unterstützte. Diese Politik verschleierte bestehende Spannungen zwischen der Regierung, die für Gespräche eintritt, und den USA, die verstärkt Spezialeinheiten einsetzten und das „Afghanistan Peace and Reintegration Program“ (APRP) vorantreiben, durch das Aufständische in unteren und mittleren Positionen dazu gebracht werden sollen, den Kampf aufzugeben. In seinem ersten Jahr hat dieses Programm keine strategische Wirkung entfalten können. Registriert wurden vor allem im Norden und Westen des Landes ein paar tausend Wiedereingliederungswillige, deren Beweggründe und Verbindungen zum Aufstand sehr unterschiedlicher Natur waren. Die afghanische Regierung hat durch einen mit 70 Mitgliedern besetzten Hohen Friedensrat, der im September 2010 einberufen wurde, versucht auf privaten und öffentlichen Wegen mit den Nachbarstaaten und den Aufständischen ins Gespräch zu kommen. Im November 2010 stellte sich heraus, dass einer dieser vermeintlichen Kanäle fiktiv war, und durch einen ähnlichen Fall von Hochstapelei kam es am 20. September 2011 zur Ermordung des Vorsitzenden des Hohen Friedensrats, Burhanuddin Rabbani.

Zweifel und Bedenken

Obwohl eine Schlichtung notwendig scheint, gibt es, was die Folgen angeht, Zweifel und Bedenken. Vielerorts wird geltend gemacht, die Taliban seien an einer Lösung nicht interessiert, entweder aus ideologischen Gründen oder weil man glaubt, sie warteten bloß auf den Teilabzug der USA. Zwar ist in der Tat fraglich, ob es „gemäßigte Taliban“ gibt, die sich mit einer NATO-Präsenz einfach arrangieren könnten, jedoch haben einige Anführer ein gewisses Interesse an Verhandlungen gezeigt, was durch Kontaktaufnahmen 2007/2008 ebenso belegt ist, wie durch Mullah Omars Erklärungen zum Eid-Fest und durch Erklärungen einiger Feldkommandeure. Die Ermordung von Rabbani bedeutet nicht, Verhandlungen seien unmöglich. Eine Eskalation ist kein Beleg dafür, dass Gespräche abgelehnt werden; vielmehr ist dergleichen bei vielen Konflikten im Vorfeld von Verhandlungen zu beobachten. Die gegenwärtigen Verhältnisse und Strategien fördern allerdings nicht eben die Verhandlungsfreude der Aufständischen. 

Für Bedenken sorgt zudem, dass Pakistan, um seinen Einfluss zu sichern, wirksame Verhandlungen verhindern könnte. Den Eliten in Pakistan wird aber zunehmend klar, dass eine stabile Regierung in Afghanistan – eventuell unter Beteiligung der Taliban – in ihrem Interesse sein könnte. Pakistan ist nicht grundsätzlich gegen eine Verhandlungslösung. Der Widerstand Pakistans ist vielmehr Teil eines Teufelskreises, ausgelöst durch die Unsicherheit, ob eine Lösung Pakistans Interessen wahren würde. Sollte sich daran etwas ändern, würden auch Pakistans Bedenken schwinden. Allerdings ist, selbst wenn es erforderlich ist, dass sich Pakistans Sicherheitspolitik ändert, dergleichen für eine dauerhafte Friedenslösung sicher nicht ausreichend. Folglich muss eine inner-afghanische Lösung gefunden werden.

Die Vorstellung, Teil einer Friedenslösung müsse eine Beteiligung der Taliban an der Macht sein, löst erheblichen Widerstand aus. Gruppierungen, die in der Vergangenheit Gegner der Taliban waren oder Minderheiten vertreten, die besonders unter ihrer Herrschaft gelitten haben, glauben, eine Beteiligung der Taliban an der Macht würde zu einem neuerlichen Bürgerkrieg führen. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure fürchten zudem die Folgen für die noch jungen demokratischen Institutionen und Persönlichkeitsrechte. Für all diese Gruppen wäre der schlimmstmögliche Fall ein Geheimabkommen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban – und eben das schien, in den Augen vieler, die Regierung vor Rabbanis Ermordung anzustreben.

Schritte nach vorn

Zwar wird immer deutlicher, dass eine Verhandlungslösung wünschenswert ist, aber der Weg dahin ist versperrt durch Misstrauen, Unstimmigkeiten und Unsicherheit. Es genügt nicht, so lange abzuwarten, bis die militärische Lage die Parteien an den Verhandlungstisch zwingt. Der Prozess muss unter den Parteien Vertrauen dafür herstellen, dass Verhandlungen ein möglicher Weg sind, Sicherheit zu schaffen und einige der eigenen Hauptziele zu erreichen – was wiederum die Argumente dafür, einen Dialog einzugehen, auch unter Hardlinern stärkt. Im Vorfeld von Verhandlungen muss mangelndes Vertrauen durch die Mitwirkung Dritter ausgeräumt werden, die Parteien müssen dabei unterstützt werden, zielgerichteter zu verhandeln, und es muss Vorschläge für einen verfahrenstechnischen Rahmen der Verhandlungen geben. Konsens unter und zwischen den Parteien braucht Zeit. Das Gleiche gilt für praktische Maßnahmen, die die Verhandlungen voranbringen können.

In Afghanistan gilt eine Beteiligung der USA als entscheidender Faktor, da diese den Abzug der NATO-Truppen steuern. Grundlage einer Verhandlungslösung wird sein, einen Teilabzug mit dem Übergang zu einem Waffenstillstand zu verbinden sowie mit dem Nachweis, dass Afghanistan keine Basis für Terroristen ist. Die Sicherheitsrisiken dabei sind erheblich, da die beteiligten Akteure nicht homogen sind, es viele Störkräfte gibt, und die Sicherheitslage in Afghanistan generell schwierig ist. Es wird notwendig sein, neue Formen für einen Waffenstillstand unter Waffen zu finden, für den Rückzug von Truppen in ihre Quartiere, für gemeinsame Beobachtungsmissionen sowie für die Unterstützung durch Dritte.

Gleichermaßen wichtig wird sein, die Beteiligten davon zu überzeugen, dass ein solcher Prozess nicht Ursache neuer Konflikte wird. Dazu braucht es Mechanismen, um politische und gesellschaftliche Interessengruppen mit einzubeziehen und ursächliche Faktoren wie Regierungsführung, Ethnien und Gender zu berücksichtigen. Teilhabe kann durch eine Reihe von Maßnahmen erweitert werden, wozu die Interessenvertretung durch zivile Politiker/innen gehört, Beratungen in zivilgesellschaftlichen Versammlungen oder auch die direkte Beteiligung von Vertreter/innen der Zivilgesellschaft bei Verhandlungen. Die Zivilgesellschaft sollte zudem überlegen, wie es ihr gelingen kann, aktiv bestimmte Prozesse voranzutreiben, und wie sie sich am besten selbst organisiert. Wir werden Institutionen benötigen, die einen solchen Prozess überwachen, seine Ergebnisse überprüfen und die auftretenden Probleme lösen können. Hier eröffnet sich vielleicht ein Handlungsfeld für zivilgesellschaftliche Akteure.

Regelungen zur Machtbeteiligung sind eine Art, langfristig Vertrauen zu schaffen. Allerdings können dadurch auch schwächere zivile Parteien vom Prozess ausgeschlossen werden, sich Störkräfte bilden, und der Extremismus kann Zulauf erhalten. Machtbeteiligung muss jedoch nicht nur bedeuten, dass ehemalige Kriegsherren an der Exekutive beteiligt werden; sie kann auch darin bestehen, dass die Macht zu entscheiden auf eine Vielzahl von Institutionen verteilt und nicht nur auf eine kleine Elite zugeschnitten wird. Machtbeteiligung und Reformen müssen sich nicht ausschließen. Verbindet man beides, dann wird es möglich, den Rahmen einer eventuellen Verhandlungslösung weiter zu stecken und mehr Unterzeichner/innen für ein Abkommen zu gewinnen. In diesem Sinn hängen sämtliche Phasen eines Friedensprozesses miteinander zusammen, und eben dies muss im Vorfeld erwogen werden. Entsprechend mögen zwar derzeit die Zweifel an einer Verhandlungslösung überwiegen, dennoch ist es wichtig, Wege zu ersinnen, auf denen sich solche Hürden überwinden lassen.


Hamish Nixon koordiniert die Forschung zu den Rahmenbedingungen für eine dauerhafte Friedenslösung in Afghanistan für das Osloer Peace Research Institute, das United States Institute for Peace und das Chr. Michelsen Institute. Er ist Verfasser bzw. Mitverfasser von zwei aktuellen Berichten zum Thema, nämlich: Beyond Power-sharing: Institutional Options for an Afghan Peace Process (Peaceworks, United States Institute of Peace, November 2011) und Achieving Durable Peace: Afghan Perspectives on a Peace Process (PRIO Paper, Peace Research Institute Oslo, Mai 2011).