Keine Wahl
Freie Wahlen brauchen zumindest zwei Voraussetzungen: Für alle interessierten KandidatInnen, die demokratische Wahlen und ihre Ergebnisse als das einzige legitime Mittel zum Machterwerb anerkennen, muss der unbehinderte Zugang zur Teilnahme gewährleistet sein und alle, die antreten, brauchen möglichst gleichen Zugang zu den Massenmedien. Beides fehlt heute in Russland. Lilija Schewzowa, Politologin vom Moscow Carnegie Center drückt das so aus: In demokratischen Ländern gelte für Wahlen die Regel „klare Spielregeln, aber unsicherer Ausgang“. In Russland dagegen gelte umgekehrt „unklare Spielregeln, dafür aber klarer Ausgang“. Dieses Begriffpaar beschreibt im übrigen nicht nur die Wahlen sehr gut, sondern lässt sich auf fast alle Bereiche des heutigen russischen Lebens anwenden. Es beschreibt sozusagen eine Grunderfahrung der Menschen in Russland. Im unter Putin entstandenen bürokratisch-autoritären System liegt die Kontrolle über alle wichtigen politischen Entscheidungen letztlich allein in der Hand des Präsidenten, der sich vor allem auf die Bürokratie und die Sicherheitsorgane stützt. Die Kontrolle über die Massenmedien sichert diese Herrschaft durch hohe Zustimmungsraten für den Präsidenten ab.
Neues Wahlgesetz verhindert Teilnahme unabhängiger Kandidaten an der Wahl
Kurz nachdem Wladimir Putin Mitte Dezember den bisherigen Vizepremierminister Dmitrij Medwedjew als seinen Wunschnachfolger benannt hatte, erklärte Wladimir Ryschkow, direkt gewählter Dumaabgeordneter von 1993 bis 2007 und einer der bekanntesten liberalen Politiker in Russland, dass er an den Präsidentenwahlen nicht teilnehmen werde. Das neue Wahlgesetz, so Ryschkow in einer öffentlichen Erklärung, mache eine Kandidatur unabhängiger Politiker unmöglich. Chancen auf Wahlteilnahme hätten nur „vom Kreml zugelassene Parteien oder von ihm geförderte Kandidaten“, die „durch die Präsidentenadministration mit ihren enormen finanziellen Ressourcen“ unterstützt werden. Nach Ryschkow verzichteten auch alle anderen liberalen Politiker, mit Ausnahme von Ex-Premierminister Michail Kasjanow, auf eine Kandidatur. Kasjanows Weg auf den Stimmzettel wurde dann, wie um Ryschkows Worte zu bestätigen, Ende Januar von der zentralen Wahlkommission gestoppt. Angeblich hatten seine Unterstützer so viele der akribisch gesammelten Unterschriften gefälscht, dass das vom Wahlgesetz vorgesehene Quorum von zwei Millionen nicht mehr erreicht wurde. Damit findet die Präsidentenwahl am 2. März ohne Ernst zu nehmende oppositionelle Kandidaten statt.
Kreml hat seine politische Macht manifestiert
Zur Absicherung seiner Macht hat der Kreml ein zwar nicht erklärtes, aber de facto lange angestrebtes Monopol auf die öffentliche Politik in Russland durchgesetzt. Im Parteiensystem dominieren die von ihm geschaffenen und kontrollierten Surrogatparteien. Die verbliebenen liberalen Parteien sind marginalisiert. Andere Parteien wurden mit Hilfe des verschärften Parteiengesetzes zum Jahreswechsel 2006-2007 aufgelöst. Neue Parteien werden gar nicht erst zugelassen. Die sogenannten Wahlen zur Staatsduma im Dezember haben, und das betrifft sowohl den Wahlkampf, die Wahlen selbst als auch den Wahlausgang, die gegenwärtig fast vollständige Kontrolle des Kreml über die formalen politischen Prozesse im Land deutlich bestätigt. Der Preis für dieses System der hohlen Institutionen und der institutionalisierten Verantwortungslosigkeit ist die Konzentration sehr vieler Mittel auf den Machterhalt, so dass zur Lösung der dringenden Probleme Russlands nur unzureichende Ressourcen bleiben. Die Auswirkungen können gegenwärtig sehr deutlich beobachtet werden: Alle Politik bleibt Spekulation. Der künftige Kurs ist unklar, weil niemand voraussagen kann, wieviel Macht Putins wahrscheinlicher Nachfolger Medwedjew wirklich haben wird. Auch er wird, wenn er das System nicht ändern will oder kann, erhebliche Ressourcen für den Machterhalt aufwenden müssen.
Gleichgeschaltete Medien stützen das System Putin
Bereits bei den Dumawahlen hat der Kreml gezeigt, dass er die russische Öffentlichkeit fast nach Belieben beherrscht. Alle politischen Kräfte, die dem Kreml gefährlich werden könnten, wurden im Vorfeld auf administrativem Weg ausgesiebt. Die kontrollierten zentralen Fernsehkanäle berichteten meist positiv über die dem Kreml nahestehenden Parteien. Über oppositionelle Parteien und Politiker wurde unvergleichlich weniger und aus einem meist kritisch-negativen Blickwinkel berichtet. Dieser Effekt verstärkte sich noch einmal, nachdem Präsident Putin am 1. Oktober 2007 angekündigt hatte, Spitzenkandidat der Kremlpartei Einiges Russland (ER) zu werden.
Zwar gibt es in Russland durchaus noch Informationsalternativen zum Fernsehen. So senden in einer ganzen Reihe großstädtischer Zentren, darunter in Moskau und St. Petersburg, weiterhin unabhängige Radiostationen. In Moskau erscheint ein halbes Dutzend dem Kreml gegenüber kritisch eingestellter Zeitungen. Vor allem das russische Internet ist bisher als letzter Hort der Freiheit von staatlichen Gängelungsversuchen weitgehend verschont geblieben. Allerdings informieren sich nach Untersuchungen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum rund 80 Prozent aller Menschen in Russland über Politik vorwiegend oder ausschließlich über das Fernsehen. Seiner überragenden Reichweite und damit enormen Wirkungskraft können weder die insgesamt nicht über zwei Millionen Auflage kommenden seriösen Hauptstadtzeitungen, noch die unabhängigen Radiosender etwas Nennenswertes entgegensetzen. Auch das nach unterschiedlichen Angaben inzwischen von 15 bis 20 Prozent der Russen genutzte Internet kann hier nur kleine Korrekturen anbringen. Immerhin ist es das einzige Medium, dass die enormen Weiten des Landes zusammen schmelzen lässt und die schnelle Verbreitung nicht offizieller Informationen ermöglicht. Diese finden sich dann, allerdings in abgeschwächter und gefilterter Form, oft auch in den traditionellen Medien wieder.
Blogs sorgen für kritische Meinungsäußerungen
Im Dumawahlkampf spielten Blogs, vor allem aus dem russischen Live Journal, eine wichtige Rolle. Dort berichteten Menschen aus allen Landesteilen darüber, wie im Vorfeld der Wahl staatlicherseits ein enormer Druck auf die potenziellen Wählerinnen und Wähler ausgeübt wurde. Sie sollten für die „richtige“ Partei abzustimmen - für die Kremlpartei Einiges Russland. So gelangten Informationen über Belegschaftsversammlungen an die Öffentlichkeit, in denen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Kündigung gedroht wurde, sollten sie am Montag nach der Wahl nicht per Mobiltelefonfoto - auf dem Bild der ausgefüllten Stimmzettel neben dem Personalausweis - nachweisen können, dass sie wie befohlen abgestimmt haben. Oder Berichte von Hochschulen, die den Sonntag zum Vorlesungstag bestimmten, und ihre Dozenten verpflichteten, mit den Studenten kollektiv abstimmen zu gehen. Wer schwänzte, riskierte den Rauswurf aus dem Studentenwohnheim. Angesichts der kleinen Stipendien und der hohen Mietpreise in Russland würde das für viele Studenten den Abbruch des Studiums bedeuten. Inwieweit sich dieser Internetprotest auf das Wahlverhalten ausgewirkt hat, lässt sich kaum beurteilen. Verlässliche Untersuchungen dazu gibt es nicht.
Putin erhält vorwiegend Zustimmung von Menschen aus Dörfern und kleineren Städten
Allerdings ist die Zustimmung zu Präsident Putin und der ihm nahestehenden Parteien in den Megastädten Moskau und St. Petersburg und in den anderen Millionenzentren des Landes deutlich niedriger als im Landesdurchschnitt. Dort ist auch das Internet für weit mehr Menschen ein alltägliches Arbeits- und Informationsmedium als in den kleineren Städten und Regionen. Hier fällt besonders der Unterschied zu den 1990er Jahren, der Zeit der Präsidentschaft Boris Jelzins, auf. Jelzin wurde immer sehr viel stärker in den großstädtischen Zentren unterstützt. Dort sind die Menschen in Durchschnitt mobiler und besser gebildet. Auf dem Land hingegen, im sprichwörtlichen russischen Dorf und in den kleinen Städten, hatten die Kommunisten ihre Hochburgen. Man nannte diese vor allem südlich von Moskau den „roten Gürtel“. Unter Putin hat sich das Verhältnis umgedreht. Er wird eher von Menschen aus den Dörfern und kleineren Städten unterstützt. Seine Wählerinnen und Wähler sind weniger gebildet und immobiler als der Durchschnitt. Diese schweigende und wartende Mehrheit zu gewinnen scheint ausreichend für den Macherhalt. Ob die dringend notwendige Modernisierung des Landes, der Putin ständig das Wort redet, aber ohne oder gar gegen die modernen Eliten gelingen kann, ist fraglich.
Präsidentenwahl gilt als entschieden
Warum ist bisher so viel vom vergangenen Dumawahlkampf und so wenig von den anstehenden Präsidentenwahlen die Rede gewesen? Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen ist die Präsidentenwahl nach Meinung aller Beobachter und aller Beteiligten längst entschieden: Medwedjew wird haushoch, und zwar gleich im ersten Wahlgang, gewinnen. Auch fehlt gegenüber der Dumawahl die Spannung, wer sonst noch und mit wie viel Abgeordneten in das Parlament einzieht. Schon der Zweite der Präsidentenwahl steht mit leeren Händen da. Allenfalls für Insider ist interessant, ob Medwedjew mehr, gleichviel oder weniger Stimmen als Putin vor vier Jahren bekommen wird. Aus diesem Ergebnis wird man versuchen abzulesen, über wie viel Macht und Unabhängigkeit der neue Präsident tatsächlich verfügen wird. Der zweite Grund ist ein Gewöhnungseffekt, der einen gewissen Fatalismus erzeugt. Der Kreml hat bei den Dumawahlen gezeigt, wie sehr er gegenwärtig, wenn auch unter Einsatz enormer Ressourcen, die politischen Prozesse im Land steuern kann. Niemand bezweifelt, dass auch die Präsidentenwahlen mit der gleichen Entschlossenheit durchgezogen werden. Völlig im Gegensatz zur Mobilisierungsrethorik Putins, der an allen Ecken und Enden Feinde und Gefahren beschwört, die angeblich mit dem neuerstarkten Russland hadern und unter Zuhilfenahme „fünfter Kolonnen“ im Land einen Umsturz vorbereiten, sind weite Teile der Opposition überzeugt, dass das gegenwärtige Regime einige Zeit überstehen wird. Alle Hoffnung richtet sich auf die strukturell bedingte Krisenanfälligkeit, die autoritären Regimes innewohnt. Das ist allerdings eine Hoffnung mit sehr langem Haltbarkeitsdatum.
Wahl ohne ernst zu nehmende Gegenkandidaten bleibt spannungslos
Mit dem Streichen von Michail Kasjanow als Kandidat war auch der letzte kleine Spannungsmoment aus dem Präsidentenwahlkampf genommen. Die Wahlkampfinszenierung im Fernsehen ist langweilige und wird von den meisten Menschen kaum wahrgenommene. Bereits kurz nach Putins Ankündigung, Medwedjew sei sein Kandidat, wurde der bisherige Vizepremier häufiger in den Nachrichten und in anderen politischen Sendungen im Fernsehen gezeigt als Putin selbst. Sein Rating stieg schnell und erreichte schon Anfang des Jahres Putinsche Höhen. Von Beginn an wurde Medwedjew präsidial präsentiert. Das Fernsehvolk bekommt ihn in programmatischen Reden vor einem großen, begeisterten Publikum zu sehen. Oder wie er als Vorsitzender beeindruckender Runden mit wichtigen Politikern, Unternehmern oder Wissenschaftlern Wohltaten verteilt und große Pläne verkündet.
An den Fernsehdebatten der übrigen Kandidaten nimmt Medwedjew ebenso wenig teil, wie das die Kremlpartei Einiges Russland im Dumawahlkampf getan hat. Dem russischen Wahlvolk signalisiert er damit, dass er in einer anderen Liga spielt und sich mit den übrigen vom Kreml zugelassenen Kandidaten, dem Kommunistenchef Gennadij Sjuganow, dem Nationalistenclown Wladimir Schirinowskij und dem angeblichen Liberalen Andrej Bogdanow, nicht gemein macht. Es wird aber auch kolportiert, dass Medwedjew, der sich ein liberales und demokratisches Image zu geben versucht, ursprünglich vorgehabt habe, an den Debatten teilzunehmen, dann aber am Einspruch des Kremls gescheitert sei. Wenn das so ist, könnte dahinter die Strategie Putins stehen, dem neuen Präsidenten möglichst wenig persönliche Legitimität zu verschaffen, um ihn besser kontrollieren und gegebenenfalls wieder ablösen zu können. Auch die Nichtzulassung von Kasjanow zu den Wahlen ließe sich so besser erklären als mit der Angst vor einem wirklichen Oppositionskandidaten. Eine Angst, die angesichts der äußerst geringen Popularität von Kasjnaow nicht verständlich ist.
Öffentliche Auftritte der sogenannten Opposition sollen Wähler abschrecken
Die Fernsehdebatten der drei sogenannten Oppositionskandidaten haben wohl vor allem den Sinn, Wähler abzuschrecken. Sjuganow hat nichts gelernt aus dem Misserfolg der Sowjetunion und bietet lediglich alten Ideologen und meist lebensalten Verlierern der Transformation eine Projektionsfläche. Selbst Stalin wurde wieder aus der Kiste geholt und darf für die Kommunisten werben. Schirinowskij wirbt um Menschen, die der herrschenden Elite ihre Unzufriedenheit zeigen wollen, aber ohne dabei ernsthafte Veränderungen zu riskieren. Schirinowskij bedeutet Show, manchmal sogar gute, laute Töne ohne Folgen. So ließ er es sich nicht entgehen, vor laufenden Kameras eine Schlägerei zu provozieren, diesmal mit den Sekundanten von Bogdanow. So etwas vergnügt seine Anhänger und soll allen anderen zeigen, was man bekommen kann, wenn man nicht wählt wie der Kreml will. Beide, Sjuganow und Schirinowskij, spielen ihre jeweilige Rolle seit Jahren. Neu ist die Figur Andrej Bogdanow.
Der bis vor kurzem völlig unbekannte Bogdanow hat Ende 2005 Kasjanow die seit Perestroikazeiten existierende, jedoch vor sich hindümpelnde Demokratische Partei Russland. buchstäblich vor der Nase weggeschnappt. Er gibt sich als Hüter liberaler, westlicher Werte. Doch seine öffentlichen Auftritte, in denen er unverdrossen Russlands NATO- oder EU-Beitritt fordert, gleichen der ein wenig bedrohlichen, vor allem sehr „antirussischen“ also „vaterlandsverräterischen“ Karikatur, die die Kremlideologen seit langem von demokratischen Politikern zeichnen.
Machtbalance wird durch Stärke Putins als zukünftiger Premier empfindlich gestört
Die Präsidentenwahl ist gegenüber der schon ungerechten und undemokratischen Dumawahl noch einmal ein Rückschritt. Sie ist noch mehr Inszenierung und noch weniger freie Wahl. Sein Ziel, einen möglichst reibungslosen formalen Wechsel im Präsidentenamt zu vollziehen, hat der Kreml erreicht. Doch bleibt Putin durch seine persönliche Popularität ein starker Premierminister. Das ist neu und dem vollständig auf den Präsidenten zugeschnittenen politischen System fremd. Die bisherige Machtbalance wird empfindlich gestört. Der Preis der Wahlinszenierung dürfte eine weitere Immunisierung des politischen Systems gegen substanzielle Machtwechsel innerhalb des institutionellen Rahmens sein. Das suggeriert Stabilität, solange es scheinbar aufwärts geht. Jede künftige Krise wird so aber tatsächlich zu der Systemfrage, zu der sie Präsident Putin und seine Umgebung seit einiger Zeit deklarieren. Jede künftige Krise trägt deshalb den gefährlichen Samen gewaltsamer Eruptionen in sich.
Was kommt nach der Wahl Medwedjews?
Bleibt die Frage, was nach der Wahl von Medwedjew kommt? Nachdem Putin im Dezember ihn und keinen der anderen gehandelten Kandidaten aus seiner Umgebung benannt hatte, war vielen westlichen Kommentaren ein deutliches Aufatmen zu entnehmen. Putin habe sich für den liberalsten aller für möglich gehaltenen Nachfolger entschieden, hieß es allenthalben, das sei ein gutes Zeichen. Doch ist das wirklich so? Ist Medwedjew ein Liberaler? Oder zumindest liberaler als die anderen Kremlgranden? Medwedjews programmatische Reden scheinen diese Annahme zu bestätigen. So hielt er im Januar in Moskau vor der kremlgesteuerten sogenannten Zivilgesellschaftskammer und dann noch einmal Mitte Februar im sibirischen Krasnojarsk zwei ausgesprochen liberale Reden, die viel von Demokratie, Recht, Bürgerbeteiligung und Innovationen handelten. Doch leider gibt es einigen Anlass, Medwedjews Aussagen nicht für bare Münze zu nehmen.
Da ist zum einen Wladimir Putin. Der scheidende Präsident wird zwar der Form genüge tun und Anfang Mai die Amtsgeschäfte seinem Nachfolger übergeben. Doch von der Macht mag er nicht recht lassen. Kurz vor der Wahl formulierte Putin eine 20 Jahre in die Zukunft reichende Entwicklungsstrategie für Russland. Medwedjew musste sich in Krasnojarsk auf vier Jahre, eine Präsidentenamtszeit, beschränken. Darauf angesprochen, ob es denn Widersprüche zwischen seiner Vision und den Plänen Medwedjews gäbe, antwortete Putin, dass Medwedjew seinen Zukunftsentwurf ergänze und konkretisiere. So spricht kein zweiter Mann. Schon gar nicht in Russland. Überhaupt wirkt die Kandidatur Medwedjews ein wenig wie eines der Zuckerstücke, die Putin bisweilen dem darbenden Publikum anzubieten beliebt. Sein Aufstieg lässt sich auch als eine Abfolge von Zumutungen und anschließenden kleinen Freundlichkeiten oder Entgegenkommen erzählen. Mit dem Ergebnis, dass es nachher immer schlimmer war als vorher. So war es nach der Dumawahl 2003, als die liberalen Parteien erstmals nicht ins Parlament gelangten und Putin nachher zwei, drei bekannten Liberalen wichtige Posten im Staatsdienst anbot. So war es bei der Verschärfung des NGO-Gesetzes Ende 2005, als er höchstpersönlich in den Gesetzgebungsprozess eingriff und aus einem katastrophalen Gesetz ein sehr schlechtes machte. Und so kann man nach der kalt-kriegerischen Rethorik des vergangenen Jahres, angefangen von der Münchner Rede zur Außenpolitik im Februar bis zur drohenden Warnung an die angeblich wie „Schakale um ausländische Botschaften“ schleichenden russischen Liberalen eine Woche vor der Dumawahl, auch die Benennung Medwedjews deuten. Aber vielleicht heißt Medwedjews Kandidatur auch nur, dass Putin keinen der sogenannten Hardliner aus dem Geheimdienstmilieu zu seinem Nachfolger bestimmen konnte, weil die im letzten Jahr untereinander einen unerbittlichen Kampf um Einfluss und Ressourcen begonnen hatten, der mittels Zeitungsartikeln und gegenseitigen Haftbefehlen sogar öffentlich ausgetragen wird.
Medwedjews Reden sind doppeldeutig
Doch auch Medwedjew selbst gibt wenig Anlass begründeter Hoffnung. Er ist ein Gewächs des Apparats aus dem Nachwuchsschuppen von Putin. Medwedjew ist kein Politiker, er ist Beamter. Noch nie in seinem Leben hat er um ein politisches Amt im freien, fairen und deshalb harten Wettbewerb kämpfen müssen. Noch nie hat er öffentlich für eine Idee oder eine Überzeugung wirklich einstehen müssen. Ob er tatsächlich nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische liberale Werte und Politik bevorzugt, muss er erst noch nachweisen. Bis dahin sind alles bloße Worte. Und selbst die sind sehr interpretationsfähig. In seiner Krasnojarsker Rede spielte Medwedjew zum Beispiel mit der Überlegung, dass zu viele Staatsbeamte in den Aufsichtsräten der großen russischen Konzerne säßen und dass dort reine Wirtschaftsfachleute und Unternehmer besser aufgehoben wären. Ein erneuter Hinweis auf eine Lockerung des staatlichen Griffs? Doch auch umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Kontrolle über die Staatskonzerne und andere Wirtschaftsaktiva sind ein wichtiges Machtmittel der unterschiedlichen Kremlgruppen im Kampf untereinander. Medwedjews Vorschlag kann also ebenso gut gegen seine Konkurrenten im Kreml gerichtet sein und der Kandidat hat den liberalen Mantel nur zur Verkleidung übergeworfen.
Und deshalb soll noch einmal mit Lilija Schewzowa geendet werden. Als eine der Fallen des gegenwärtigen Machtsystems in Russland nennt sie die „Ungewissheit der Gewissheit“. Die alleinige Macht Putins macht die Situation in Russland immer unübersichtlicher. Zumindest für uns Beobachter. Aber es ist auch zu befürchten, dass innerhalb des Kreml der Überblick verloren geht.