Die amerikanische Außenpolitik ein Jahr nach dem Regierungswechsel: Gibt es eine Obama-Doktrin?

US-Präsident Barack Obama bei seiner Rede an der Universität von Kairo am 4. Juni 2009. Er fordert unter anderem einen Neuanfang zwischen den USA und den Muslimen. Foto: The White House. Dieses Foto steht unter einer US Government Work Lizenz.

18. Dezember 2009
von Klaus Linsenmeier
“Manchmal ist Krieg notwendig”. Es dürfte das erste Mal in der Geschichte des Friedensnobelpreises sein, dass diese Feststellung von einem Empfänger des Preises in seiner Dankesrede getroffen wurde. Die Begründung enthielt denn gleich noch eine Zumutung: „ Das Böse existiert in dieser Welt“. Für eine Reihe von Kritikern stand nach der Rede fest, dass die Verleihung des Preises an den seit erst knapp einem Jahr amtierenden amerikanischen Präsidenten ein Fehlgriff war: zu sehr basiere die Wahl auf seinen Reden statt auf Taten und schließlich verdiene ein Präsident, der gerade den Krieg in Afghanistan verschärfe, nicht diesen noblen Preis.

Die Kritik unterschätzt jedoch die Bedeutung der Rhetorik in der amerikanischen Außenpolitik und sie übersieht, dass trotz aller aufscheinenden Widersprüche in dieser und in den vorhergehenden Reden in Kairo und Westpoint Elemente einer neuen außenpolitischen Doktrin zu erkennen sind. Diese Reden sollen Amerikanern und der Welt den anstehenden Politikwechsel vermitteln.


Engagement und Geduld


Die augenscheinlichsten Veränderungen der US-Außenpolitik zeigen sich gegenüber autoritären Regimes. Diesen wird nicht der gewaltsame „Regime-Change“ angedroht, sondern ein Gesprächsangebot gemacht. Mit allen Regimes hat die Administration im ersten Jahr Gespräche geführt, von Sudan bis Myanmar, von Iran bis Nordkorea. Als „Engagement und Geduld“ kann man diese Phase der Zusammenarbeit bezeichnen, die bestenfalls auf längere Sicht Ergebnisse zeitigen kann. Der Regierung kommt dabei zugute, dass die Herangehensweise von George W. Bush, Kontakte nur unter sehr restriktiven Bedingungen und eine konfrontative Rhetorik, nur wenig bewirkt hat. Dennoch warnen Kritiker, seien es konservative Republikaner oder Menschenrechtsaktivisten wie Kenneth Roth von Human Rights Watch: „Engagement ohne Druck wird von autoritären Regimes als Kapitulation verstanden“.

Sanktionen und „gerechter Krieg“

Regimes, die sich nicht an die internationales Recht halten und die Menscherechte missachten, soll mit Druck begegnet werden. Die Regierung ist sich dabei durchaus bewusst, dass es Regime gibt, wie etwa Nordkorea, die inzwischen so weit isoliert sind, dass sie auch auf Druck kaum reagieren. In anderen Fällen unterlaufen Mitglieder der UN, allen voran China, Sanktionen, etwa im Fall des Iran oder im Sudan. Dennoch baut Obama auf die Durchsetzung von Recht und bindet das Vorgehen der USA selbst an internationales Recht. Das schließt Gewalt als letztes Mittel nicht aus, wenn die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist und Zivilisten geschont werden. Ausdrücklich bezieht sich der Präsident dabei auf das Konzept des „gerechten Krieges“.

Begrenzung und Konzentration

Die Regierung ist sich aber auch der Grenzen ihres Handelns bewusst. George W. Bush wollte den Krieg gegen den Terrorismus gegenüber Gruppen wie Al Quaida ebenso führen wie gegen Schurkenstaaten, die diese beherbergen. Sein breiter und unklarer Terrorismusbegriff brachte ihn gleichermaßen in einen Kriegszustand mit Gruppen wie Hamas, Hisbollah oder Islamischer Dschihad ebenso wie mit einer Reihe von Staaten, wie Iran und Nordkorea.

Obama beschränkt nun Ziele und Aktionsradius bewaffneter Konflikte, in denen sich die USA engagieren. Dabei kommt ihm zugute, dass die Vorgängerregierung außenpolitisch einen Scherbenhaufen und militärisch eine „strategische Erschöpfung“ hinterlassen hat. Obama bleibt gar nichts anderes übrig als den Krieg zu fokussieren, wenn er Wirkung erzielen und seine Ziele erreichen will. „Ich weiß, dass unserem Engagement gegenüber repressiven Regimes die Reinheit der aufrechten Empörung fehlt“ so Obama in Oslo. „Aber kein repressives Regime kann sich wandeln, wenn sich nicht eine Tür dazu öffnet.“ Zugleich verwendet er einen erweiterten Friedensbegriff: ein gerechter Friede umfasst nicht nur bürgerliche und politische Rechte. Wahrer Friede entsteht nur, wenn auch die „Freiheit von Not“ gesichert werden kann. Die kooperative Rhetorik der Rede in Kairo im Juni und die Entscheidung, den Krieg in Afghanistan zu verschärfen, sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

Kontinuität und neuer Führungsanspruch

Die Kontinuität der amerikanischen Außenpolitik liegt im Führungsanspruch und dem Verantwortungsgefühl für die globale Sicherheit. Hier steht Obama in der Tradition seiner Vorgänger. Die USA müssten aufgrund ihrer demokratischen Gründungsgeschichte zudem eine besondere Rolle spielen. Diese auf Alexis de Tocqueville zurückgehende Vorstellung des amerikanischen Exzeptionalismus (Einzigartigkeit) ist ein starkes Identität stiftendes Leitbild der heterogenen amerikanischen Gesellschaft und prägte in den letzten Jahrhunderten immer wieder die politische Diskussion. Revolutionen bringen demnach selten Demokratie und einen gerechten Frieden hervor. Anders als die europäischen Demokratien, mussten die Amerikaner ihre Freiheit nicht gegen Obrigkeit und Adel im eigenen Land erkämpfen. Die im revolutionären Aufbegehren begangenen Grausamkeiten, eine schwere Hypothek für viele junge europäische Demokratien, sind den Amerikanern erspart geblieben. Obama bezieht sich zugleich auf den liberalen Internationalismus: eine demokratische Staatenwelt entspricht am ehesten den amerikanischen Wertevorstellungen und dient zugleich den Sicherheitsinteressen des Landes. Den Widerspruch von Idealismus und Realismus will er für seine Regierung nicht gelten lassen.

Amerikas neue Rolle in der Welt

Anders als Bush setzt sich Obama intensiv mit der neuen Rolle der USA in der Welt auseinander. Amerika wird auf lange Sicht die stärkste Nation bleiben, der unipolare Hegemonialanspruch lässt sich aber nicht mehr durchsetzen. Bereits im Wahlkampf hat sich Obama dafür stark gemacht, Amerika wieder in die Verantwortung für und mit der Staatengemeinschaft einzugliedern. In einigen Fällen, wie der Begleichung der seit vielen Jahren ausstehenden Mitgliedsbeiträge bei den Vereinten Nationen ist dies ohne viel Aufhebens geschehen. Die Schaffung der G 20, der regelmäßig tagenden Gruppe der zwanzig wichtigsten Staaten der Welt, ist die logische Konsequenz dieses kooperativen Führungsanspruches. Mit Mächten wie China, die über die Finanzierung des gigantischen amerikanischen Defizits inzwischen auch eine Rolle bei der Finanzierung innenpolitischer Vorhaben, wie etwa der Gesundheitsreform spielen, gibt es keine Alternative zu einer kooperativen Diplomatie. Die damit verbundenen Zumutungen an die amerikanische Elite werden außerhalb Amerikas allerdings häufig unterschätzt: Die globalen Verhandlungen um ein Kyoto-Nachfolgeabkommen machen deutlich, dass ein großer Teil der amerikanischen Elite (noch) nicht bereit ist, die Begrenzung amerikanischen Sonderrolle anzuerkennen: der amerikanische Kongress tut sich nach wie vor schwer, globale Abkommen zu ratifizieren, die die Handlungsfreiheit Amerikas in irgendeiner Weise einschränken.

Wie bei vielen seiner Vorgänger wird der amerikanische Exzeptionalismus bei Obama religiös unterlegt. Während den meisten Protagonisten amerikanischer Außenpolitik Zweifel an der eigenen moralischen Mission fremd ist, konfrontiert Obama seine Mitbürger auch mit den Ambivalenzen der Politik. Er bezieht sich dabei auf seinen „Lieblingsphilosophen“ den protestantischen Theologen Reinhold Niebuhr, der in seinem bereits 1952 erschienenen Buch „The Ironie of American History“ die häufig fatalen Folgen auch wohlmeinenden Handelns vor Augen geführt hat. Seinen Besuch im Konzentrationslager Buchenwald nutzte Obama gar zu der Mahnung, „gegen die Grausamkeit in uns Vorbeugung zu treffen“. Derlei Selbstzweifel sind weiten Teilen der amerikanische Elite, nicht nur der außenpolitischen, weitgehend fremd und werden häufig als Zeichen der Schwäche gedeutet.


Herausforderungen an die Verbündeten


Die neue amerikanische Außenpolitik ist keineswegs frei von inneren Widersprüchen etwa in der Verbindung von Terrorbekämpfung und Statebuilding in Afghanistan. Die Rede von Oslo  hat zudem deutlich gemacht, dass ein amerikanischer Präsident sich im Zweifelsfall für sicherheitspolitischen Pragmatismus  entscheiden wird. Auch darf nicht übersehen werden, dass die neue Außenpolitik nicht nur von den beschriebenen Grundüberzeugungen geleitet wird, sondern vor allem die Durchsetzung amerikanischer Interessen im Blick haben muss. Ob die beschriebenen neuen Elemente der amerikanischen Außenpolitik bereits eine neue Doktrin beschreiben, wird sicher erst in Zukunft entschieden werden können.

Dennoch hat Amerika einen Präsidenten, der wie kaum einer seiner Vorgänger in der Lage ist, die globalen Veränderungen sprachlich zu fassen und mit der Bevölkerung wie mit den Verbündeten zu kommunizieren. Auf beeindruckende Weise geht er dabei ohne Scheu auch auf grundlegend Widersprüche ein, sei es das Dilemma des Nobelpreiskomitees, das er bei der Verleihung direkt ansprach, oder die Frage des Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft, mit der er sich in einer bemerkenswerten Rede auseinander gesetzt hat. Nach acht sprachlosen Jahren Bush-Regierung debattiert das demokratische Amerika heftiger denn je.
All dies ist noch keine Garantie für einen Erfolg seiner außenpolitischen Großbaustellen, sei es in Afghanistan oder im Mittleren Osten, sei es bei den im kommenden Jahr anstehenden Abrüstungsverhandlungen. Die Europäer müssen sich jedoch entscheiden, ob sie die Chance, mit dem seit langem wohl intellektuellsten Präsidenten in Amerika die globale Ordnung zu gestalten, nutzen wollen und können. Die Bevölkerungen in Europa wie in Amerika sind stark auf die innenpolitischen Probleme orientiert. Die regierende Elite in den USA ist jedoch dabei, die anstehenden Herausforderungen anzugehen. Jetzt ist es auch an den Europäern, die Chance, die nicht so bald wiederkehren dürfte, zu ergreifen.

Die Transatlantische Partnerschaft neu begründen

Einem grundlegenden Wandel unterliegen seit geraumer Zeit die transatlantischen Beziehungen. Die Nachkriegsgeschichte, die diese Partnerschaft begründet hat, geht zu Ende. Form und Inhalte der bisherigen Politik verlieren ihre Bindekraft, viele altgediente Transatlantiker kommentieren diesen Prozess mit Resignation und teilweise Zynismus. Die transatlantische Partnerschaft ist wichtig, aber wenig strategisch. Der aus der Nachkriegs Vergangenheit tragende Feiler, die NATO, bietet für viele Herausforderungen keine Antworten. Die transatlantische Partnerschaft bedarf einer neuen, tragfähigen Begründung.
Der Regierungswechsel in den USA und die Verabschiedung des Lissaboner Vertrages in Europa können die Chance dafür bieten, dass sich die Transatlantische Partnerschaft neu erfindet. Der Auswärtige Ausschuss des amerikanischen Kongresses hat hierzu auf seiner Sitzung vom 15. Dezember 2009 eine Reihe von Initiativen diskutiert. Vorgeschlagen wurden sie von Professor Dan Hamilton, Director des Centers for Transatlantic Relations an der renommierten John Hopkins School for Advanced International Studies (SAIS) Dan Hamilton. Die Vorschläge enthalten bemerkenswerte Initiativen für eine stärkere transatlantische Integration:

  • Schaffung eines gemeinsamen transatlantischen Rechtsraumes der Freiheit und Sicherheit gewährleistet.
  • Schaffung eines freien transatlantische Marktes
  • Reform der Global Governance mit Schwerpunkten wie einer globalen Finanzmarktregulation, der Reform der Bretton Woods Institutionen IWF und Weltbank und Bearbeitung des Konfliktes zwischen Handels- und Klimapolitik etc.
  • Partnerschaft zu einer Nachhaltigen Energieversorgung
  • „Europa vervollständigen“ durch Erweiterung, Förderung der demokratischen Transformation und transatlantische Partnerschaft
  • Gemeinsame Konfliktbearbeitung über die NATO-Kooperation hinaus
  • Verdopplung der Anstrengungen zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen
  • Verbesserung der Entwicklungspolitik und humanitären Hilfe durch erweiterte strategische Zusammenarbeit
  • Öffnung des transatlantischen Verteidigungsmarktes
  • Schaffung einer Atlantic Basin Initiative, die dem transatlantischen Integrationsprozess Dynamik verleihen soll

Die Vorschläge sind unterlegt mit einer Fülle von Einzelmaßnahmen. Unabhängig davon wie konsensfähige diese sind oder wie konfliktträchtig die einzelnen Vorschläge sein mögen: entscheidend ist, dass es derzeit eine Chance der strategischen transatlantischen Partnerschafträchtig  gibt, die beide Seiten nicht verpassen sollten. Hierzu bedarf es neuer Inhalte, neuer Prozesse und neuer Institutionen vor allem aber einen langen Atem auf beiden Seiten des Atlantiks.

Klaus Linsenmeier ist Leiter des Nordamerika Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington D.C.

Veranstaltungshinweis:

One Year of Obama: Have Transatlantic Differences Narrowed
Seminar organized by FRIDE , the Heinrich Böll Stiftung and CEPS.
Brüssel, 1 Place du Congress, 2. Februar 2010
Kontakt: Sebastian Gräfe, HBS/Washington. E-mail: Sebastian@boell.org

Slideshow vom White House Flickr Profil

Quelle: Flickr. Lizenz: United States Government Work. Für Bildinformationen auf das Foto klicken.