Thesen zur Bildungspolitik
1. Zu den besonders wichtigen sozialen und ökonomischen Trends, die die Entwicklung der kommenden Jahrzehnte mit Blick auf Bildung und Arbeit kennzeichnen werden, gehören der sektorale Strukturwandel zwischen Industrie und Dienstleistern sowie die Globalisierung der Wirtschaft und eine weitere Individualisierung der Arbeit. Der damit einhergehende Wandel der Wissensbasis macht im Durchschnitt eine Höherqualifizierung der Arbeitskräfte erforderlich. Die Alterung der Gesellschaft bei gleichzeitig rückläufigen Geburtenzahlen, verbunden mit der Zunahme gesellschaftlicher Heterogenität durch Einwanderung und Migrationshintergrund wirft völlig neue bildungspolitische Fragen auf. Schließlich gilt es, die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen auch bildungspolitisch zu unterstützen.
2. Auf die Herausforderungen, die sich daraus ergeben, ist unser Bildungssystem nicht gut vorbereitet. Es ist auf die Bedürfnisse einer traditionellen Industriegesellschaft orientiert, ineffizient und sozial selektiv. Das unzureichende Ausschöpfen von Bildungspotentialen schwächt die Handlungsfähigkeiten der Menschen, schadet der Dynamik der Wirtschaft und erhöht den Druck auf die Sozialsysteme, deren Finanzierung gleichzeitig immer schwieriger wird. Dieser gemeinsame Ausgangsbefund war der Anlass für die Heinrich-Böll-Stiftung und das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW), in einer Round Table-Konferenz mit ausgewählten Vertretern der Wirtschaft und der Grünen den Vorrat an gemeinsamen Positionen in der Bildungspolitik auszuloten, aber auch die Unterschiede in der bildungspolitischen Grundsatzprogrammatik herauszuarbeiten.
3. Die grundlegenden Ziele von Bildung sind die Ermöglichung individueller Selbstständigkeit, die Qualifizierung der Humanressourcen von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengerechtigkeit.
4. Bildungsinvestitionen fördern Wachstum und erhöhen Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe. Daher kommt der Qualität und Quantität von Bildungsinvestitionen eine herausgehobene wirtschafts- und gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Zur Sicherung der Wissensbasis in Deutschland und vor dem Hintergrund des demographischen Wandels ist daher die Bildungsteilnahme auf allen Ebenen deutlich zu steigern.
5. Die Aufgabe zukunftsfähiger Bildungspolitik besteht darin, den Bogen von frühkindlicher Erziehung, Schule, beruflicher Bildung und Hochschule bis zur Weiterbildung in den Blick zu nehmen. Zukunftsfähige Bildungspolitik orientiert sich am Leitbild der Bildung im Lebensverlauf. Das erfordert ein Denken über Ressortgrenzen und föderale Zuständigkeiten hinweg.
6. Das methodische Prinzip einer Bildungspolitik, die den Individuen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und zugleich den gewandelten Anforderungen des Wirtschaftslebens Rechnung trägt, ist eine Orientierung auf Verbesserung der Übergänge: „Durchlässigkeit“ und zweite Chancen durch „Anschlüsse und Abschlüsse“ sind die Maximen. Wer die Erhöhung der Studierendenquote fordert, muss auch neue Aufgaben für die Elementar-, Primar- und Sekundarbildung in den Blick nehmen. Umqualifikatorische Sackgassen zu vermeiden, müssen Übergänge durch die verbesserte Anschlussfähigkeit von Bildungsgängen gewährleistet werden.
7. Durchlässigkeit stellt große Anforderungen an eine gesamtstaatliche bildungspolitische Verantwortung unter den Bedingungen des Bildungsföderalismus. Bei der gegenwärtigen Verteilung von Zuständigkeiten und finanziellen Verantwortlichkeiten zwischen Kommunen, Ländern, Bund, Bundesagentur für Arbeit (BA), Wirtschaft u.a. gibt es jedoch erhebliche Anreize, sich der Verantwortung für den Bildungsprozess zu Lasten anderer föderaler Ebenen oder Akteure im Bildungswesen zu entledigen. So zeugt es von organisierter Unverantwortlichkeit, wenn die Länder Jugendliche auch ohne ein garantiertes Bildungsminimum nach Ende der Schulpflicht an die Verantwortung von Wirtschaft, Bund bzw. die BA abschieben.
8. Erforderlich sind effizientere und effektivere Investitionen in das Bildungssystem. Das alleinige Abstellen auf eine Steigerung der Bildungsinvestitionen greift zu kurz. Steigerungen des Mitteleinsatzes müssen mit Strukturreformen verbunden werden, die auf die Qualitätssteigerung des Outputs zielen. Ziel ist ein leistungs- und ergebnisorientiertes Bildungssystem. Zudem sind die Effekte der demographischen Entwicklung auf die Bildungsfinanzierung so zu nutzen, dass mögliche Einsparungen aufgrund deutlich schwächer besetzter Jahrgänge im Bildungssystem verbleiben. Einem späten Lernbeginn, zu langen Lerndauern, hohen Abbrecher- und Wechslerraten sowie einem frühzeitigen Arbeitsmarktaustritt ist entgegenzutreten.
9. Für den Einsatz öffentlicher und privater Mittel ist deshalb eine Finanzierungsstruktur anzustreben, die sich an der gesamten Bildungsbiographie ausrichtet. Was dabei öffentlich und was privat zu finanzieren ist, bestimmt sich nach Auffassung der Heinrich-Böll-Stiftung nach Gesichtspunkten der Teilhabegerechtigkeit, nach Auffassung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln nach den Bildungsfunktionen auf den einzelnen Bildungsstufen. Eine angemessene Finanzierungsstruktur sollte für einen guten Start im Bildungssystem sorgen, das Abreißen der Bildungskette beim Übergang zu den weiterführenden Schulen verhindern, die Einfädelung in den Beruf unterstützen und durch berufsbegleitende Weiterbildung der Entstehung von Qualifizierungsdefiziten entgegenwirken. Eine Politik des „starting strong“ ist deshalb mit qualitativ hochwertiger vorschulischer Bildung, einer intensiven schulischen und weiterführenden Bildung und einem anschließenden lebenslangen beruflichen und allgemeinbildenden Lernen zu verbinden.