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„Wissen, was wirkt“ - unter diesem Titel sind die Heinrich-Böll-Stiftung und ihre Landesstiftungen in diesem Frühjahr durch die Hochschulen gezogen, um mit Diskussionen, Lesungen, Konzerten und Workshops daran zu erinnern, was Hochschulen auch sein sollten: zentrale Orte für gesellschaftspolitische Reflexion und Debatte.
In über 50 Veranstaltungen sind wir der Frage nachgegangen, was von den Hochschulen vor dem Hintergrund der aktuellen ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen erwartet werden kann – vom Klimawandel bis zur Reform des globalen Finanzsystems.
Es wäre doch etwas befremdlich, wenn mitten in der aktuellen Jahrhundertkrise an den Hochschulen alles seinen gewohnten Gang geht. Auch deshalb kam die Streikwoche der Studierenden gerade rechtzeitig, um die Öffentlichkeit aufzurütteln und neue Aushandlungsprozesse über die Gestaltung von Studium und Lehre anzustoßen. Denn dass es nicht bleiben kann, wie es jetzt ist, daran kann es keinen vernünftigen Zweifel geben. Die mit heißer Nadel gestrickten Bologna-Reformen haben den Leidensdruck an den Hochschulen nicht verringert – eher im Gegenteil.
Zu den Krisensymptomen der Hochschulen gehört, dass sie immer weniger als Impulsgeber für geistige Orientierung und gesellschaftliche Innovation fungieren. Wenn sie der Ort sein sollen, „an dem sich die Gesellschaft selbst denkt“ (der ehemalige Oldenburger Unipräsident Michael Daxner), dann ist dieser Ort zunehmend unkenntlich geworden.
Mit der Campus-Tour zielten wir vor allem darauf, die gesellschaftspolitische Debatte an den Hochschulen wieder zu beleben. Im Zentrum stand die Idee eines Green New Deal – also der Versuch, gemeinsame Antworten auf die Doppelkrise von und Umwelt zu finden. Im Kern geht es beim Green New Deal um einen großen Sprung in Richtung einer nachhaltigen Ökonomie durch massive Investitionen in umweltfreundliche Technologien, Bildung, Wissenschaft und Forschung.
Die Zeiten wundersamer Kapitalvermehrung durch immer neue Finanzprodukte sind (hoffentlich) vorüber. Die Wirtschaft muss sich wieder auf ihre eigentliche Funktion besinnen: sinnvolle Dinge herzustellen und Dienstleistungen anzubieten, die einen Mehrwert für den Kunden schaffen. Statt der Fixierung auf kurzfristige Profitmaximierung wird es um nachhaltigen Wertzuwachs gehen.
Angesichts des drohenden Kollapses der Biosphäre brauchen wir nichts weniger als eine grüne industrielle Revolution: eine sprunghafte Steigerung der Ressourcen¬effizienz, den Übergang zu erneuerbaren Energien im großen Stil, die Entwicklung einer neuen Generation umweltfreundlicher Produkte, Technologien und sozialer Praktiken, die Umstellung auf biologische Rohstoffe und Verfahren und der Bau von Häusern, die zu Netto-Energieerzeugern werden.
Dass ökologische Innovation die richtige Antwort auf die Krise des bisherigen Wachstumsmodells ist, diese Einsicht gewinnt immer mehr Anhänger. Sie wird vom Generalsekretär der Vereinten Nationen wie von der UN-Umweltorganisation UNEP unterstützt. Auch die SPD versucht auf den fahrenden Zug aufzuspringen und propagiert einen „sozialen und ökologischen New Deal“ – manchmal ist es halt schwierig, das Wort „grün“ zu umschiffen. Auch viele Unternehmen begreifen mittlerweile, dass sie sich auf eine „low carbon economy“ umstellen müssen. Gerade für eine technologie- und exportorientierte Wirtschaft liegen hier die Märkte der Zukunft.
Die Hochschulen und der „Green New Deal“
Mit einigen rühmlichen Ausnahmen gibt es bisher erstaunlich wenig Impulse aus den Hochschulen für diesen fundamentalen Umbau des Industriesystems. Das gilt nicht nur für die Wirtschafts¬wissenschaften, die sich bis heute kaum über die neoklassischen oder keynesianischen Traditionen hinausbewegen. Dabei stehen gerade sie angesichts des ökonomischen und finanziellen Desasters vor einem dringendem Erklärungs- und Innovationsbedarf: sie haben die Betriebswirte, Banker, Investmentfondsmanager und Finanzjongleure ausgebildet, die den großen Schlamassel angerührt haben. Und sie haben all die Berater, Gutachter und professoralen Autoritäten geliefert, die uns über Jahre erklärt haben, es gebe keine Alternative zum Mantra der Deregulierung und von Märkten, das den Weg in die spekulative Überhitzung gewiesen hat.
Die Wende zu einem nachhaltigen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist auf Impulse aus Wissenschaft und Forschung dringend angewiesen. Das gilt nicht nur für technologische Herausforderungen wie die Umstellung auf regenerative Energiequellen und Werkstoffe, die spätestens bis zur Mitte unseres Jahrhunderts gelingen muss, wenn wir den Klimakollaps verhindern wollen.
Es geht zugleich um politische und soziale Innovationen, beispielsweise um den Umbau des Steuersystems, die Entwicklung eines globalen Handelsregimes für CO-2-Emissionsrechte oder um eine neue Vision individueller e-Mobilität – ein Kürzel für den Verbund aus elektrisch betriebenen öffentlichen Verkehrsmitteln mit Elektroautos. Wie die erste industrielle Revolution im 19. Jahrhundert durch eine Welle wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Erfindungen vorangetrieben wurde, bedarf auch die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft einer umfassenden wissenschaftlichen Flankierung.
Dass die Hochschulen hier vergleichsweise wenig zu bieten haben, wirft fragen hinsichtlich der Auswahlkriterien für Forschungsschwerpunkte und Lehrinhalte auf. Ein explizites Ziel der Reformen, die nur unvollständig unter dem Titel „Bologna-Prozess“ firmieren, war ja gerade, die Flexibilität der Hochschulen in der Ausrichtung von Forschung und Lehre zu stärken und zugleich die Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Akteuren zu befördern. Dazu gehörte das Versprechen auf mehr Autonomie – die Frage ist, wie weit es eingelöst wurde und was die Hochschulen aus ihren neuen Freiheiten machen.
Ein weiteres Element der Ausdifferenzierung der Hochschullandschaft ist die „Exzellenzinitiative" der Bundesregierung, die ausdrücklich die individuelle Profilierung der einzelnen Universitäten ermutigen und mit der Vorstellung aufräumen wollte, dass alle gleich seien und das Gleiche tun müssten. So begrüßenswert es ist, dass sich die Hochschulen einem transparenten Vergleich stellen müssen, so fraglich sind indessen die Kriterien für ein bundesweites Ranking. Und in der Prämierung ganzer "Elite-Universitäten" (statt es bei der Förderung einzelner Kollegs und Studiengänge zu belassen) liegt die Gefahr, dass damit nicht der Wettbewerb, sondern die Hierarchiebildung zwischen den Hochschulen befördert wird. Es kann nicht Aufgabe staatlicher Hochschulpolitik sein, dem Matthäus-Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben zu huldigen.
Für eine Reform der Reform
Die Studienreformen der letzten Jahre erschöpfen sich weitgehend in der technokratischen Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen plus der partiellen Erzwingung von Studiengebühren ohne eine entsprechende Qualitätsverbesserung der Lehre. Wenn das Kriterium für eine gelungene Hochschulreform ist, dass sie das Studium interessanter, vielseitiger, aufbauender macht, zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit befähigt, zu Auslandssemestern ermutigt und die europäische Anschlussfähigkeit von Studieninhalten und -abschlüssen verbessert, dann war „Bologna“ bisher jedenfalls kein Erfolg, um es milde zu sagen.
Dass eine Reform der Reform ansteht, ist schon fast ein Gemeinplatz geworden. Strittig ist nur, in welcher Richtung: wie viel funktionale Differenzierung zwischen den Hochschulen ist notwendig und sinnvoll? Wie verträgt sich Eliteorientierung mit dem Grundrecht auf Bildung und der optimalen Förderung aller Begabungen? Wie kann eine Balance zwischen berechtigten Ansprüchen auf effizienten Umgang mit knappen Mitteln – und das heißt auch: eine effiziente Organisation des Studiums – und der nötigen Freiheit zum Experimentieren und zu zweckfreier Grundlagenbildung gefunden werden?
Bevor man sich jetzt in Detailreparaturen stürzt, steht eine grundlegende Debatte über die Ziele der Reform an. Die Hochschulen brauchen neue Leitbilder.
Das ist nicht nur eine Sache der „scientific community“ selbst. Die Gesellschaft muss sich darüber im Klaren werden, was sie heute und morgen von den Hochschulen erwartet: sollen sie Innovationsmotor sein und durch wissenschaftliche Ausbildung die Grundlage für ökonomische Dynamik legen, den Zugang zu wissensbasierten Arbeitsmärkten eröffnen, als Zentren regionaler Entwicklung dienen und als Forschungseinrichtungen Antworten auf die drängenden Zukunftsfragen finden?
Soll an der Einheit von Forschung und Lehre als Kern der klassischen Universität festgehalten oder eine Ausdifferenzierung zwischen forschungsorientierten und ausbildungsorientierten Hochschulen befördert werden? Soll die Spezialisierung schon im Studium vorangetrieben oder die Grundlagenbildung gestärkt werden?
Verstehen sich Universitäten immer stärker als Dienstleister und sehen die Studierenden als ihre Kunden – oder wollen sie das Leitbild einer wissenschaftlichen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden wiederbeleben, bei dem alle Beteiligten gefragt sind, ihren Beitrag zum Erfolg des Gesamtkunstwerks Universität zu leisten? In diesem Konzept wäre ein Studium eben kein bloß rezeptives Lernen, sondern ein interaktiver Lernprozess, in dem es entscheidend auf die Selbsttätigkeit der Studierenden ankommt. Wie ein solches lernorientiertes Konzept im Zeitalter der Massenuniversität zu verwirklichen ist, das ist eine der zentralen Herausforderungen an jede Hochschulreform. Es versteht sich, dass es dabei auch um Geld geht: ohne eine Verbesserung des Personalschlüssels keine durchgreifende Verbesserung der Lehre.
„Einmischung erwünscht!“ – dieser Satz Heinrich Bölls, den wir uns zum Leitmotiv gemacht haben, gilt erst recht für die Bildungspolitik. Sie ist eine Angelegenheit aller, und sie muss in aller Öffentlichkeit verhandelt werden. Die Studierenden haben mit ihrer Protestwoche dafür einen wichtigen Anstoß gegeben. Diesen Impuls wollen wir mit unserer Konferenz aufnehmen.