Von Prof. Dr. Uwe Schneidewind
Deutschland ist politischer Nachhaltigkeitsvorreiter, …
Deutschland ist in den letzten Jahren global zu einem nachhaltigkeits- und klimapolitischen Vorreiter geworden. Es wird als eines der wenigen westlichen Länder die Kyoto-Reduktionsziele einhalten, es hat engagierte Ziele für weitergehende CO2-Reduktionen bis zum Jahr 2020 und verfügt über eine ambitionierte Nachhaltigkeitsstrategie, über die die Regierung regelmäßig Rechenschaft ablegt.
Man könnte daher geneigt sein anzunehmen, dass klima- und umweltpolitisch alles im Lot sei in diesem Land. Doch der Eindruck täuscht, wenn man seinen Blick auf die globale Dimension der Probleme richtet. Auch mit seinen Zielerreichungen ist Deutschland noch weit weg von den Größenordnungen, die notwendig wären, um das Weltklima auf einem akzeptablen Niveau zu stabilisieren. Zehn Tonnen CO2 emittiert heute ein Deutscher pro Jahr im Durchschnitt. Zwei Tonnen dürften es sein. Die für die Erreichung dieser Ziele notwendigen Anpassungen und Innovationen sind enorm. Sie benötigen mehr als eine ökologische Industriepolitik und eine „Hightech-Strategie für den Klimaschutz“. Sie sind auf einen umfassenden „Zivilisationswandel“ angewiesen, wie es die Neuauflage der Studie Zukunftsfähiges Deutschland deutlich macht. An dieser Tatsache ändert auch die relative Spitzenstellung Deutschlands im globalen Umwelt- und Klimakonzert der großen Industriestaaten nichts.
Vielmehr erwächst Deutschland aus seiner Position eine große Chance. Unser Land ist geradezu prädestiniert, über die nächsten nötigen Schritte dieses notwendigen Industrie- und Zivilisationsprojektes nachzudenken. Wir haben den ersten kleinen Teil der Hausaufgaben gemacht, umso wichtiger wäre es, dass wir uns um Konzepte für die nächsten Stufen bemühen. Wissenschaft und Forschung müssten in einer solchen Situation eine zentrale Motorfunktion haben. Aber genau dies haben sie in Deutschland nicht.
…, was sich aber kaum im Wissenschaftssystem spiegelt
Der Blick auf das deutsche Wissenschaftssystem zeigt vielmehr, dass seine führenden Köpfe und Institutionen viele andere Fragen untersuchen, die gesellschaftliche Herausforderung einer Nachhaltigen Entwicklung aber nur weit abgeschlagen rangiert. Die Anreize für eine Umorientierung sind kaum vorhanden. Für die Hochschul- und Wissenschaftspolitik ist dies eine Gefahr, weil sie sich damit in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu katapultieren droht.
In der Forschung sind dabei zwei Engführungen besonders belastend: die Konzentration auf eine im Wesentlichen disziplinäre Forschungsexzellenz sowie die Dominanz einer unmittelbaren wirtschaftlich-technologischen Verwertungsorientierung. Beide Stoßrichtungen erschweren Orientierungen im Wissenschaftssystem, die an gesellschaftlichen Schlüsselfragen wie die einer nachhaltigen Entwicklung ausgerichtet sind. Dabei ist dies eine Tendenz, die sich von der europäischen Förderpolitik bis zu den Landeshochschulpolitiken der einzelnen Bundesländer zieht.
Besonders deutlich hat sich das in den Ergebnissen der Exzellenziniative in den Jahren 2006/2007 gezeigt: Dort haben sich nur Verbünde (Exzellenzcluster, Graduiertenschulen) mit über Jahre nachgewiesener disziplinärer Forschungsexzellenz durchsetzen können, über die eine transdisziplinäre Nachhaltigkeits-Forschung (noch) nicht verfügt. Darunter waren durchaus einige relevante sozial- und geisteswissenschaftliche Verbünde sowie integrierte Umweltthemen aus der Meeres- und Klimaforschung. Integrierte naturwissenschaftlich-sozialwissenschaftliche Brückenschläge im Sinne einer transdisziplinären Forschung finden sich in diesen Clustern aber nur in Ansätzen.
Günstige, effektive soziale Innovationen werden dagegen kaum in angemessenen Umfang in Deutschland erforscht. „Car Sharing“ ist dafür ein interessantes Beispiel. Wir wissen bisher wenig über die unterschiedlichen Formen einer erfolgreichen gemeinsamen Nutzung von Gütern. Wir stellen nur fest, dass in der Praxis bei dieser Nutzung erhebliche Barrieren existieren, die sich aber bei guter Organisation und neuen Formen der Anreize überwinden lassen. Über geeignete Wege, solche neuen Anreize und Organisationsmuster für die Nutzung von Gemeinschaftsgütern zu schaffen, wird kaum geforscht. Es fehlen hier Wissenschaftler und Förderprogramme, die sich diesen Themen widmen. Wir investieren gewaltige Forschungsbeiträge in die Effizienzverbesserung von Automobilmotoren, aber nur wenige Hunderttausend Euro in Lösungen, die ein Vielfaches des Einsparpotenzials versprechen. In anderen Bereichen ist die Situation ähnlich: Die Nutzung der erheblichen Energieeinsparpotenziale im Gebäudebereich ist keine technologische Herausforderung. Sie ist vielmehr eine kommunikative und kulturelle Herausforderung. Die zentrale Frage lautet: Wie müssen geeignete Anreiz- und insbesondere auch Kommunikationsstrategien aussehen, um die Nutzer und die Eigentümer von (nicht sanierten) Gebäuden zu Energieeinsparmaßnahmen zu bewegen?
Wie kommen wir zu einer solchen Umorientierung?
Lösung durch neue Leitbilder?
Eine wichtige Botschaft der Exzellenzinitiative war: „Das deutsche Hochschulsystem muss sich ausdifferenzieren“: Die deutschen Hochschulen müssen neue Orientierungen jenseits disziplinärer Rankings entwickeln. Die Realität in den Hochschulen ist ernüchternd: Die Einheit sowie Freiheit von Forschung und Lehre wird beschworen, eine Differenzierung von Hochschulausrichtungen und -missionen ist nur in Ansätzen zu erkennen.
Ein wichtiger Grund für die Phantasielosigkeit: Es gibt einen eklatanten Leitbildmangel im Hochschul- und Wissenschaftssystem. Neben dem Ideal „Humboldt“ gibt es nur von Seiten der Wirtschaft in sich geschlossene Vorstellungen über die Zukunft der Hochschulen. Das Leitbild der Wirtschaft fokussiert auf die ökonomische Bedeutung von Hochschulen in ausdifferenzierten Wissensgesellschaften: Hochschulen leisten zentrale Beiträge zur Nachwuchsqualifizierung, zur technologischen Entwicklung in wissensbasierten Branchen und darüber insbesondere auch zur wirtschaftlichen Entwicklung in den Regionen, in denen sie angesiedelt sind. Das wirtschaftliche Leitbild für Hochschulen zielt auf genau diese Funktionen von Hochschulen sowie deren bewusste Stärkung und Ausbau.
Aus anderen gesellschaftlichen Gruppen gibt es kaum überzeugende Leitbildvorstellungen.
Doch genau ein solcher Pluralismus der Leitbilder und Visionen wäre notwendig. Denn nur damit lassen sich Hochschulen in unterschiedliche Richtungen führen. Aber an der Vielfalt möglicher Leitbilder mangelt es. Deswegen laufen die Hochschulen alle den gleichen vertikal ausgerichteten Orientierungsmustern nach. Den Hochschulen wird heute mehr Autonomie zugestanden. Aber „Autonomie“ hat die Tücke, dass sie im Kern inhaltsfrei ist (Autonomie wofür?). Autonomie schafft nur die Voraussetzungen für die effektive Umsetzung inhaltlicher Leitbilder. Erst durch eine Vielfalt inhaltlicher Leitbilder entsteht der notwendige Pluralismus, der es dem Hochschulsystem als ganzem ermöglicht, den gewachsenen Herausforderungen gerecht zu werden.
All dies wirft spannende Fragen auf:
- Sind „Nachhaltige Wissenschaft“ bzw. „Nachhaltige Hochschule“ reizvolle Leitbilder für Hochschulen in Deutschland? Wie gilt es diese Leitbilder zu füllen?
- Welche anderen inhaltlichen Leitbilder bieten sich an? Oder ist vielmehr das Setzen auf neue methodische Zugänge (wie die „transdisziplinäre Hochschule“) ein vielversprechender Weg?
- Wie sieht es heute national und international im Wissenschaftssytem aus? Gibt es schon Hochschulen, die erfolgreich den Weg thematischer Ausdifferenzierung gehen? Wo sind die Chancen und Grenzen?
- Was bedeutet die thematische Ausdifferenzierung für die Führung einer Hochschule oder Wissenschaftseinrichtung? Mit welchen Konflikten hat man zu rechnen?
- Wie lässt sich die Ausdifferenzierung der Leitbilder politisch flankieren? Welches Umdenken in der aktuellen Wissenschaftspolitik brauchen wir?
Um diese Fragen geht es am 27.10.09 um 19 Uhr im Rahmen der Berliner Hochschuldebatte 22 „Neue Leitbilder für die Hochschule“ in Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.