Die Chefs setzen auf Unauffälligkeit

Kriminaloberkommissar Böhl: "Es wäre schön, wenn Verdächtige so leicht zu identifizieren wären" Foto: poncнo☭penguιn Lizenz: CC-BY-NC-SA Quelle: Flickr

29. April 2011
Dorit Kowitz
Herr Böhl, was ist dran an den Bildern, die wir aus Film und Fernsehen kennen: Der Boss einer Vereinigung, die in Berlin organisiert Verbrechen begeht, fährt protzige Autos, trägt sündhaft teure Kleidung und Goldschmuck. Er ist umringt von schlagfertigen Bodyguards und Gogo-Girls, spricht entweder mit türkischem, arabischen oder osteuropäischen Akzent?

Michael Böhl: Es wäre schön, wenn Verdächtige so leicht zu identifizieren wären. Aber Verhalten und Auftreten der Akteure unterscheiden sich sehr. Sie hängen von der Art des Delikts ab, davon, zu welcher ethnischen Gruppe sie gehören und von der Scheinidentität, unter der die Beteiligten agieren. Auch ein seriös wirkender deutscher Immobilienkaufmann in Schlips und Kragen mit guten Kontakten in die Politik kann Teil einer gewerblichen Struktur sein, unter deren Deckmantel Kriminalität organisiert wird.


Das heißt, in der organisierten Kriminalität (OK) existieren Ebenen: oben die Chefs und Profiteure, in der Mitte die Organisatoren und unten die Handlanger fürs Grobe?


 Ja, es gibt Hierarchien und Arbeitsteilung. Die Chefs setzen eher auf Unauffälligkeit.


Die meisten Tatverdächtigen in der Hauptstadt sind Deutsche, die meisten der 76 OK-Verfahren aus dem Jahr 2009 aber wurden Ausländern zugeordnet. Wer stiehlt denn nun die Edelkarossen, verschleppt Frauen, die zur Zwangsprostitution getrieben werden, wer bedroht Opfer oder schleust Drogendealer ins Land?


Das hängt von den Verbrechen ab.  Es gibt rein türkische oder polnische Gruppen. Aber auch deutsche Täter bedienen sich nichtdeutscher Helfer. Die Vietnamesen dagegen rekrutieren nur Landsleute für die Herstellung und den Handel mit Betäubungsmitteln oder den Zigarettenschmuggel. Sie schleppen ihre Handlanger erst ein, machen sie damit wirtschaftlich von sich abhängig und missbrauchen sie für ihre Zwecke. Man lässt die Geschleusten wochenlang in illegalen Indoor-Plantagen des Drogenanbaus ihre „Schulden“ abarbeiten. Ähnlich geschieht es mit den Osteuropäerinnen in der Zwangsprostitution. Denen werden als erstes die Pässe abgenommen.


Dahinter steckt dann die sogenannte Russenmafia?


Ja, wobei wir nicht Mafia sagen. Osteuropäische Banden sind nicht familiär strukturiert und lokal verwurzelt wie die italienischen. Sondern sie operieren international in Zweckbündnissen, die sich schnell wieder lösen können. Einige haben zeitweise über 1000 Mitglieder in mehreren Ländern.


Die häufigsten Taten der OK in Berlin sind Eigentumsdelikte, Drogenhandel und Delikte der Wirtschaftskriminalität. Fast 80 Prozent werden grenzüberschreitend begangen. Sind bestimmten Ländern bestimmte Delikte zuzuordnen?


Mit Westafrikanern und ihren deutschen Mittätern verbinden wir die sogenannte Nigeria-Connection. Da werden in Briefen und Anrufen Erbschaften angekündigt, und um sie abwickeln zu können, sollen die Opfer ein paar tausend Euro vorschießen. Oder das Wash-Wash-Verfahren: Da muss verschmutztes Bargeld angeblich in großer Eile gesäubert werden. Den Trick probieren sie gern in Hotels. Die Täter geben vor, dafür intakte Banknoten und eine Chemikalie zu benötigen und versprechen Provisionen, hinterher ist das „geliehene“ Geld weg, und das verdreckte war nie echt. Im Drogenhandel finden wir dagegen viele Türkischstämmige, wie auch in der Wirtschaftskriminalität. Da werden etwa Waren aus dem Ausland falsch deklariert, um in den Genuss von Subventionen oder Steuervergünstigungen zu kommen.


Und die Deutschen? Mit 440 von 1255 Verdächtigen im Jahr 2009 stellen sie die größte Tätergruppe in Berlin.


Deutsche Täter liegen in der Wirtschaft vorn, etwa beim Insiderhandel. Gerade endete ein großes Verfahren vor Gericht, in dem wertlose Aktien aus Amerika in großem Stil an deutschen Börsen platziert worden waren.


Was macht Berlin für OK-Täter interessant?


Es ist das Tor zum Osten. Die Wege zur EU-Außengrenze sind kurz, das ermöglicht einen schnellen Transport gestohlener Ware. Man kann sich zügig der Überprüfung entziehen. Sowieso bietet Deutschland eine hervorragende Infrastruktur. Ob sie sich mit Auto, Bus, Bahn oder Flugzeug fortbewegen wollen – auch Straftäter profitieren von der guten Logistik.


Was bedeutet das für die Polizeiarbeit?


Wir müssen damit umgehen, dass die Leitungsebene der organisierten Kriminalität nicht unbedingt da sitzt, wo die Funktionsebene arbeitet. Gruppierungen der Roma und Sinti wenden zum Beispiel derzeit den Enkel-Trick an. Dabei werden alleinstehende alte Leute ausgespäht, die möglichst schon leicht dement sind. Das passiert über eigene Callcenter. Dann gibt ein junger Mensch vor, ein Enkel des Opfers zu sein, der dringend Geld braucht. Er holt das Geld, liefert es bei seiner Organisation ab, die es sofort ins Ausland transferiert. Kriegen wir einen solchen „Enkel“ zu fassen, kann es sein, dass sechs Stunden später ein Anruf aus New York oder aus Belgien kommt: Man habe von der Verhaftung gehört und wolle einen Anwalt stellen. Wir ahnen dann: Da sitzen die Hintermänner.


Wie macht man die dingfest?


Wir sind auf Anzeigen angewiesen. Da wir immer weniger Mitarbeiter haben, können wir kein Frühwarnsystem aufbauen, um Entwicklungen in der organisierten Kriminalität frühzeitig genug zu erkennen. Sorgen bereitet uns dabei der politische Umgang mit der Datenspeicherung. Wenn uns ein Zeuge sagt, er habe vor drei Monaten dabei zugehört, wie ein Tatverdächtiger mit einem Strohmann telefoniert habe, können wir das nicht mehr nachvollziehen. Denn die Verbindungsdaten sind längst gelöscht, genau wie die E-Mails.


Wie funktioniert die Zusammenarbeit international?


Wir haben Interpol, wir haben Europol. Aber Meldungen und Rückläufe brauchen oft sehr lang. Hat man etwa eine Gruppe im Verdacht und weiß, deren Kommunikation lief über einen Server in Weißrussland, kann zu viel Zeit vergehen, bis man Zugriff auf diesen Server hat – wenn man ihn überhaupt bekommt. Aber man muss nicht ins Ausland schauen. Auch in Deutschland arbeitet nahezu jedes Bundesland mit einem anderen Informationsverarbeitungssystem.


Das heißt, Sie können Daten, etwa aus Hessen, nicht mal schnell mit Ihren Erkenntnissen online abgleichen?


Nein, wir müssen immer einen Kollegen der Dienststelle dort in Gang setzen, damit er in seinem System nachforscht. Und das tun wir dann mit jedem einzelnen Bundesland. Wenn Sie das Problem auf Europa übertragen und dann auf die ganze Welt, wissen Sie, warum uns die Täter oft um Längen voraus sind.


Nehmen die Paten und Banden auch Einfluss auf Politik und Wirtschaft?


Es passiert, dass osteuropäische Oligarchen über Strohmänner als Investoren in deutschen Kommunen auftreten und sich, quasi mit Koffern voller Geld, als Retter maroder Firmen oder städtischer Betriebe geben. Werden dabei noch Arbeitsplätze erhalten, hat die OK ein Druckmittel auf die Politik. In Berlin sind einige Kieze in den Händen von Banden, da wird alles untereinander geregelt. Sogar für die Polizei ist es schwer, Zugang zu bekommen.


Wie kann man dem entgegenwirken?


Wir müssen den Jugendlichen eine Perspektive geben, damit die OK in diesen Vierteln nicht mehr ihren Nachwuchs rekrutieren kann. Die Macho-Kultur der Schwerkriminellen mit ihren dicken Autos, Goldketten und den Frauen als reines Accessoire darf nicht mehr das Idol sein. Das geht nur, wenn schon im Kindergarten begonnen wird, dem Nachwuchs eine echte Zukunft zu bieten. Das ist eine Aufgabe für die ganze Stadt.

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Das Interview mit Michael Böhl, Kriminaloberkommissar beim Landeskriminalamt Berlin führte Dorit Kowitz.

Böll.Thema 3/2011

Grenzenlos Illegal – Transnationale organisierte Kriminalität

Organisierte Kriminalität kennt keine Grenzen. Sie hat in vielen Ländern der Welt die Politik und den Alltag infiltriert. Auch in Deutschland. Sie gehört deshalb in den öffentlichen Diskurs und auf die politische Agenda. Mit Beiträgen von: Florian Kühn, Arun Kumar, Carolyn Norstrom, Annette von Schönefeld, Regine Schönenberg u.a.

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