Auszug aus der Festrede anlässlich der Hannah-Arendt-Preisverleihung 2008
Von Victor ZaslavskyEinen so angesehenen Preis wie den „Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken“ zu erhalten, gehört zu den überraschendsten und glücklichsten Ereignissen meines Lebens als Wissenschaftler. Angesichts der Reihe herausragender Namen früherer Preisträger muss ich erst noch davon überzeugt werden, dass meine Klassensäuberung diese Auszeichnung verdient. Ich bin indes sehr erfreut, dass die Bundeszentrale für politische Bildung eine Sonderausgabe meines Buchs beim Wagenbach-Verlag in Auftrag gegeben hat, die an Schulbibliotheken, Lehrer und junge Menschen verteilt werden soll.
Als historisch ausgerichteter Soziologe habe ich mir drei wesentliche Ziele gesetzt: erstens, die historischen Einzelheiten und einige eindeutige und maßgebliche Dokumente vorzustellen, die die historischen Fakten belegen und die Täter des Massakers von Katyn unzweifelhaft identifizieren; zweitens, das schwierigste und wichtigste Problem der Interpretation dieses Ereignisses in einen weitaus größeren Zusammenhang totalitärer Strategien und Methoden dessen zu stellen, was ich als „Klassensäuberung“ bezeichne; und schließlich, zu erklären, wie eine derart massive Verfälschung über ein halbes Jahrhundert als „offizielle Version“ der Geschichte Bestand haben konnte, verbreitet durch Wissenschaftler, Politiker und Lehrbücher, nicht nur im Ostblock, sondern auch im Westen.
Zu Beginn möchte ich erklären, was mich dazu veranlasste, mich mit dem Massaker von Katyn zu beschäftigen, und wie es in der Sowjetunion, vor deren Untergang, wahrgenommen wurde. Der Fall Katyn war in der Sowjetunion sowohl als eines der entsetzlichsten Verbrechen der Nazis bekannt als auch als Versuch von Goebbels“ Propagandaapparat, zwischen Russland und Polen Zwietracht zu säen. Unmittelbar nach der Befreiung der Gegend um Katyn, errichtete die sowjetische Regierung ihre eigene Untersuchungskommission, gänzlich bestehend aus Sowjetbürgern und angeführt vom Chefchirurgen der sowjetischen Armee, Nikolai Burdenko. Der Name der Kommission war gleichzeitig ihr Zweck: „Spezialkommission zur Feststellung und Untersuchung der Umstände, die zur Erschießung der Kriegsgefangenen polnischen Offiziere durch die faschistischen deutschen Eindringlinge im Wald von Katyn geführt haben“. Die vorhersehbaren Ergebnisse der Burdenko-Kommission wurden weithin bekannt gemacht, und jedweden Zweifeln an ihrer Wahrhaftigkeit wurde mit Entrüstung begegnet. Die schlichte Tatsache, dass die Polen durch deutsche Kugeln getötet wurden, schien unwiderlegbarer Beweis zu sein.
Während der größte Teil der sowjetischen Bevölkerung die offizielle Propaganda hinnahm, gab es zwei Gruppen, die die offizielle Erklärung anzweifelten. Viele russische Intellektuelle stellten diese Darstellung infrage, da sie sich völlig darüber im Klaren waren, dass nicht nur das Nazi-Regime, sondern auch das stalinistische Regime zu einem Verbrechen dieses Ausmaßes fähig war. Die Tatsache, dass die sowjetische Regierung die Gegend um Katyn nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer „verbotenen Zone“ erklärte und internationale Untersuchungen verweigerte, nährte ihren Verdacht. Dies wurde weithin als Indiz für die sowjetische Verstrickung in den Fall betrachtet.
Studierende an den großen sowjetischen Universitäten bildeten einen weiteren Teil der sowjetischen Bevölkerung, der bereit war, die offizielle Propaganda infrage zu stellen. Vielleicht kann meine persönliche Erfahrung hier dienlich sein. Ich gehöre einer Generation an, die als „Generation 1956“ bekannt ist und diejenigen jungen Menschen umfasst, die 1956 zwischen 15 und 24 Jahren alt waren und deren politisches Erwachen während der Phase der Entstalinisierung begann. In jenen euphorischen Jahren begannen unsere Kommilitonen aus Polen, über das Massaker von Katyn zu sprechen. Sie hatten, wie die überwältigende Mehrheit der polnischen Bevölkerung, nie daran gezweifelt, dass die polnischen Offiziere von den Sowjets erschossen worden waren.
Im Frühjahr 1956, kurze Zeit nach Chruschtschows so genannter „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag der KPdSU, bestätigte er all die Gerüchte um den Großen Terror und versprach weitere Enthüllungen. Eines Tages traf ich zusammen mit einigen Kommilitonen einen Militärverteidiger, der an der Arbeit der Burdenko-Kommission beteiligt gewesen war. Er erzählte uns, dass Spezialkommandos des sowjetischen Geheimdienstes die Polen ermordet hatten. Ich erinnere mich noch immer genau an seine Worte: „Das haben unsere getan.“ Er erklärte uns auch, woher er das wusste: Die Leichen hatten noch immer Eheringe an den Fingern und Goldzähne. Während die SS den Befehl erhalten hatte, alles Gold von den Opfern zu entfernen, hatten die Spezialkommandos des NKWD keine solchen Anweisungen. Später diskutierten wir, warum dieser Anwalt, der ein Jahrzehnt lang geschwiegen hatte, plötzlich über die Arbeit der Kommission sprach und uns diese grauenvollen Details anvertraute. In diesem Klima, das neuerdings herrschte, in dem die Verbrechen des stalinistischen Regimes angeprangert wurden, sprachen die Menschen mit einer bislang unbekannten Offenheit über die Vergangenheit, und beinahe tagtäglich gab es neue Enthüllungen. Höchstwahrscheinlich war der Anwalt überzeugt, dass die Wahrheit über Katyn ohnehin bald auf die eine oder andere Art ans Licht kommen würde. Es schien der richtige Moment zu sein, um den Fall abzuschließen und ein neues Kapitel zu eröffnen. Die Massengräber von Katyn hätten dann der langen Liste von Verbrechen und Gräueltaten von Beria, seinen Komplizen und Stalin selbst hinzugefügt werden können.
Dann marschierten die sowjetischen Truppen in Ungarn ein, und der Kurs der Entstalinisierung wurde gestoppt. Monate und Jahre vergingen, und das Thema Katyn kam nie mehr zur Sprache. Erst in den letzten Jahren der Sowjetunion – während Gorbatschows Perestroika – wurde ein Teil des Archivmaterials über den Fall Katyn russischen und polnischen Historikern zugänglich gemacht. Die entscheidenden Dokumente kamen jedoch erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum Vorschein.
Übersetzung ins Deutsche: Ute Szczepanski
Es gilt das gesprochene Wort.
Die vollständige Festrede steht als Download (PDF, 119 KB, 10 Seiten) bereit.