Gemeinsame Geschichte – gespaltene Erinnerung

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Foto: © Ludwig Rauch

Zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises 2008 an den Soziologen Viktor Zaslavsky

5. Dezember 2008
Von Ralf Fücks

Bremen, den 5. November 2008

Die Geschichte des letzten Jahrhunderts – die beiden großen Kriege und eine Vielzahl regionaler und nationaler Konflikte, die Barbarei des Nationalsozialismus und die Menschenfresserei des Stalinismus, die Vertreibung von Abermillionen Menschen und die gewaltsame Verschiebung von Grenzen - hat tiefe Wunden bei den europäischen Völkern geschlagen.

Im Westen hat die EU viel dazu beigetragen, dass die historischen Gräben weitgehend überbrückt werden konnten. In Mittel-Osteuropa sind die alten Wunden noch kaum vernarbt und können jederzeit wieder aufbrechen. Es gibt kein gesamteuropäisches Narrativ für die traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, sondern eine Vielzahl nationaler Geschichten, die politisch hoch aufgeladen sind.

Als im Jahr 2005 überall in Europa des Endes des 2. Weltkriegs gedacht wurde, war diese gespaltene Erinnerung bereits überdeutlich. Die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“, ein langjähriger Partner der Heinrich Böll Stiftung, spricht gar von einem „Krieg der Erinnerungen“, in dem es um nationale Identität und politische Legitimation geht.

In einem Aufruf vom März dieses Jahres schlägt Memorial die Einrichtung eines europäischen Geschichtsforums vor, um die nationalen Erinnerungen in ihren wechselseitigen, europäischen Kontext zu stellen, damit sie zu einem Medium der Verständigung statt der Spaltung werden können.

Wie brisant dieses geschichtspolitische Terrain immer noch ist, wurde nicht zuletzt durch die politischen Turbulenzen um die Umsetzung des sowjetischen Kriegerdenkmals aus dem Stadtzentrum der estnischen Hauptstadt Tallin in einen Friedhof deutlich.

Die Rote Armee hatte Estland 1944 von den Deutschen zurückerobert – nachdem sie die baltischen Staaten 1940 im Windschatten des Hitler-Stalin-Pakts besetzt hatte, bevor sie ein knappes Jahr später mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion vorübergehend von dort vertrieben wurde.

In diesem Konflikt wurde wie in einem Brennglas die politische Brisanz sichtbar, die im Kampf um historische Deutungen liegt. Für die eine Partei verkörperte der Rotarmist auf seinem Podest in Tallin den „Sieg über den Faschismus“. Für die Gegenpartei war er das Symbol einer jahrzehntelangen Fremdherrschaft, die mit dem Tod von Hunderttausenden Balten in den Gefängnissen und Straflagern der Sowjetunion verbunden war.

Ähnlich wie in Katyn ging es auch hier um die Dezimierung der alten sozialen und politischen Eliten, die als potentielle Träger eines nationalen Widerstands betrachtet wurden und der „Sowjetisierung“ der besetzten Länder im Wege standen. Allein im ersten Jahr des Roten Terrors vom August 1940 bis zum Juli 1941 verlor Estland etwa 6% seiner Bevölkerung infolge sowjetischer Repressionen. 

Der Geschichtsstreit um die Rolle der Roten Armee und die Expansion der politisch-militärischen Macht der Sowjetunion ist auch deshalb so schwer aufzulösen, weil beide Lesarten ihre Berechtigung haben – die heroische Geschichte des Sieges über den Nationalsozialismus  ist zugleich die Geschichte der Besetzung, Fremdbestimmung und Unterdrückung durch die Sowjetunion. Erst beide Narrative gemeinsam kommen der ganzen historischen Wahrheit näher – auch wenn es natürlich keine Instanz gibt, die über die „objektive geschichtliche Wahrheit“ entscheiden könnte.

Wie virulent der Krieg der Erinnerungen noch immer ist, zeigten auch die russischen Reaktionen auf die Verlegung des Denkmals in Tallin: das Oberhaus der Duma verlangte den Abbruch der diplomatischen Beziehungen, in Tallin kam es zu Straßenschlachten mit radikalisierten Teilen der russischen Minderheit, und der Sprecher des russischen Föderationsrats bezeichnete die estnische Regierung als „provinzielle Neonazis“. Der Ton ist auch deshalb so schrill, weil der Zerfall des Imperiums und der Verlust des Baltikums in Russland noch immer nicht verwunden ist.

In Deutschland sprang Ex-Kanzler Schröder der russischen Empörung zur Seite. Er warf der estnischen Regierung vor, ihr „pietätloser Umgang“ mit dem Denkmal widerspreche „jedem zivilisierten Verhalten.“  - Ich zitiere ihn, weil sein Verdikt typisch ist für eine weit verbreitete Haltung, die vor lauter Sorge, ein revanchistisches Geschichtsbild zu bedienen, blind wird gegenüber der Dunkelseite des „Großen Vaterländischen Krieges“ und der sowjetischen Herrschaft über Mitteleuropa.

Das galt auch lange für die Zurückhaltung des Westens gegenüber dem Massaker von Katyn. Es ist bis heute unlösbar mit dem Hitler-Stalin-Pakt verbunden, der die neuerliche Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland vorwegnahm. Diese Aufteilung der Beute wurde dann durch den deutschen Überfall am 1. September 1939 und den russischen Einmarsch vom 17. September vollzogen – zu einem Zeitpunkt also, als sich Polen mit letzter Kraft dem deutschen Angriff entgegenstemmte.

Was in Katyn geschah, war Teil eines heimlichen Einverständnisses der beiden totalitären Großmächte Europas, Polen als eigenständigen Staat von der Landkarte zu tilgen und die polnische Elite auszuschalten. Angesichts der deutschen Verbrechen in Polen und in ganz Mittel-Osteuropa gibt es keinerlei Anlass für moralische Überheblichkeit gegenüber den Untaten des sowjetischen Machtapparats. Aber es gibt auch keinen Grund, diese zu verschweigen oder zu rechtfertigen.

Russland kann das Vertrauen seiner Nachbarn vom Baltikum bis zum Kaukasus nur zurückgewinnen, wenn es sich seiner historischen Verantwortung stellt. Memorial schreibt in dem schon zitierten Aufruf, dass wir gegenwärtig in Russland statt einer „ernsthaften Diskussion der sowjetischen Vergangenheit (..) die Wiederauferstehung eines nur leicht veränderten patriotischen Großmachtmythos“ erleben. Die menschlichen und kulturellen Verwüstungen, die der Stalinismus in Europa wie im eigenen Land angerichtet hat, zu verdrängen, „stellt für Russland eine ebenso große gesellschaftliche Gefahr dar, wie die Kultivierung eigener nationaler Verletzungen für seine Nachbarn Gefahren in sich birgt.“

Es ist deshalb von kaum zu überschätzender Bedeutung, dass ein europäischer Gelehrter russischer Herkunft die Geschichte von Katyn aufarbeitet und den Mantel von allen Beschönigungen reißt.

Wenn man auf die Überwindung nationaler Ressentiments und auf Aussöhnung der europäischen Völker setzt, führt kein Weg daran vorbei, die Katastrophen, Verbrechen und Tragödien des 20. Jahrhunderts immer wieder zu erzählen. Das sind wir zuallererst den Opfern schuldig. Über das Gedenken an sie hinaus sind diese Erzählungen aber auch wichtig, um nach und nach ein gemeinsames Verständnis der europäischen Geschichte zu entwickeln.

Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen oder die Begründung nationaler Ansprüche. Es geht vielmehr darum, das 20. Jahrhundert in all seinen Schrecken und seiner Tragik aufzuarbeiten, um den Weg frei zu räumen für das „Gemeinsame europäische Haus“, von dem Michail Gorbatschow vor 20 Jahren geträumt hat.

Victor Zaslavsky hat dafür einen wichtigen Beitrag geleistet.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.