Wie israelische und palästinensische Journalisten gemeinsam Radio machen
Ein Beitrag von Karoline Hutter, Heinrich-Böll-Stiftung, nach einem Interview mit Mossi Raz, Geschäftsführer "All for Peace"
Im Süden Israels sind am Vortag wieder Qassam-Raketen in der kleinen Wüstenstadt Sderot eingeschlagen. Im Gaza-Streifen haben israelische Soldaten einen Palästinenser erschossen. Es ist 8.30 Uhr am nächsten Morgen. Der palästinensische Journalist Firas Lutfy, Moderator der Sendung "Sabach Al Khair" ("Good Morning") des Radiosenders "All for Peace" (Alle für den Frieden), nimmt drei israelische Tageszeitungen vom Tisch und beginnt, die hebräischen Schlagzeilen auf Arabisch vorzulesen. Ein Kollege hat ihm die Übersetzung auf einem Zettel gekritzelt. „Das Sapir College in Sderot musste evakuiert werden“, liest Lutfy vor. „Es ist der dritte Angriff in dieser Woche.“
100 Minuten und einige Musikschleifen später: Der israelische Geschäftsmann und Moderator Yitzhak Frankenthal zitiert „Al-Quds“, die auflagenstärkste arabischsprachige Tageszeitung im Gaza-Streifen. „Ein israelischer Soldat hat einen Palästinenser erschossen“, übersetzt Frankenthal ins Hebräische. „Der Soldat hat den Familienvater für einen Attentäter gehalten.“
Firas Lutfy und Yitzhak Frankenthal sind zwei bekannte Radiomoderatoren: In ihrer Freizeit arbeiten sie für "All for Peace“, einen israelisch-palästinensischen Radiosender mit Sitz in Ost-Jerusalem. "Je mehr wir voneinander wissen, desto weniger werden wir einander hassen oder fürchten", heißt es im Internet-Selbstporträt des Radios. Träger des Senders sind das palästinensische Verlagshaus Biladi, Herausgeber der Wochenzeitung „Jerusalem Times“, und das Friedensinstitut Givat Haviva, dessen Friedensschule tausende Israelis und Palästinenser jedes Jahr besuchen.
Die Show des israelischen Geschäftsmanns Frankenthal ist eine der erfolgreichsten Formate. "Ask for Peace" heißt die Sendung, bei der Frankenthal nicht nur über die besetzten Gebiete informiert, sondern sich auch mit Menschen unterhält, die ihre Angehörigen durch politisch motivierte Gewalt verloren haben. Er diskutiert mit ihnen über ihre Wut, Trauer, auch Hass. Frankenthal ist orthodoxer Jude, seine Sendung richtet sich vor allem an die jüdisch-orthodoxe Gemeinde in Israel. Der ältere Herr mit dem freundlichen Gesicht und dem graumelierten Haar hat eine beruhigende, tiefe Radiostimme. Seit sein 19jähriger Sohn 1994 als junger Soldat von der Hamas entführt und getötet wurde, spricht er für den Frieden. "Menschen, die dem Friedensprozess ablehnend gegenüberstehen, hören ihm zu", sagt Mossi Raz, Geschäftsführer von "All for Peace". "Frankenthal ist glaubwürdig, weil er selbst gelitten hat."
Aufklärung hat oberste Priorität
Radio „All for Peace“ wurde 2004 gegründet mit dem Ziel, „ein Stück zivilgesellschaftliche Gegenöffentlichkeit“ zu ermöglichen, wie es in der Selbstbeschreibung des Senders heißt: „Täglich werden über Fernsehen, Zeitungen und Radio Neuigkeiten über Gewalt und Gegengewalt transportiert und damit Resignation und stereotype Weltbilder verfestigt“, schreiben die Radiomacher. Aufklärung habe oberste Priorität. "Wir bringen israelische Nachrichten zu palästinensischen Hörern und umgekehrt", sagt Mossi Raz. "Es reicht nicht aus, etwa den Israelis nur zu erzählen, dass wir wunderbare Friedensinitiativen haben. Wir müssen ihnen auch sagen, was die Palästinenser jeden Tag durchmachen, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit an den Checkpoints aufgehalten werden."
Auch wenn die Journalisten den trennenden Konflikt nicht ausblenden – in ihren Programmen betonen sie Gemeinsames, Verbindendes. "New Direction" heißt etwa die Sendung des Palästinensers Aziz Abu und der Israelin Sarah Sharon. Beide leben in der geteilten Hauptstadt Jerusalem, beide haben einen Bruder im Nahostkonflikt verloren. "Wenn Aziz über seinen Bruder spricht, erkennt sich Sarah wieder, und umgekehrt. Der Schmerz ist ähnlich - und der Verlust“, schreiben sie auf ihrer Website. In „New Direction“ diskutieren sie mit jungen Anrufern, die Ähnliches erlebt haben. „Wir versprechen Dir: Du wirst Dich an den Schmerz gewöhnen. Es wird Dir leichter fallen, darüber zu sprechen“, sagen sie. Die Sendung, die auch internationales Medienecho ausgelöst hat, läuft abends zwischen 18.00 und 19.00 Uhr, gesendet wird auf Hebräisch und Arabisch: "Unser Programm ist zweisprachig, was Geduld erfordert. Aber auch der Friedensprozess braucht Geduld.“
"All for Peace" richtet sich an ein junges Zielpublikum, an Palästinenser und Israeli im Alter von 20 bis 45 Jahren. Gesendet wird neben Hebräisch und Arabisch auch auf Russisch und Englisch. So erreichen die Radiomacher täglich rund 58.000 Hörer, Tendenz steigend. Aus finanziellen Gründen verkaufen sie abends Sendezeiten an "Voice of Russia", wodurch sich ihnen auch die wichtige Zielgruppe der russischen Immigranten erschließt: "Die Einwanderer kennen kaum Palästinenser, sie sind skeptisch, was den Friedensprozess anbelangt", sagt Mossi Raz. Rund 1,5 Millionen russische Immigranten leben in Israel: Allein in Sderot, der Wüstenstadt, die seit 2001 immer wieder mit Qassam-Raketen aus dem nahen Gaza-Streifen angegriffen wird, kommen 40 Prozent der Bewohner aus der ehemaligen Sowjetunion.
Verbindendes Element ist die Musik
Angelockt werden die Hörer mit westlicher und orientalischer Popmusik rund um die Uhr: Außerhalb der Kernsendezeiten sendet "All for Peace" durchgehend Musik und zweisprachige Jingles. Beliebt seien die moderierten Musiksendungen in Hebräisch und Arabisch, mit klassischer arabischer Musik, Reggae, Rock, Jazz und Blues, sagt Barry Davis, einer der bekanntesten DJs des Senders: “Je länger ich Musik mache und ihr zuhöre, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass die Musik eine Brücke ist, eine Art universale Sprache zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Lebensarten. Musik verbindet mit etwas so Ursprünglichem und Reinen, dass sie uns alle berührt, unabhängig davon, welche Musik wir mögen.” Einmal rief ein jüdischer Siedler in Yitzhak Frankenthals Morgenshow an und beschwerte sich: „Ihr macht so gute Musik, warum sprecht ihr überhaupt?“.
Das Redaktionsteam von "All for Peace" setzt sich paritätisch zu je 50 Prozent aus Israelis und Palästinensern zusammen. Eine lange Lebensdauer haben Kritiker dem Sender bei seiner Gründung 2004 nicht zugetraut: „Die Leute sagten uns: Sobald sich jemand in die Luft jagt und unschuldige Menschen tötet, wird Euer Projekt scheitern“, erinnert sich Mossi Raz. Allein für den Begriff „Selbstmordattentäter“ gebe es im Hebräischen und Arabischen unterschiedliche Bezeichnungen. „Wir haben eine wichtige Entscheidung treffen müssen: Das Radio hat keine Meinung, wir unterstützen keinen Friedensvertrag, keinen Kandidaten, keine Partei.“ Nur die Moderatoren und Journalisten seien frei, ihre Meinung zu äußern. „Sie können in der Sprache moderieren, in der sie gerne möchten“, sagt Mossi Raz. Einver-nehmen bestehe aber über grundlegende Werte. Respekt, Offenheit, Gleichberechtigung und Gewaltlosigkeit gehörten dazu.
Täglich übt sich das Team im Dialog, manchmal müssen sie sich zusammenraufen, Kompromisse schließen. Schwierig sei es vor allem im letzten Libanon-Krieg 2006 gewesen: „Natürlich gab es unterschiedliche Standpunkte“, erinnert sich Mossi Raz. Und Hilit Ben-Tzini, Direktorin der Abteilung für Internationale Angelegenheiten bei Givat Haviva, dem Träger des Senders, erklärte vor einigen Monaten in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. „Es ist nicht einfach. Aber was ist denn die Alternative? Sich gegenseitig zu bekriegen? Nein, wir müssen miteinander reden. Und das ist nicht einfach: Wir tun alles auf den Tisch, alle Probleme, die Erniedrigung auf beiden Seiten, die ganze Angst, die es auch auf beiden Seiten gibt.“
Regierungen verweigern die Zusammenarbeit
Auch bei der Recherche zu Beiträgen stoßen die Radiomacher auf Vorbehalte: So verweigerten während des letzten Libanon-Krieges einige Hamas-Politiker und ultra-orthodoxe Siedler dem Sender Interviews. Auch die israelischen und palästinensischen Behörden begegnen dem Friedensradio bis heute nicht eben freundlich. Monatelang blockierten die Zollbehörden die importierte Sendeausrüstung am Flughafen von Tel Aviv, das Ministerium für Kommunikation machte für die Verweigerung der Sendebewilligung immer wieder neue Gründe geltend. Monatelang konnte "All for Peace" fast nur übers Internet empfangen werden. Mittlerweile hat das Radio zwar eine mit der Bewilligung verbundene UKW-Frequenz zugeteilt bekommen. Doch noch immer verweigern die Kommunikationsbehörden Israels und die palästinensische Autonomieverwaltung die Zusammenarbeit: "All for Peace" kann zwar in weiten Teilen Israels und der Westbank empfangen werden, nicht aber im Gaza-Streifen oder in allen Vierteln von Tel Aviv oder Jerusalem.
Immerhin hat der Sender einige der bekanntesten Journalisten der Region für die Mitarbeit gewinnen können, darunter auch den Palästinenser Ziad Darwish, dessen Cousin, der Dichter Mahmud Darwish, die palästinensische Unabhängigkeitserklärung geschrieben hat. Aber die Redaktion hat Schwierigkeiten, Finanzmittel zu akquirieren. Die meisten Journalisten arbeiten als Freie für den Sender: Wegen finanzieller Engpässe musste das Team in den letzten Jahren stark reduziert werden, von ehemals 40 Festangestellten sind heute nur noch zwei feste Redakteure und vier feste Moderatoren geblieben. Rund 350.000 Euro kostet der Sender im Jahr, bislang finanziert er sich fast ausschließlich über Spendengelder.
Mossi Raz, als Geschäftsführer verantwortlich für die Spendenakquise, bleibt optimistisch. Er ist überzeugt davon, dass sie nicht das gleiche Schicksal ereilen wird wie den legendären Piratensender „The Voice of Peace": Dieser hatte sich fast 20 Jahre lang für die Versöhnung von Arabern und Israelis eingesetzt, zum Schluss aber kaum mehr Sponsoren gewinnen können. "Auch wenn uns die Palästinenser wegen ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage nicht unterstützen können: Wir haben Spender in Russland, Malaysia, den Niederlanden, Frankreich." Die Radiobotschaft sei gerade für den Nahen Osten eine entscheidende: „Wir beweisen jeden Tag, dass Israeli und Palästinenser zusammenarbeiten können, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.“
Mossi Raz gilt als einer der bekanntesten Aktivisten der israelisch-palästinensischen Friedensbewegung: Er war von 1994 bis 2000 Generalsekretär der außenparlamentarischen politischen Initiative Peace Now, die es sich zum Ziel gesetzt hat, "einen gerechten Frieden mit dem palästinensischen Volk und den arabischen Nachbarn zu erreichen". Heute ist Raz Vorstandsmitglied der Meretz-Partei und seit November 2004 Geschäftsführer des israelisch-palästinensischen Friedensradios All For Peace: In dem Radiosender mit Sitz in Ost-Jerusalem machen Araber für Israelis und Israelis für Araber Programm und Nachrichten.