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Sind die Millenniumsziele noch zu retten?

Lesedauer: 9 Minuten
Kenianisches Kind. Foto: © Wuestenfux/ Pixelio

MDG-Strategien auf dem Holzweg. Konsequenzen für die zweite Halbzeit

15. September 2008
 

Von Jens Martens

„The developing world is poorer than we thought“, räumen die Weltbank-Ökonomen Chen und Ravallion in einem Aufsehen erregenden Arbeitspapier ein, das alle bisherigen Armutsstatistiken über den Haufen wirft. Die Weltbank hatte nachgerechnet und festgestellt, dass über 400 Millionen Menschen mehr als bisher angenommen in extremer Armut leben. Sie gestanden ein, dass die bisherige Armutsschwelle von einem Dollar pro Tag viel zu niedrig angesetzt war und selbst in den ärmsten Ländern der Welt bei durchschnittlich 1,25 Dollar (gemessen in Kaufkraftparitäten) läge. Nach den neuen Kalkulationen leben demnach 1,4 Mrd. Menschen in extremer Armut.

MGD-Notstandgipfel am 25. September in New York

Die Weltbank veröffentlichte die neuen Zahlen kurz vor dem „MDG-Notstandsgipfel“, zu dem der britische Premier Gordon Brown im vergangenen Jahr aufgerufen hatte, und der nun am 25. September 2008 bei den Vereinten Nationen in New York stattfindet - offiziell deklariert als „High-level Event on the MDGs“. Die neuen Zahlen bekräftigen den Tenor vieler MDG-Halbzeitbilanzen, dass die meisten Länder bei der Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele „off-track“ seien.

Das MDG-Projekt ist in der Krise. Es stellt sich die Frage, wie die entwicklungspolitischen Weichen gestellt werden müssen, um es bis zum Jahr 2015 wieder “back on track” zu bringen – und ob die Konzentration auf diese “acht Gebote der Entwicklungspolitik” (Heidemarie Wieczorek-Zeul) überhaupt eine sinnvolle Strategie ist.

Die MDGs haben in erster Linie die Funktion, die Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit auf die gravierendsten Probleme von Armut und sozialer Unterversorgung zu lenken und durch ihre Messbarkeit den Erwartungsdruck gegenüber den Regierungen zu erhöhen. Diese Funktion haben sie in den vergangenen acht Jahren erfüllt. Die MDGs haben sich als gleichermaßen öffentlichkeitswirksames wie kampagnentaugliches Instrument erwiesen und eine beachtliche politische Mobilisierungswirkung entfaltet.

Die bisherigen Resultate zeigen jedoch, dass die Regierungen darauf nicht mit den erforderlichen politischen Maßnahmen reagiert haben. Die Regierungen des Nordens waren bislang weder zu substanziellen Zugeständnissen in der internationalen Handelspolitik bereit, noch haben sie ihren Anteil an den notwendigen finanziellen Ressourcen zur Verwirklichung der MDGs in Form von fresh money bereitgestellt. Die Regierungen vieler Entwicklungsländer haben allzu oft ihre Politik nicht konsequent auf die Bekämpfung der Armut, die Überwindung sozialer Disparitäten im eigenen Land und die Mobilisierung heimischer Ressourcen ausgerichtet.

Die Politik behandelt lediglich die Symptome

Die Konzentration entwicklungspolitischer Strategien auf die MDGs birgt allerdings auch die Gefahr, dass die Politik lediglich an den Symptomen „herumdoktert“ und nicht bis zu den Wurzeln des Übels vordringt. Wenn Armut in erster Linie als Einkommensarmut begriffen wird, konzentrieren sich auch die Lösungsvorschläge zur Reduzierung der Armut auf die monetäre Ebene. Strukturelle Fragen wie die Ungleichverteilung von Vermögen, Landbesitz und politischer Macht in den betroffenen Ländern sowie die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Auswirkungen globalisierter Finanz- und Warenmärkte blieben in den Programmen zur Umsetzung der MDGs dagegen bislang unterbelichtet. Dies gilt auch für ökologische Aspekte, insbesondere die Folgen des Klimawandels. Eine lückenhafte Problemdiagnose kann aber zu falschen Politikrezepten führen und die dauerhafte Lösung der Probleme eher behindern.

In der zweiten Halbzeit des MDG-Prozesses bis zum Jahr 2015 sollten sich die Regierungen daher sowohl mit den Defiziten in der bisherigen Umsetzung und der Methodik der Millenniumsziele befassen als auch die Politikrezepte für ihre Verwirklichung grundsätzlich überprüfen. Das schließt folgende Aspekte ein:

1. MDGs als Teil der international vereinbarten Entwicklungsziele begreifen´

Die MDGs sind nur die Spitze des Eisbergs politischer Verpflichtungen, die die Regierungen mit den Beschlüssen der Weltkonferenzen der vergangenen zwei Dekaden und der Millenniumserklärung aus dem Jahr 2000 eingegangen sind. Die Praxis in den Vereinten Nationen, die MDGs immer in einem Atemzug mit den international vereinbarten Entwicklungszielen (Internationally Agreed Developoment Goals, IADGs) zu nennen und sie als Bestandteil dieser Ziele zu begreifen, sollte beibehalten werden. Dies gilt insbesondere für die Formulierung nationaler Entwicklungsstrategien („MDG-Strategien“) und die Überprüfung der Umsetzung der Ziele, unter anderem beim Annual Ministerial Review des Wirtschafts- und Sozialrates der UN (ECOSOC).

2. Verbindliche Ziele für den Norden formulieren und umsetzen

Die Regierungen müssen das Ungleichgewicht im Grad der Verbindlichkeit der MDGs für Industrie- und Entwicklungsländer überwinden. Das bedeutet, den Beitrag der Industrieländer in Form von klaren quantitativen, zeitgebundenen und damit überprüfbaren Verpflichtungen zu definieren. Zu diesem Zweck sollten insbesondere das siebente und achte Millenniumsziel erweitert und konkretisiert werden. Das gilt unter anderem für Verpflichtungen zur CO2-Reduktion in den Industrieländern, zur Erhöhung der öffentlichen Entwicklungshilfetransfers und zum Abbau von Handelsschranken und Exportsubventionen. Mit Blick auf MDG 8 bildet der aktuelle Bericht der MDG Gap Task Force der UN dafür ein nützliches Referenzdokument.

Mit dem verbindlichen ODA-Stufenplan hat die EU im Jahr 2005 einen bemerkenswerten Schritt in diese Richtung unternommen. Um aber ihre Bereitschaft zur Verwirklichung dieses Stufenplans unter Beweis zu stellen, müssen die Regierungen der EU, und damit auch die Bundesregierung, diesen Plan in entsprechende nationale Stufenpläne übersetzen.

Verbindliche Verpflichtungen des Nordens hinsichtlich der Quantität der ODA reichen aber bei Weitem nicht aus. Im Rahmen der Pariser Erklärung und der Aktionsagenda von Accra (Accra Agenda for Action) sind die Regierungen daher auch Verpflichtungen zur Erhöhung der Qualität der Entwicklungszusammenarbeit eingegangen. In zentralen Bereichen wie der Beseitigung von Lieferbindungen, der Abschaffung politischer Konditionalitäten und der Stärkung von demokratischer Eigenverantwortung (democratic ownership) blieben die Verpflichtungen bisher jedoch vage.

3. Nationale Entwicklungsziele und eigene Instrumente der Armutsmessung unterstützen

Die jüngste Revision der Armutsstatistiken durch die Weltbank hat deutlich gemacht, wie problematisch ein „One Size Fits All“-Ansatz bei der Armutsmessung ist. Ein weltweit einheitliches Armutsmaß wird der Situation in vielen Ländern nicht gerecht. Aus diesem Grund sollte selbstbestimmten nationalen Entwicklungszielen und den dazugehörigen Strategien, die dem jeweiligen Entwicklungsstand der Länder angepasst sind, Vorrang eingeräumt werden. Die meisten Länder haben mittlerweile nationale und zum Teil sogar subnationale Armutsschwellen definiert. Vietnam hat beispielsweise im Rahmen seiner nationalen Entwicklungsstrategie zwölf Entwicklungsziele formuliert, die auf den MDGs basieren, aber über sie hinaus reichen.

Grundlage jeder effektiven Entwicklungsstrategie müssen ausreichende Informationen über die soziale und ökonomische Situation eines Landes sein. Dies setzt entsprechende Kapazitäten zur Erhebung und Verarbeitung von Daten voraus. Nur wenn eine Regierung über umfassende Informationen zur Armutssituation in ihrem Land verfügt, wenn sie weiß, wo die Kinder- und Müttersterblichkeit am größten ist, und wenn sie die Verbreitung von HIV und AIDS exakt bestimmen kann, kann sie auch die notwendigen politischen Maßnahmen ergreifen und den Finanzbedarf kalkulieren. Bislang existieren in diesem Bereich noch erhebliche Informationslücken. Selbst über die Entwicklung der Einkommensarmut gibt es nach Weltbankangaben in 78 von 149 Entwicklungs- und Schwellenländern, und damit in über 50 Prozent dieser Länder, keine verlässlichen Statistiken. Die Entwicklungszusammenarbeit sollte daher verstärkt die Formulierung und Umsetzung nationaler Aktionspläne zur Statistikentwicklung fördern.

4. Fokus auf die Entwicklungsstrategien richten

Während es im entwicklungspolitischen Diskurs über die Zielvorgaben der MDGs kaum grundsätzliche Kontroversen gibt, sind die Wege, auf denen die Ziele erreicht werden sollen, äußerst umstritten. Die vordergründige Harmonie über die Ziele verschleiert zuweilen die gravierenden politischen Meinungsverschiedenheiten über die Strategien, mit denen die MDGs erreicht werden sollen. Ob beispielsweise das Ziel der Halbierung des Anteils der Hungernden durch eine neue „grüne Revolution“ in Afrika und die Industrialisierung der dortigen Landwirtschaft erreicht werden kann, wie es das UN-Millenniumsprojekt vorschlägt, ist mehr als fragwürdig. Anstelle technokratischer Problemlösungsstrategien sollten stattdessen die kulturellen, sozialen und geographischen Besonderheiten jedes Landes bei der Formulierung seiner Entwicklungsstrategie stärker berücksichtigt werden. So hat dies für die Überwindung des globalen Hungerproblems auch das Agrarforschungsprojekt International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD) in seinem Abschlussbericht im April 2008 gefordert.

5. MDGs in umfassende Entwicklungsstrategien integrieren

Die MDGs ersetzen keine Entwicklungsstrategie. Dies hat auch der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon 2007 festgestellt: „The focus on specific dimensions of development, as encompassed in the MDGs, should not detract from the fact that development is a multifaceted and wide-ranging process in which the different elements are interlinked and mutually reinforcing. Successful development therefore requires the integration of the economic and social dimensions but it also calls for consideration of environmental sustainability and the political and human rights dimensions.“

Der entwicklungspolitische Diskurs sollte sich daher – ganz im Sinne Ban Ki-moons – auf umfassendere Strategien nachhaltiger menschlicher Entwicklung rückbesinnen und die MDGs als öffentlichkeitswirksames Element in diese Strategien einbetten. Dies bedeutet auch, die bisher im MDG-Kontext unterbelichteten strukturellen Armutsursachen stärker im MDG-Diskurs zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere für die wachsenden Einkommensdisparitäten innerhalb und zwischen den Ländern, ihre Verwundbarkeit gegenüber Krisen auf den internationalen Finanzmärkten sowie die sozioökonomischen Folgen des Klimawandels in den Ländern des Südens.

Literaturhinweise:
Chen, Shaohua/Ravallion, Martin (2008): The Developing World Is Poorer Than We Thought, But No Less Successful in the Fight against Poverty. Washington, D.C.: World Bank (Policy Research Working Paper 4703).
Martens, Jens (2007): Armutszeugnis. Die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen. Halbzeitbilanz – Defizite – Perspektiven. Bonn/Osnabrück: Global Policy Forum Europe/terre des hommes.
Martens, Jens/Debiel, Tobias (2008): Das MDG-Projekt in der Krise. Halbzeitbilanz und Zukunftsperspektiven. Duisburg (INEF Policy Brief 4/2008).
UN (2008): Delivering on the Global Partnership for Achieving the Millennium Development Goals. MDG Gap Task Force Report 2008. New York.

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