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„Moskau hält Berlins Leisetreten für Schwäche“

Lesedauer: 5 Minuten

Interview mit Jens Siegert, Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung

7. März 2008


Es ist ein Besuch mit Symbolkraft: Kurz nach der Präsidentenwahl fliegt Kanzlerin Merkel nach Moskau, um den Nachfolger von Wladimir Putin zu treffen. Der bisherige Vize-Premier Dimitri Medwedjew ist für viele Beobachter bislang konturenlos geblieben. Für welche Politik steht er und welchen Kurs sollte die Bundesregierung ihm gegenüber einschlagen? Darüber sprach tagesschau.de mit dem Russland-Experten Jens Siegert.

tagesschau.de:
Auf wen trifft Angela Merkel bei ihrer Begegnung mit Medwedjew: Auf einen lupenreinen Liberalen, auf einen Wirtschaftsliberalen oder auf ein vor allem noch unbeschriebenes Blatt?

Jens Siegert: Weder noch. Wenn überhaupt haben wir nur Hoffnung, aber keinen konkreten Nachweis, dass er ein Liberaler oder Wirtschaftsliberaler ist. Ein unbeschriebenes Blatt ist er natürlich auch nicht, denn er arbeitet seit 15 Jahren mit Wladimir Putin zusammen, in den vergangenen acht Jahren an herausragender Stelle. Man muss also davon ausgehen, dass die Politik, die Putin in diesen Jahren gemacht hat, zu Teilen auch seine Politik ist.

tagesschau.de: Kann man den Mangel an Profil nach dem Matrjoschka-Prinzip auch so interpretieren: Außen Medwedjew, innen Putin?

Siegert: Es gibt eigentlich keine harten Fakten über Medwedjew. Vor acht Jahren haben alle gefragt: Wer ist Putin? Genauso könnten wir jetzt fragen, wer Medwedjew ist.  Der Mann ist Beamter, kein Politiker. Er hat sich nie in Wahlen bewähren müssen – auch jetzt war es ja keine Wahl, sondern eine Akklamation. Er hat nie öffentlich für seine tatsächlichen Überzeugungen einstehen müssen. Bisher ist er immer Ausführender gewesen, hat im Hintergrund agiert. Welche politische Linie er tatsächlich jetzt fahren wird, hängt sicherlich von vielen, auch äußeren Faktoren ab. Aber was in ihm brennt, lässt sich bisher schwer sagen.

Machtkonstellation mit Konfliktpotential

tagesschau.de: Putin verlässt das Amt strotzend vor Kraft und lässt keine Gelegenheit aus zu betonen, dass er die Geschicke seines Landes weiter beeinflussen will. Wie wird die Machtteilung zwischen ihm und Medwedjew aussehen?

Siegert: Das ist der wirklich spannende Punkt. Es gibt in Russland bisher kein Beispiel, bei dem der Erste zurückgetreten ist und als Zweiter weitermacht. Dies dürfte selbst in einem Land mit funktionierenden Institutionen schwierig sein. Und in Russland funktionieren die staatlichen Institutionen nicht, dort ist die Macht persönlich in der Hand von Putin konzentriert gewesen. Nun wird er zweiter Mann im Staat. Ich habe große Zweifel daran, dass er sich damit begnügen wird. Dann kommt es darauf an, wie sehr Medwedjew darauf bestehen wird, dass er nicht nur formal, sondern tatsächlich der Erste ist und entscheiden darf. Damit gibt es natürlich sehr großes Konfliktpotenzial.

tagesschau.de: Bei aller Stabilität hat es ja unter Putin bis zuletzt Machtkämpfe verschiedener Fraktionen gegeben, vor allem unter den Sicherheitsdiensten. Wenn Putin das mächtige Präsidentenamt aufgibt – erwarten Sie neue Machtkämpfe?

Siegert: Die Einschätzung ist richtig. Man kann Medwedjew durchaus als Ergebnis dieser Machtkämpfe interpretieren. Putin konnte niemanden aus den Sicherheitskräften als Nachfolger ernennen, weil dann Machtkämpfe eskaliert wären. Medwedjew dagegen gilt als jemand ohne eigenen „Clan” im Kreml, als stark von Putin abhängig. Insofern war es eine Wahl auch um die Machtkämpfe weiter einzudämmen. Im Grunde hat Putin ein typisches Problem autoritärer Regime. In solchen Systemen gibt  keine klaren Regeln für den Machtwechsel. Deshalb weiß man nie, wie er ausgeht.

„Nüchternere Zusammenarbeit ist notwendig”

tagesschau.de: Angela Merkel wird auch wissen wollen, welchen außenpolitischen Kurs Medwedjew einschlagen will. Welche Akzente erwarten Sie?

Siegert: Ich glaube nicht, dass sich in der Außenpolitik sehr viel verändern wird. Im Gegensatz zur Innenpolitik gab es sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Eliten eine große Zustimmung zu Putins Außenpolitik. Allerdings rechne ich damit, und das kann in der Außenpolitik sehr wohl eine große Bedeutung haben, dass Medwedjew im Ton konzilianter sein wird. Schon dadurch könnte es nach den vielen Irritationen der vergangenen Jahre wieder zu einer konkreteren, nüchterneren Zusammenarbeit kommen, und das ist notwendig. Wir haben das zuletzt im Kosovo gesehen. Auch in der Frage des iranischen Atomprogramms ist eine Zusammenarbeit unumgänglich. Das Thema Nordkorea zeigt, welche Früchte das tragen kann. Russland hat eine nicht unerhebliche Rolle dabei gespielt, das  nordkoreanische Atomprogramm zu stoppen.

tagesschau.de: Wo sollte Berlin seinen Kurs gegenüber Moskau neu justieren?

Siegert: Ich denke, dass man Moskau durchaus stärker öffentlich kritisieren kann – vor allem Defizite in der demokratischen Entwicklung des Landes, und nicht nur, wie man immer betont, hinter verschlossenen Türen. Sehr demokratisch geht es hier ja leider nicht mehr zu. Man könnte sich an den Briten ein Beispiel nehmen, die haben sich nämlich nicht alles gefallen lassen. Das Leisetreten, das aus meiner Sicht derzeit beide Regierungsparteien gegenüber Russland praktizieren, wird in Russland auch nicht besonders goutiert. Berlin gewinnt dadurch nicht an Statur, vielmehr wird dieses Leisetreten als Schwäche interpretiert. Viele Leute auch aus dem Apparat sagen mir: Die Deutschen sind sowieso für uns, das sind sozusagen unsere Agenten im westlichen Lager. Und ich glaube, das müssen wir uns nicht antun.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de, 7. März 2007