Der Wahlkampf, der kein Wahlkampf war

Dieser Artikel erschien zunächst in Russlandanalysen Nr. 19/2004 vom 12. März 2004, Redaktion Hans-Henning Schröder.

11. März 2004
Von Jens Siegert
Von Jens Siegert, Moskau

Der Präsidentenwahlkampf wurde entscheidend vom Ausgang der Parlamentswahlen vom 7. Dezember 2003 geprägt. Nach dem Wahlsieg der Präsident Putin nahestehenden Partei „Einiges Russland“ fanden sich anfangs keine ernsthaften Konkurrenten für Putin zur Kandidatur bereit. Die Wahlverlierer aus den liberalen Parteien Jabloko und Union der Rechten Kräfte (SPS) und ihr zivilgesellschaftliches Umfeld neigten einem Wahlboykott zu, weil, wie es der Jabloko-Vorsitzende Grigorij Jawlinskij formulierte, dies keine Wahl mehr sei, sondern eine „Farce“. Trotz dieser allgemein geteilten Einschätzung stellten sich Ende Dezember unter anderen noch der damalige Fraktionsvorsitzende des bei den Dumawahlen überraschend starken Wahlblocks Rodina, Sergej Glasjew, gegen Widerstände des eigenen Wahlblocks und die damalige Co-Vorsitzende von SPS, Irina Chakamada, gegen den Willen der eigenen Partei zu Wahl. Beide sind, wie auch weitere vier Kandidaten, ohne Aussicht auf einen Sieg, denn der Sieger stand mit Wladimir Putin von Anfang an fest.

Das „System Putin“ nach der Dumawahl

Mit dem überwältigenden Sieg von „Einiges Russland“ bei der Dumawahl ist die Gewaltenteilung in Russland praktisch aufgehoben. Auch das Parlamentsunterhaus ist nun, wie zuvor schon der Föderationsrat, die Justiz und die elektronischen Massenmedien zwar nicht de-jure wohl aber de-facto zu einem Teil der Exekutive, einer Art „Staatskomitee für Politik“ geworden – so der russische Politologe Mark Urnow. „Einiges Russland“ hat alle wichtigen Posten in der Duma mit eigenen Leuten besetzt. Zur wichtigsten Etappe der Gesetzgebung erklärte der Dumavorsitzender und Spitzenkandidat von „Einiges Russland“ Boris Grylow eine sogenannte „Nullte Lesung“. Damit ist die vorparlamentarische Abstimmung von Gesetzesvorhaben zwischen Regierung und Ausschussvorständen, beziehungsweise dem Vorstand der Mehrheitsfraktion „Einiges Russland“ gemeint. In der Duma soll zukünftig möglichst nur noch abgestimmt werden. Gryslow fasst das so zusammen: „Die Staatsduma ist nicht die Plattform, auf der die unterschiedlichen politischen Schlachten geschlagen werden sollen, sondern dort soll eine effektiv für den Staat gearbeitet werden.“

KandidatInnenkür

Die Hürden für eine Kandidatur bei Präsidentenwahlen in Russland sind recht hoch. Kandidaten können von einer in der Duma mit Fraktionsstärke vertretenen Partei nominiert werden. So wurden Oleg Malyschkin von der Schirinowskij-Partei LDPR und Nikolaj Charitonow von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) aufgestellt. Wiktor Geraschtschenko vom Wahlblock „Heimat“ (Rodina) versuchte diesen Weg ebenfalls. Seine Kandidatur wurde aber von der Zentralen Wahlkommission nicht zugelassen. Wer ohne die Unterstützung einer Parlamentspartei kandidieren möchte, muss zuerst eine Versammlung von 500 Vertrauenspersonen einberufen, sich danach als „Kandidat zum Kandidaten“ bei der Zentralen Wahlkommission registrieren lassen und dann binnen vier Wochen mindestens 2 Millionen Unterschriften zu Unterstützung der Kandidatur sammeln. Auf diese Weise wurden Wladimir Putin, Irina Chakamada, Sergej Glasjew, Sergej Mironow und Iwan Rybkin Präsidentschaftskandidaten. Weitere drei Kandidaten brachen die Unterschriftensammlung entweder ab oder wurden von der Wahlkommission nicht zugelassen.

Irina Chakamada

Die Diskussionen um einen gemeinsamen liberalen Kandidaten oder eine liberale Kandidatin begannen sofort nach den Dumawahlen, blieben allerdings anfangs ohne Ergebnis. Während Jabloko sich nach ersten Konsultationen eine Kandidatur ihres Parteichefs Grigorij Jawlinskij zumindest weiter off en hielt, beschloss SPS, dass es keinen von der Partei offiziell unterstützten Kandidaten geben werde. Die Diskussion innerhalb der den liberalen Parteien zuneigenden NGO war ebenfalls uneinheitlich. Die unterschiedlichen Positionen reichten von der Idee nun mit SPS und Jabloko einen gemeinsamen liberalen Kandidaten aufzustellen, über die Aufstellung von Wahlprüfsteinen ohne eigenen Kandidaten bis hin zum Aufruf die Wahl zu boykottieren. Grigorij Jawlinskij zog eine Kandidatur dennoch ernsthaft in Erwägung, konnte aber kurz vor Ablauf der Registrierungsfrist Ende Dezember davon überzeugt werden, dass der Kandidaturverzicht von SPS kein taktisches Manöver sondern ernst gemeint sei und verzichtete nun seinerseits. Am 30. Dezember erklärte dann aber überraschend Irina Chakamada, eine von drei SPS-Vorsitzenden, sie werde antreten und reichte die Registrationsunterlagen noch fristgerecht bei der Wahlkommission ein. Die SPS ebenso wie von Chakamada später angesprochene NGO-Vertreter lehnten eine Unterstützung ihrer Kandidatur auch nachträglich ab. Die SPS spaltete sich Mitte Januar faktisch, indem Vertraute von Anatolij Tschubajs nach Rücktritt der Parteiführung in die entscheidenden Positionen aufrückten. Jabloko beschloss Mitte Februar auf einem Parteitag, zum Wahlboykott aufzurufen.

Oleg Malyschkin

Mit sicherem Gespür für Symbolik unterstrich Wladimir Schirinowskij die Absurdität dieses Wahlkampfs, indem er die LDPR-Fraktion seinen ehemaligen Leibwächter, früheren Boxmeister und heutigen Dumaabgeordneten Oleg Malyschkin als Kandidaten aufstellen ließ. Allerdings greift damit Schirinowskij, in ihm eigener Offenheit, das Institut Wahlen, insbesondere Präsidentenwahlen insgesamt an. Die Wahlen seien grundsätzlich Unsinn, erklärte Schirinowskij, Putin müsse Präsident auf Lebenszeit werden. In diesem Geist übte er sich im Spiel mit den Journalisten. Auf eigentlich unnötige Fragen an Malyschkin nach dessen offensichtlicher Scheinkandidatur antwortete der stets danebenstehende Schirinowskij mit meist ernstem Gesicht und oft erhobener Stimme, der Kandidat habe einen eigenen klugen Kopf. Malyschkin dagegen blieb einsilbig. Höhepunkt dieses absurden Theaters war der Versuch Schirinowskijs, auch in den Kandidatendebatten im Fernsehen für Malyschkin aufzutreten. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an der durch die Wahlkommission gestützten Weigerung der Fernsehsender.

Nikolaj Charitonow

Nikolaj Charitonows Weg zur Platzhalterkandidatur für die KPRF ist wenig ruhmreicher. Charitonow, ein ursprünglich aus der Agrarpartei stammender Abgeordneter mit wenig Ausstrahlung und deutlichen Vorlieben für Stalin und Dserschinskij, war der Kompromisskandidat, mittels dessen Sjuganows Kandidatur verhindert und eine Spaltung der Partei abgewendet wurde. Ursprünglich wollte Parteichef Gennadij Sjuganow trotz des schlechten Abschneidens der Kommunisten bei den Dumawahlen erneut kandidieren. Eine Gruppe um Gennadij Semigin versuchte dies zu verhindern, im „Auftrag des Kreml“ wie Sjuganow argwöhnte.

„Heimat“: Sergej Glasjew oder Wiktor Geraschtschenko

Die Spaltung zu verhindern gelang dem erst im Spätsommer 2003 gebildeten linksnationalistischen Wahlblock „Heimat“ nicht. Dmitrij Rogosin, einer von zwei Spitzenkandidaten und dem Kreml nahestehend, setzte sich für die Kandidatur des ehemaligen Zentralbankchefs Wiktor Geraschtschenko ein, seit der Dumawahl Abgeordneter der Heimat-Fraktion. Sein Ziel dürfte gewesen ein, eine Kandidatur des populären Fraktionsvorsitzenden Sergej Glasjew zu verhindern. Glasjew sei nicht „lenkbar“, so fürchteten Kremlberater, könne sich mit einem guten Ergebnis zu einer zu selbstständigen politischen Figur entwickeln und damit möglicherweise den Grundstein für einen Erfolg bei den Präsidentenwahlen 2008 legen. Doch Glasjew ließ sich durch das Mehrheitsvotum seiner Fraktion für Geraschtschenko nicht abschrecken und setzte seine Kandidatur mittels rund 2,2 Millionen gesammelter Unterschriften durch. Die Mitte Februar drohende Spaltung von Heimat – Rogosin hatte seine „Partei Russischer Regionen“ in „Heimat“ umbenannt und das Justizministerium diese Umbenennung akzeptiert - konnte noch einmal vermieden werden. Anfang März setzte die Heimat-Fraktion in der Duma Glasjew aber auf Initiative von Rogosin als ihren Vorsitzenden ab und wählte Rogosin zu seinem Nachfolger.

Geraschtschenkos von Rogosin betriebene Kandidatur endete bevor sie begonnen hatte. Die Zentrale Wahlkommission lehnte seine Registrierung als Kandidat ab, weil er laut eingereichter Unterlagen nicht vom Wahlblock, sondern von seiner „Partei Russischer Regionen“ aufgestellt worden sei. Das Wahlgesetz sehe aber ausdrücklich die Aufstellung durch eine Partei oder einen Wahlblock vor, der oder die an der Wahl teilgenommen und in die Duma eingezogen sei. Geraschtschenko wurde nahegelegt, doch auch den Weg über das Sammeln von 2 Millionen Unterschriften zu gehen. Doch er legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Wahlkommission vor dem Obersten Gericht ein, die dieser am 6. Februar 2004 zurück wies. Damit war aber auch die Frist verstrichen innerhalb derer Geraschtschenko noch mittels Unterschriftensammeln hätte Kandidat werden können.

Sergej Mironow

Ebenso wenig verständlich wie das Antreten seiner Partei „Leben“ bei der Dumawahl ist auch die Kandidatur des Föderationsratsvorsitzenden und Putinvertrauten Sergej Mironow bei den Präsidentenwahlen. Wie vor den Dumawahlen erklärte Mironow, Präsident Putin, seinen Gegenkandidaten, unterstützen zu wollen. In Meinungsumfragen kommt Mironow nicht über ein halbes Prozent Unterstützung hinaus.

Iwan Rybkin

Für den größten Skandal des Wahlkampfs sorgte Iwan Rybkin mit seinem mehrtägigen Verschwinden Anfang Februar. Rybkin war mit Unterstützung des im Londoner Exil lebenden ehemaligen „Oligarchen“ Boris Beresowskij angetreten. Am 7. Februar meldete die russische Presse, Rybkin sei verschwunden. Einige Tage später hieß es, er sei in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Am 11. Februar kehrte Rybkin zurück nach Moskau und erklärte bei seiner Ankunft, er habe nur ein paar Tage ausruhen wollen. Später behauptete Rybkin, er sei nach Kiew gereist, um einen Emissär des tschetschenischen Rebellenführers Aslan Maschadow zutreffen und einen Friedensplan zu beraten. In einer dritten Version sprach Rybkin davon, nach Kiew gelockt und dort über Drogen im Tee betäubt worden zu sein. Während seiner mehrtägigen Bewusstlosigkeit habe man Videoaufnahmen gemacht, die ihn beim angeblichen sexuellen Verkehr mit Prostituierten zeigen. Mit diesen Aufnahme habe man ihn zu erpressen und zur Aufgabe seiner Kandidatur zu bewegen versucht.

Kurze Zeit später verließ Rybkin Russland und flog nach London zu seinem Finanzier Beresowskij, weil er sich in Russland nicht sicher fühle. Mehrere Versuche, von London aus die Teilnahme an den Kandidatendebatten im Fernsehen einzuklagen, schlugen fehl. Anfang März kehrte Rybkin überraschend nach Moskau zurück und zog seine Kandidatur zurück. Je nach politischer Einstellung oder politischen Interessen wird entweder dem Inlandsgeheimdienst FSB oder Beresowskij die Autorenschaft für Rybkins Abenteuer nachgesagt. Das widersprüchliche Verhalten des Kandidaten gibt aber auch Vermutungen Sinn, Rybkin habe den Druck zwischen Beresowskij und Kreml nicht ausgehalten und das „Spiel verlassen“ wollen.

Wladimir Putin

Wladimir Putins Helfer sammelten über sieben Millionen Unterschriften, weit mehr als die notwendigen zwei Millionen und dreimal soviel wie die anderen KandidatInnen. Damit unterstrich Putin seinen Anspruch als „Kandidat der ganzen Volkes“ und nicht einer Partei, stehe sie ihm auch noch so nahe, zu gelten. Mit seiner Absage an eine Teilnahme bei den Debatten der Präsidentschaftskandidaten im Fernsehen und dem Verzicht auf kostenlose Wahlwerbezeit im Fernsehen wiederholte er die Taktik von „Einiges Russland“ aus dem Dumawahlkampf. Der Geschäftsführer von „Einiges Russland“ Jurij Wolkow hatte diesen Schritt im Herbst so begründet: „Wir halten es nicht für sinnvoll und sogar gefährlich, Zeit mit Reklame und populistischen Auftritten im Fernsehen zu vergeuden.“ Diese Absage an öffentliche Politik zieht sich als Strukturmerkmal durch das Verhalten von Präsident Putin und seinen Beratern. Eine direkte Begründung für seinen Verzicht auf öffentliche Debatten und kostenlose Fernsehzeit gibt es von Putin nicht. Allerdings äußerte er sich in einer Rede vor seine Wahlvertrauensleuten in der Moskauer Staatsuniversität am 12. Februar darüber, was er grundsätzlich von Wahlwerbung hält: „Ein Staatsoberhaupt im Amt sollte für sich selbst nicht Reklame machen – das wäre in den vergangenen vier Jahren nötig gewesen: Demonstrieren, allerlei schöne Märchen erfinden, schöne, nur weit von unserer Realität entfernte.“

Die gut halbstündige Rede wurde selbst zum Skandalon. Nicht wegen ihres wenig von früheren programmatischen Äußerungen abweichenden Inhalts, sondern weil sie vom staatlichen Fernsehkanal „Rossija“ live übertragen wurde. Gegen diesen offensichtlichen, und, so muss man annehmen, bewussten Verstoß gegen die Wahlgesetzgebung, die Wahlwerbung nur zulässt, wenn sie aus dem von der Zentralen Wahlkampfkommission verwalteten Wahlkampffond bezahlt wird, legten Irina Chakamada und Nikolaj Charitonow bei der Zentralen Wahlkommission Protest ein. Sie forderten, Putin müsse die Sendezeit nachträglich aus seinen Wahlkampfmitteln bezahlen und der Sender gerügt werden. Die Wahlkommission hingegen vermochte keine Gesetzesverletzung feststellen und wies den Protest zurück: „Die Rede Putins war programmatisch und von großem öffentlichem Interesse. In diesem Zusammenhang gibt es Grund zu der Annahme, dass es das Ziel des Senders für die Direktübertragung war, die Wähler zu informieren und nicht Wahlagitation zu betreiben.“ Damit übernahm sie fast wörtlich die Argumentation des Fernsehsenders. Andrej Bistrizkij, einer der Direktoren von „Rossija“, fügte noch hinzu, der Sender habe das Ziel gleiche Bedingungen für alle Kandidaten zu schaff en: „Bisher ist Iwan Rybkin der Kandidat, über den wir am meisten berichtet haben.“ Auf Antrag von Irina Chakamada hob das Oberste Gericht Ende Februar die Ablehnung der Beschwerde durch die Wahlkommission aufgrund von Verfahrensfehlern auf. Es wies die Kommission an, die Beschwerde erneut zu verhandeln.

Ähnlich wie durch die eben geschilderte Machtdemonstration verdeutlicht auch die Entlassung von Premierminister Michail Kasjanow am 24. Februar das Verhältnis von Präsident Putin und seiner Berater zum Institut Wahlen. Die russische Verfassung verpflichtet den Präsidenten, der Staatsduma binnen zwei Wochen nach der Entlassung eines Premierministers einen neuen Kandidaten vorzuschlagen. Durch den für die Entlassung gewählten Zeitpunkt bedeutete das, dass die Duma noch vor der Präsidentenwahl über einen neuen Regierungschef abstimmen muss. Die Verfassung schreibt aber auch vor, dass der Regierungschef, und mit ihm die Regierung, nach der Wahl eines neuen Präsidenten automatisch entlassen und durch die Duma auf Vorschlag des Präsidenten einen neuen Premierminister wählen muss. Die Entlassung Kasjanows begründete Putin in einer kurzen Fernsehansprache. Er wolle noch vor den Wahlen deutlich machen, sagte er, mit welcher Mannschaft und welchen Vorhaben er in seine zweiten Amtszeit zu gehen beabsichtige. Bei der Vorstellung der neuen Minister am 9. März erklärte Putin, die Entlassung der Regierung nach den Wahlen werde rein formal erfolgen. Solle er erneut zum Präsidenten gewählt werden, würden alle gerade vorgestellten Minister Mitglieder auch der neuen Regierung bleiben.

Der Vorschlag, Michail Fradkow, den bisherigen Vertreter Russlands bei der Europäischen Union, zum neuen Ministerpräsidenten zu wählen, sorgte eher für das Gegenteil. Fast niemandem in Russland war Fradkow näher bekannt. Seine politischen Überzeugungen sind unklar. Deutlich machte Putin mit diesem Schritt aber zweierlei: Erstens betonte er noch einmal, dass er in der Regierung kein politisches, sondern ein administratives Organ sieht, an dessen Spitze entsprechend auch kein öffentlicher Politiker, sondern ein Verwaltungsfachmann stehen muss. Zweitens zeigte Putin erneut sein rein technisches Verständnis von demokratischen Verfahren. Ihr symbolischer Gehalt liegt für ihn in der Demonstration von Kontrolle und Macht, nicht in der „Willensbekundung des Volkes“.

Massenmedien

Weil der Wahlsieger bereits fest steht und mit Irina Chakamada, Sergej Glasjew und Nikolaj Charitonow lediglich drei KandidatInnen um ein achtbares „Zählergebnis“ kämpfen, fand der Wahlkampf außerhalb der zentralen Medien kaum statt. Einzige Ausnahme ist das angestrengte, durch Anweisungen aus dm Kreml befeuerte Bestreben von Verwaltungen auf allen Ebenen, eine möglichst hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. Damit die Wahl gültig ist müssen laut Verfassung mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen gehen. Allerdings besteht daran, dass die so genannten administrativen Ressourcen ausreichen werden, dies zu erreichen, nach der Erfahrung mit der Dumawahl kein Zweifel. In mehreren Regionen haben die Gouverneure den Wahltag, einen Sonntag, zum Arbeitstag erklärt. Fabrikdirektoren, Schulleiter, Behördenleiter und Universitätsrektoren sind angewiesen, dafür zu sorgen, dass alle ihr Beschäftigten, Schüler und Studenten sich vor dem Wahltag einen Wahlschein an ihrem Wohnort besorgen, um dann am Wahltag gemeinsam abstimmen zu gehen. Erfolgreich erprobt wurde dieses „Verfahren“ zur Sicherstellung einer hohen Wahlbeteiligung bereits bei der Abstimmung über die Vereinigung des Permer Gebiets und des Nationalen Kreises der Komi-Permjaken am Tag der Dumawahlen im Dezember.

Die im Dumawahlkampf noch intensiv geführten Live-Diskussionen im Fernsehen, entbehrten diesmal der Schärfe und des öffentlichen Interesses. Der Fernsehsender NTW lehnte es gar mit dem Argument, das würde die Zuschauer wenig interessieren, ab, wie bei der Dumawahl Live-Diskussionen in seiner populären Sendung „Redefreiheit“ (Swoboda Slowa) zu veranstalten. Da es sich dabei um von den Teilnehmern zu bezahlende Sendezeit handelt, ist die Annahme nicht unbegründet, dass die NTW-Verantwortlichen sich mit dieser Weigerung eher an tatsächlichen oder antizipierten Forderungen aus dem Kreml orientierten als an kaufmännischen Argumenten.

Fazit

Die Präsidentenwahl 2004 in Russland ist eine Wahl ohne Alternative. Das liegt sicherlich an der großen Popularität des amtierenden Präsidenten Wladimir Putin, der selbst unter freien und fairen Bedingungen keinen seiner Gegenkandidaten fürchten müsste und aller Voraussicht nach bereits im ersten Wahlgang mit mehr als 50 Prozent der Stimmen gewinnen würde. Doch die Bedingungen sind, wie es die OSZE bereits für die Dumawahlen kritisierte, „frei aber nicht fair“. Dieser Umstand hat ernsthaftere Konkurrenten als die auf dem Wahlzettel vertretenen von einer Kandidatur abgehalten. Die demonstrative Geringschätzung seiner Gegenkandidaten und Missachtung dessen, was man gute demokratische Gepflogenheiten nennen könnte durch Wladimir Putin und seine Unterstützer verstärken unterdessen in der russischen Bevölkerung das weitreichende Misstrauen gegen demokratische Verfahren insgesamt und Wahlen insbesondere. Es bleibt der schale Eindruck zurück, dass eben das erreicht werden soll.


Jens Siegert ist Diplompolitologe und Leiter des Länderbüros Russland der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau, wo er vorher als Korrespondent deutscher Zeitungen tätig war.

Lesetipps:

Dossier

Demokratie in Russland

Demokratie in Russland ist für ein friedliches und demokratisches Europa unabdingbar. Nur ein demokratisches Russland wird ein verlässlicher und berechenbarer Nachbar sein.