Übersetzung: Jens Siegert
Seit dem Urteilsspruch gegen Platon Lebedew und Michail Chodorkowskij ist nun ein Monat vergangen. Alle die etwas wollten, haben sich dazu geäußert – oder geschwiegen; geschwiegen nicht aus Ängstlichkeit, sondern weil schon alles vielfach kommentiert worden ist.
Die demonstrative Härte des Urteils hat viele erstaunt. Journalisten, darunter auch den Machthabern nahestehende, haben festgestellt, dass Michail Chodorkowskij aus politischen Gründen verurteilt wurde. Über selektive Rechtsprechung und darüber, dass das ein Schauprozess war, äußerten sich sogar hohe Staatsbeamte.
Mit der detaillierten juristischen Analyse des vielbändigen Urteils, dessen Verlesung allein fast zwei Wochen in Anspruch nahm, werden sich nun die Anwälte beschäftigen.
Einiges ist allerdings bereits allen zugänglich und verständlich: Wie verlief die Gerichtsverhandlung? Wie wurde das Urteil verkündet? Wie wurde darüber in der Presse berichtet? Und hier stoßen wir auf den offensichtlichen Wiederholungscharakter des Geschehenen. Unsere ferne, unsere nicht ganz so ferne und unsere jüngste Geschichte haben sich wiederholt.
Der Stil der Propaganda-Kampagne rund um den „Fall JuKOS" hat uns die ferne Vergangenheit, die stalinsche „Große Repression", ins Gedächtnis gerufen. In den Massenmedien, die direkt oder indirekt vom Staat kontrolliert werden, wurde versucht, den „Fall JuKOS" mit allen denkbaren und undenkbaren Verbrechen zu verbinden, bis hin zur „Unterstützung der tschetschenischen Terroristen“.
Dann wiederholte sich etwas aus der Jelzin-Zeit. Der Präsident trat mit einer unerwartet „liberalen" Rede vor beide Parlamentskammern und die für Ende April vorgesehene Urteilsverkündung wurde unerwartet auf die zweite Maihälfte vertagt. Genau so ein Manöver unternahm die Staatsmacht 1995 im ersten Tschetschenienkrieg. Damals, kurz bevor die Präsidenten und Regierungschefs des Westens zur Feier des 50. Jahrestags des Sieges im Zweiten Weltkrieg nach Moskau anreisten, war eine Feuerpause erklärt worden. Aber sofort nach der Abreise der hohen Gäste nahmen die Truppen ihre Angriffe in den tschetschenischen Bergen wieder auf. Die Staatsmacht gab ihren westlichen Partnern die Möglichkeit, nicht zu bemerken, was da vor sich ging, und wiederholte nun, zehn Jahre später, erfolgreich diesen Trick.
Das wiederum, was vor dem Gerichtgebäude während der zwölf Tage geschah, in denen das Urteil verlesen wurde, wirkt wie von den Dissidentenprozessen der Breschnjew-Zeit abgeschrieben. Die Durchfahrt durch die Kalantschjowskaja Straße, an der das Gericht liegt, war gesperrt. Milizionäre standen „vor den geschlossenen Türen eines öffentlichen Gerichtprozesses". Mehrere Absperrketten von Milizionären (aus irgendeinem Grund sogar mit Hunden) ließen diejenigen nicht zum Gerichtsgebäude, die ihre Solidarität mit den Angeklagten ausdrücken wollten. Dutzende Menschen wurden festgenommen und absurder Vergehen beschuldigt, wie zum Beispiel, dass sie, auf dem Bürgersteig stehend, die Verkehrsregeln verletzt hätten. In aller Eile wurde Gegendemonstrationen zur Unterstützung des Gerichts organisiert, die den „Volkszorn" darstellen sollten. Das geschah allerdings so, dass kein Zweifel daran aufkommen konnte, welcher Behörde Organisatoren und „Volk" dieser Demonstrationen angehören. Und dann wurden auch noch schwere Straßenbaumaschinen herangefahren, die die Straße wegen dringender „Straßenbauarbeiten" versperrten. Die Arbeiten wurden unmittelbar nach Ende der Urteilsverkündung wieder eingestellt.
Nur eines, die „Zustimmung durch das ganze Volk", fehlte noch zur vollständigen Wiederholung jener alten Zeiten, in denen jede Abrechnung mit Opponenten der Staatsmacht – ob nun wirklichen oder eingebildeten – durch „Künstler und Wissenschaftler" unterstützt wurde. Und nun, nach einem Monat, das. In der Tageszeitung Isvestija wurde als „Werbung" ein „Aufruf von Kunstschaffenden" veröffentlicht, dessen Text im übrigen schon seit einigen Wochen kein Geheimnis mehr war, ebenso wie die Methoden, mit denen die Unterschriften darunter eingeworben wurden: Die „Kunstschaffenden" wurden darum von der Präsidentenadministration gebeten.
Im Fall Chodorkowskij und Lebedew hat die Staatsmacht getan, was sie wollte. Sie zeigte ihre Treue zu sowjetischen Traditionen. Und deshalb erscheint das Strafmaß – neun Jahre – auch keineswegs unerwartet.
Wir empfinden bei diesem Urteil Bitterkeit. Aber es ist nur eine weitere Bestätigung für die Rückkehr zu alten sowjetischen Methoden, dieses Land zu regieren. Wir verstehen nun besser, in welchen Zeiten wir leben.